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Albert Roussel

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Zu Lebzeiten hoch geschätzt, heute grob vernachlässigt: der sperrig-geniale französische Sinfoniker
Albert Roussel (1869-1937)."Querständische Eleganz"
Spät erst, mit 25 Jahren, entschied sich Albert Roussel, bis dahin Offizier der französischen Marine, für das Komponieren. Er entsagte der "unsichtbaren Anziehungskraft des Meeres", die ihn auf dem Kanonenboot "Styx" bis in den fernen Osten geführt hatte, streifte die letzten tonsetzerischen Ungelenkigkeiten ab, gewann 1897 gleich zwei erste Kompositionspreise und folgte Vincent d’Indy an die Schola Cantorum, wo er bis 1914 Kontrapunkt lehren sollte. Stilistisch zunächst im Schatten César Francks stehend, befreite er sich bald auf höchst widersprüchliche Weise. Einerseits schuf er als seine erste Sinfonie den impressionistisch befruchteten Jahreszeiten-Zyklus "Poème de la forêt". Andererseits entwarf er mit dem "Divertissement" für Bläserquintett und Klavier ein kurzweiliges Stück, das in frappierender Weise Elemente Strawinskijs vorwegnahm – hier sind bereits die Insignien seines eigenen reifen Stils antizipiert: eine Eigendynamik des Figurierenden, die oftmals das Verhältnis Hauptsache-Nebensache ad absurdum führt; geradlinige, gegen den Strich gebürstete rhythmische Dynamik; eigensinnige Temporelationen und – ganz allgemein – elegant-querständischer Charakter.
Als innerer Widerhall einer Indien- und Indochina-Reise entstand das sinfonische Triptychon "Évocations", das ohne exotische Manierismen in suggestiver Weise die Höhlentempel von Ellora, das rosenrote Jaipur und, ergreifend mit Chor und Soli, Benares und den Ganges beschwört. Mit dem Spinnenballett "Le festin de l’arraignée" folgte Roussels impressionistischste Partitur. Die große Ballett-Oper "Padmâvati" ist von einer kargeren, bedrohlicheren Sprache geprägt und verwebt indische Modi in dunkler Pracht. 1921 vollendete Roussel seine Zweite Symphonie, in der Folgerichtigkeit des Irregulären ein Meisterwerk naturhaft verschlungener Architektur, und eindeutige Abwendung von der verfeinerten Empfindung der Impressionisten. Roussel aber feilte weiter an seiner Sprache, um mehr Unmittelbarkeit zu erzielen. Das bedeutete Verknappung und größere Präzision, die erstmals in der barockisierend robusten Suite en fa für großes Orchester gültigen Ausdruck fand. Herrliche Kammermusik entstand, gekrönt von den zwei späten Trios und dem äußerst anspruchsvollen Streichquartett, dem unspektakulären Höhepunkt seiner kontrapunktischen Satzkunst. Obwohl es zu den Gipfelleistungen der Gattung zählt, wird es fast nie aufgeführt.
In den letzten zehn Jahren schrieb Roussel seine erfolgreichsten Werke, darunter die brillant und kompakt gearbeitete, funkensprühende Dritte Sinfonie und die rauschhaft farbdurchtränkte Ballettmusik zu "Bacchus et Ariane", in der prallen Sinnenfreude eher ein Ausnahmewerk in seinem Schaffen. Eine seiner eigentümlichsten Schöpfungen ist die "Petite Suite" für kleines Orchester mit dem konsequent

widerhakigen 10/8-Metrum der Aubade, der versponnenen Poesie der Pastorale und der lakonischen Ausgelassenheit der Mascarade – wie auch die kurzgefaßte Streicher-Sinfonietta wider alle Moden, an allen Gefälligkeiten vorbeigeschrieben. Charakteristischstes Werk der Spätphase ist wohl die geradezu harsche, kompromißlos eigengesetzliche Vierte Sinfonie, auch sie knapp gehalten und von bezwingender Gestalt. Solche Eigenart rief nicht nur begeisterte Zustimmung, sondern auch brüske Ablehnung hervor. Den gängigen Klischees von französischer Musik entspricht Roussel in seiner widerborstigen, hartnäckigen Art kaum. Also wurde er, der im gleichen Jahr wie Maurice Ravel starb, gegen die Erwartungen seiner begeisterten Anhänger nach seinem Tod allmählich zu seinem Außenseiter. Diese Entwicklung vermochte auch der nachhaltige Einsatz von Dirigenten wie Charles Münch oder Sergiu Celibidache nicht aufzuhalten. Heute aber, wo viele Gräben überwunden sind und die Sinfonie wieder leben darf, ist Roussels Renaissance längst überfällig.

Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 1998)

Diskographie

Sinfonien Nr. 1-4 (C. Dutoit); Erato/east-west 2 CD 3984-21090-2.
Suiten aus den Balletten Bacchus et Ariane und Le festin de l'arraignée; Chandos/Koch 9494.
Evocations, Résurrection; EMI 565564-2.
Klavierkonzert, Cello-Concertino, Pour une fête de printemps, Suite en fa; EMI 565154-2.
Le festin de l’arraignée (komplettes Ballett), Concert pour petit orch., Petite Suite; Adès/edel-contraire 14.111-2.
Suiten Nr. 1 und 2 aus Padmâvati, Petite Suite, Le marchand de sable qui passe, Suite en fa; Adès/edel-contraire 205362.
Padmâvati, opéra-ballet in 2 Akten; EMI 747891-8 (vergriffen).
Rapsodie Flamande (+ andere Rhapsodien); Discover/Koch 920101.
Sinfonietta für Streicher (+ Poulenc, Jolivet, Ibert); BIS/Disco-Center 630.
Komplette Kammermusik (J.-J. Kantorow etc.); Olympia/Helikon harmonia mundi 458, 459, 460.
Klavierwerke (A. Raës); Solstice 08 (nur in Frankreich erhältlich).
(Stand 1998)