Anfang des zweiten Satzes 'Adagio' aus dem Klavierkonzert op. 36 (1927);
Danielle Laval (Klavier), Orchestre de Paris, Jean-Pierre Jacquillat;
EMI CD 565154-2.
Keine Welle gleicht der anderen, kein Seegang gleicht dem nächsten,
und doch sind sie nichts als für den Menschen wahrnehmbare
Regungen des Meeres, einer Gegend, die, dehnt sie sich über
den Horizont, an keiner Stelle gültig beschrieben werden kann.
Die Zusammensetzung des Wassers läßt sich analysieren,
die Zustände lassen sich erleben. Doch das Zusammenspiel der
beiden fügt sich in keine Gleichung.
Albert Roussel hatte es bereits zum Offizier zur See gebracht, als
er sich 25jährig entschied, sein Leben doch ganz dem Komponieren
zu widmen. Er zeigte Begabung und besaß Disziplin, doch der
Weg war weit. Der Weg über die Beherrschung der Mittel zur
völligen Eroberung des eigenen Terrains, das zu erkunden er
anstrebte. Als er seine Sprache gefunden hatte, blieb ihm sein Pioniergeist
erhalten, der seinen Werken Frische und Ursprünglichkeit garantierte
und keine Stagnation zuließ. Roussel blieb bei aller Neugier
immer der musikantische Geist, der traumwandlerisch den Gefahren
von Gefälligkeit einerseits, Stillstand andererseits entging.
Er gehörte keiner musikalischen Partei an und war gegen modische
Viren immun. Dafür hat er in der Rezeptionsgeschichte einen
hohen Preis bezahlt: Fast überall hochgeachtet, aber zu eigensinnig
und sperrig, um in die herrschenden Strategien und Systeme zu passen,
wurde er nach seinem Tode, gegen die Erwartungen euphorischer Zeitgenossen,
immer mehr zu einem Geheimtip, einem Favoriten der Experten, und
das Publikum verlor mangels Gelegenheiten zusehends den Bezug zu
seiner musikalischen Persönlichkeit und hat ihn vergessen,
sogar in Frankreich. Roussel verkauft sich nicht, und was man nicht
verkaufen kann, soll erst recht nicht mehr in unsere Zeit passen.
Dabei ist seine Vernachlässigung kaum anders als mit einem
weit verbreiteten Mangel an Humor und Empfindsamkeit für Zwischentöne
zu erklären - an Originalität überragt Roussel, der
wichtigste französische Komponist der Zeit neben Debussy und
Ravel, die meisten seiner Zeitgenossen. Oder liegt es daran, daß
er zu wenig den heutigen Klischees von französischer Musik
entspricht? Denn weder ist das Atmosphärische Grundzug seiner
Musik, noch ist er ein Exponent bedingungsloser Clarté. Roussel
war vielleicht der glänzendste Symphoniker, den Frankreich
je hatte - Meister einer Form, die die musikalischen Chefideologen
Mitteleuropas endgültig für tot erklärt hatten. Seine
Symphonien sind voller Leben.
Symphonie Nr. 4 in A-Dur op. 53 (1934), erster Satz 'Lento - Allegro
con brio';
Orchestre National de France, Charles Dutoit;
Erato CD 88226 (Vertrieb: Warner).
Das Orchestre National de France unter Charles Dutoit spielte den
ersten Satz aus Albert Roussels 1934 komponierter vierter Symphonie.
Der Beginn in medias, in satten, ungewöhnlich gemischten, tief
resonierenden Farben, Eintritt eines Organismus, der seinen eigenen
Gesetzen gehorcht, gewandet von der Persönlichkeit des Komponisten,
die in allem durchscheint, indem sie der Dynamik der Motive, der
Bewegungsqualitäten, des horizontal-vertikalen Wechselspiels
folgt. Das Hauptthema wird in der langsamen Einleitung aus einem
natürlichen Milieu gezeugt, um den ganzen schnellen Satz furios
zu beherrschen, auch in den verhalten kontrastierenden Episoden
via Intervallverwandtschaft hintergründig weiterzuwirken. Oft
ist es eher drastisches Hell-Dunkel, dann wieder lyrisch schillernde
Farbigkeit, und immer lauert der Wechsel - auch die selbstbewußteste
Phrase kann im nächsten Moment eine unerwartete Wendung nehmen.
Frederick Goldbeck hat Roussels lebendige Architekturen mit "fliegenden
Teppichen" verglichen, die sich jederzeit der natürlichen
Schwerkraft entziehen können. Dabei sind diese Werke diesseitig
und jenseitig zugleich, immer in Balance gehalten, klassisch im
Maß. Diese Neue Sachlichkeit scheut keine Expressivität,
integriert ihre Intensität. Der reife Roussel hat eine objektive
Qualität, das Ausdrucksmäßige transzendiert den
persönlichen Bereich, wird allgemeingültig, beweist Faßlichkeit.
Dazu tritt ein spielerischer Zug: Immer wieder begegnen uns jene
widerhakigen, stolpernd zusammengesetzten Rhythmen, die in tänzerischer
Obsession, mit schräger Eleganz ihr unregelmäßiges
Dasein zelebrieren bis zur Groteske. Die Figuration ist Hauptsache,
Nebensache, mal dies, mal das, so im Kopfsatz der 'Petite suite
pour orchestre op. 39 von 1929, hier zu hören mit dem Orchestre
National d'Ile de France unter Jacques Mercier, einer erbarmungslosen
Aubade im zwischen 6 und 4 Achteln springenden 10/8-Takt.
Petite Suite pour orchestre op. 39 (1929), 1. Satz 'Aubade. Allegretto
comodo';
Orchestre National de l'Ile de France, Jacques Mercier;
Adès CD 205362.
Albert-Charles-Paul-Marie Roussel wurde am 5. April 1869 als einziger
Sohn des Industriellen Albert und der Louise Roussel in Tourcoing,
unweit von Lille an der Grenze zum belgischen Ostflandern gelegen,
geboren. Sein Vater starb schon im folgenden Jahr, und achtjährig
verlor er auch die Mutter, worauf er in die Obhut seines Großvaters,
des Bürgermeisters von Tourcoing, kam. Doch dieser starb bereits
drei Jahre später, und der Elfjährige wurde nun von Verwandten
erzogen, bis man ihn 1884 in das Stanislas-Internat in Paris gab.
Selbständigkeit und charakterliche Stabilität wurden früh
von Albert Roussel gefordert, und er setzte seinem Leben klare Ziele.
Er hatte nicht nur am Klavier schon früh musikalische Begabung
gezeigt, sondern entwickelte eine große Sehnsucht: Er nannte
es die "unsichtbare Anziehungskraft des Meeres", und dieser
folgte er, indem er ab 1887 die Marineschule besuchte. So sah er
den vorderen Orient, gehörte dem Mittelmeergeschwader an, besegelte
den Atlantik, wo er, mit einem verstimmten Klavier bewaffnet, Musizierkameraden
fand und erste dilettantische Kompositionsversuche unternahm. 1893
ging er mit dem Kanonenboot 'Styx' in den Fernen Osten, der in Roussel
eine nie erlöschende Faszination hinterließ. Doch der
kompositorische Trieb ist schließlich stärker, und kurz
nach der Beförderung zum Offizier ersucht er um seine Ausmusterung,
die prompt erfolgt. Sein Harmonielehrer Koszul empfiehlt ihn an
den bedeutenden Organisten und Komponisten Eugène Gigout,
und im Oktober zieht Roussel nach Paris, um mit Gigout zu studieren,
der ihn mit freidenkerischer Gewissenhaftigkeit in Harmonie, Kontrapunkt
und Fuge unterweist und sich als idealer Lehrer für den als
Persönlichkeit schon gefestigten Anfänger erweist. 1897
gewinnt Roussel mit zwei Chorstücken unter verschiedenen Pseudonymen
zwei erste Preise in einem Wettbewerb der Komponistengesellschaft.
1898 trifft er Vincent d'Indy, den musikalischen Erben César
Francks, und folgt ihm an die neugegründete Schola Cantorum.
Er schreibt sein Opus 1, die unter dem Einfluß von Chopin,
Franck und d'Indy stehende Klaviersuite 'Des heures passent'. 1902
betraut ihn Vincent d'Indy mit einer Lehrstelle für Kontrapunkt,
die er bis 1914 behält.
"Als ich in die Schola eintrat, konnte ich schon komponieren;
was ich dort lernte, war die Instrumentation."
Roussels Klaviertrio op. 2 läßt durch die Schleier des
Vorbilds César Franck hindurch persönliche Kontur vernehmen.
Er entwirft und verwirft mehrere orchestrale Versuche und beginnt
mit dem 'Poème de la forêt', einem Jahreszeiten-Zyklus
aus vier klangmalerischen Tongedichten in überwiegend dunklen
Farben, seiner späteren ersten Symphonie. Um die gleiche Zeit
entsteht das 'Divertissement' op. 6 für Bläserquintett
und Klavier, ein unglaublich entgegengesetztes, kurzweiliges Stück,
das 1906 in erstaunlicher Weise Elemente aus Strawinskijs Sprache
vorwegnimmt, die dieser im 'Sacre du printemps' und in 'Pétrouchka'
zur Entfaltung bringen sollte. Vor allem aber ist der Personalstil
des reifen Roussel in dieser augenzwinkernden Vision schon erstaunlich
vorgeprägt: Die Eigendynamik des Figurierenden, die geradlinige
rhythmische Dynamik, das Kapriziöse und elegant Querständische,
die eigensinnigen Temporelationen.
Divertissement op. 6 für Bläserquintett und Klavier (1906);
Paul Verhey (Flöte), Hans Roerade (Oboe), Frank van den Brink
(Klarinette), Herman Jeurissen (Horn), Jos de Lange (Fagott), Jet
Röling (Klavier);
Olympia CD 458 (Vertrieb: harmonia mundi France).
Aus der ausgezeichnet eingespielten, bei Olympia erschienenen holländischen
Gesamtaufnahme von Roussels Kammermusikwerk hörten Sie das
1906 entstandene Divertissement op. 6.
In den folgenden Jahren bildete sich nach dieser erstaunlichen Vorwegnahme
späterer Entwicklung allmählich Roussels eigene Stimme
heraus, wechselseitig befruchtet von der soliden d'Indy-Schule und
dem sogenannten Impressionismus.
"Das Werk eines großen Künstlers soll ein Beispiel,
aber kein Vorbild sein. Der Stil und die Harmonien eines Fauré,
d'Indy oder Debussy enthalten in ihrer Kunstauffassung eine Lehre,
die nur durch Anregungen auf einen unabhängigen Geist wertvoll
ist. Was davon zu behalten ist, beginnt an der Grenze, an der sie
mit ihren Neuerungen stehen blieben, ist die Möglichkeit, dort
fortzufahren, oder rechts oder links davon einen noch unentdeckten
Seitenpfad zu finden; der Künstler, der in sich selbst das
Geheimnis seiner Kunst sucht, darf niemals die Mode und den Geschmack
seiner Zeit als mehr als eine Art Ausgangspunkt ansehen."
1908 heiratete Albert Roussel die Elsässerin Blanche Preisach,
mit der er im September eine lange ersehnte, viermonatige Reise
nach Indien und Indochina unternahm. Sie besuchten Bombay, Ellora,
Udaipur, Jaipur, Tchitor, Delhi, Agra, Benares und Madura, setzten
nach Ceylon über, dann nach Singapur, schließlich nach
Saigon und zu den im kambodschanischen Dschungel noch fast unberührten,
magischen Ruinen der Tempelanlagen von Angkor. Nach seiner Rückkehr
schrieb Roussel als Niederschlag des inneren Widerhalls, fern exotischer
Manieren, das symphonische Triptychon 'Évocations' op. 15,
eines seiner großartigsten Werke. Der erste Satz beschwört
die Höhlentempel von Ellora herauf, der zweite die rosenrote
Stadt Jaipur, und im Finale treten Chor und Soli hinzu, Benares
und den heiligen Fluß Ganges zu feiern, beginnend in mystisch
glühendem Dunkel einen mitreißenden Bogen spannend. Mit
einem Ausschnitt aus dem Finale hören Sie Nicolai Gedda, und
Chor und Orchester des Capitole de Toulouse unter Leitung von Michel
Plasson
Ausschnitt aus dem dritten Satz 'Aux bords du fleuve sacré'
aus den 'Évocations' op. 15 (1910-11): Partitur 6 vor Ziffer
16 - 3 nach Ziffer 25;
Nicolai Gedda (Tenor), Nathalie Stutzmann (Alt), José van
Dam (Bariton), Chur et Orchestre du Capitole de Toulouse,
Michel Plasson;
EMI CD 565564-2.
Die hinduistische Welt fesselte Roussel auch nach Fertigstellung der 'Évocations'
weiterhin, doch zunächst hatte er mit dem Ballett 'Le Festin
de l'araignée' von 1912 seinen ersten ganz großen Erfolg.
In dieser hypersensitiv ausgehörten Partitur schilderten die
organisch abgeleiteten motivischen Verschlingungen die überdimensionale
kleine Welt um ein Spinnennetz im Garten: Ein Zauberreich der Klanggespinste,
von klarem Geist verwoben, wohl Roussels unumschränkteste Huldigung
an impressionistische Sinnlichkeit. 1914 begann er mit der Arbeit
an der großen Ballett-Oper 'Padmâvati', dem Drama um
die unglückselige Königin von Tchitor, die sich der Schmach
der Auslieferung an den Sieger der Schlacht entzieht, indem sie
ihren König tötet und sich mit ihm verbrennt. Roussel
hat sich von der luftig-schwelgerischen Raffinesse abgewendet zu
herberem Kolorit, sparsamerer Textur; er verwendet hinduistische
Skalen, hält uns eine dunkel-prachtvolle Klangpalette vor,
schafft eine ständig bedrohliche, schwelende Atmosphäre,
die in wilden Aufwallungen gipfelt, zu tänzerischer Ekstase
drängt. Der Krieg unterbrach die Arbeit an Padmâvati,
und Roussels wichtigstes Bühnenwerk wurde zwar 1918 vollendet,
konnte jedoch erst fünf Jahre später uraufgeführt
werden.
Doch die ernüchternde Kriegserfahrung brachte auch weitere
Klärung der künstlerischen Identität mit sich. Die
zweite Symphonie stellte einen zu komplex durchgestalteter Eigenart
vorgedrungenen Komponisten vor, zu einer Musik, die
"sich selbst genügt, einer Musik, die sich von allen malerischen
und beschreibenden Elementen zu befreien sucht und die sich auf
immer von jeder örtlichen Bestimmung im Raum entfernt... Fern
davon, beschreiben zu wollen, zwinge ich immer meinen Geist, sich
von der Erinnerung an Gegenstände und empfindbare, in musikalische
Effekte übertragbare Formen zu befreien. Ich will nur Musik
machen."
Naturhaft fließt der Satz, aus den ihm innewohnenden Quellen
gespeist, verzweigt sich, wird wieder zu voller Kraft gebündelt,
unterliegt Beschleunigungen und Verbreiterungen in wechselnden Panoramen,
zerfließt und verdichtet sich zu thematischer Prägnanz.
Eine gewaltige Architektur der verschlungenen Pfade. Das Orchestre
National de France unter Charles Dutoit spielt den ersten Satz aus
Albert Roussels 1921 vollendeter zweiter Symphonie.
Symphonie Nr. 2 in B-Dur op. 23 (1919-21), 1. Satz;
Orchestre National de France, Charles Dutoit;
Erato CD 88226 (Vertrieb: Warner).
Nach Fertigstellung der zweiten Symphonie erwarb Roussel den am
Meer gelegenen Landsitz von Vasterival, wo er fast alle weiteren
Werke komponierte. Er durchlief einen schöpferischen Entschlackungsprozeß,
und es entstanden die ersten großen Kammermusikwerke seiner
reifen Phase. Der mitreißenden zweiten Violinsonate und einer
anmutigen Serenade für Flöte, Harfe und Streichtrio sollten
drei Meisterwerke hermetischer Logik der Tonbeziehungen folgen,
einer Logik, die sich dem Begreifen verweigert, ihr Wesen keiner
Analyse preisgibt, völlig irregulär abläuft und in
der doch unvermeidlich eins aus dem anderen folgt: die zwei späten
Trios und das äußerst anspruchsvolle Streichquartett,
unspektakuläre Krönung von Roussels kontrapunktischer
Satzkunst. Aber auch die Gelegenheitswerke stehen qualitativ nicht
zurück, so das 1925 komponierte Duo für Fagott und Kontrabaß,
ein Juwel mit wohlintegriertem Fenster zum Barock. Es spielen Jos
de Lange, Fagott, und Quirijn van Regteren Altena, Kontrabaß.
Duo für Fagott und Kontrabaß (1925);
Jos de Lange (Fagott), Quirijn van Regteren Altena (Kontrabaß);
Olympia CD 459 (Vertrieb: harmonia mundi France).
Mit der äußerlich neobarocken, kraftvollen 'Suite en
fa' op. 33 für großes Orchester von 1926 fand Roussel
endgültige stilistische Gewißheit. Das klingt gefährlich,
doch bedeutet es nicht, daß er nun sich mit dem Erreichten
begnügt hätte. Er hatte vielmehr das Ringen um formale
Balance erfolgreich bestanden.
"Wenn die Geschicklichkeit der Schreibweise als Haupteigenschaft
bei einem Musiker sozusagen angeboren scheint, so ist doch bei den
meisten ein gründliches Studium nötig; das, was man gemeinhin
Kompositionslehre nennt, ließe sich, wie mir scheint, auf
zwei bis drei Hauptgrundsätze beschränken, die mehr die
Erfahrung als das Studium lehrt. Vor allem das Prinzip des Gleichgewichts,
das Ordnung und allgemeine Harmonie des Werkes sicherstellt und
ihm seine persönliche Form gibt. Ohne das Fließende,
das dem Werke seine ihm eigene Bedeutung verschafft und seinen Charakter
durch das Spiel von Licht und Schatten farbig und plastisch gestaltet,
ohne dies alles kann eine selbst ausgezeichnete und gut ausgewogene
Musik unbedeutend und monoton wirken."
Roussel schrieb nun seine erfolgreichsten Werke, die brillant und
kompakt gearbeitete, in ihrer Leichtigkeit funkelnde dritte Symphonie
und die rauschhaft farbdurchtränkte, extrovertierte Ballettpartitur
'Bacchus et Ariane', von unwiderstehlicher orchestraler Effektivität
und praller Sinnenfreude, eher ein Ausnahmewerk in seinem Schaffen.
Drumherum entstanden das Klavierkonzert, die 'Petite Suite' als
eine seiner eigentümlichsten, skurrilsten und - im langsamen
Satz - poetischsten Schöpfungen, die Sinfonietta für Streicher,
die vierte Symphonie und das machtvolle Aeneas-Ballett. Am 23. August
1937, im selben Jahr wie Maurice Ravel, starb Albert Roussel auf
der Höhe seiner Schaffenskraft an einem Herzversagen. Wurde
er verstanden? Von wem? Selbst seine Verehrer bestätigten sich
in der relativen Geringschätzung des 1927 geschriebenen 'Concert
pour petit orchestre', von dem Nadia Boulanger meinte, daß
"wir seinerzeit bedauerten, daß es viel gezwungener,
beschränkter und trockener wirkt, als dies gewöhnlich
bei Roussel der Fall ist." Ist Roussels stilistische Haltung
hier eine künstliche oder eine natürliche, eine konservative
oder eine progressive, ist sie eine andere als in anderen Werken?
Wie immer: ja und nein.
"Man spricht von einer Rückkehr zu Bach, von Neoklassizismus.
Dies sind sehr willkürliche Bezeichnungen. Wenn der Ausdruck
'absolute Musik' nicht so zahlreiche Mißverständnisse
hervorgerufen hätte, würde ich sagen, daß wir zur
absoluten Musik zurückkehren, das heißt, zu einer Musik,
die weder Malerei noch Literatur sein will, sondern nur Musik.
Für den Musiker ist die Musik eine Notwendigkeit, denn die
Eindrücke, die er empfängt, verwandeln sich unmittelbar
in Musik und er wünscht nur, sie zu ordnen und das Wesentliche
seiner Gefühle in eine bestimmte Form zu bringen. Das soll
nicht besagen, daß ein musikalisches Werk unbedingt ein persönliches
Bekenntnis sein muß, ein unmittelbares Geständnis; die
Persönlichkeit des Komponisten wird lediglich durch Wahl und
Disposition der vorhandenen Elemente im Werke hervortreten."
Zum Schluß spielt das Gulbenkian Orchester unter Michel Swierczewski
das Finale, Presto, aus Albert Roussels 'Concert pour petit orchestre
op. 34.
'Concert pour petit orchestre' op. 34 (1927), 3. Satz 'Presto';
Gulbenkian Orchester,
Michel Swierczewski; Adès CD 14.111-2.
Sendemanuskript für BR4 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Produktion: 10.1.1997;
Erstsendung: 17.2.1997, 23:oo-24:oo, "Montagsthema"
Christoph Schlüren, im Januar 1997
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