"Natur pflegt sich versteckt zu
halten."
Heraklit
"Es gibt diese Lieblingstöne in der Musik. Da gehört
für mich der tiefe Fagott-Ton in Berlioz 'Fee Mab'-Scherzo
dazu. Oder das Cis im C-Dur-Akkord der Vierten Sibelius, im ersten
Satz. Das klingt doch wie ein Tier, was die Bratschen und die Fagotte
da 'hineinröhren'." Wolfgang Rihm folgt als Komponist
dem Moment, den Weisungen desselben und seinen damit korrespondierenden
Schüben: "Alles ist Setzung und gleichzeitig Wuchs. Oder
auch: Zug und Gegenzug gegenstrebige Fügung. Ich empfehle
immer, der Intuition mehr zu vertrauen als der planenden Festlegung.
Ich versuche, mit meinen Nerven zu komponieren. Mit Intuition meine
ich über die Eingebung hinaus das freie Spiel mit Setzung und
der Fähigkeit, den Echos der Setzung zu folgen. Ich merke jetzt,
daß ich in dieser Lebensphase dahin komme, daß die Strecke
Bedeutung gewinnt. 'Vers une symphonie fleuve IV' ist das Schwellenstück,
wo die Phase der Moment-Setzungen überlagert wird von der Phase
der Strecken-Bedeutung. Wobei die Strecke für mich ein Vorbegriff
ist zum Fluß: Fluß als die energetisch durchströmte
Strecke, wo weniger die Einzelereignisse als solche zählen
als deren Erscheinen im Verlauf. Ich habe lange erforscht, wie Zusammenhang
aus unzusammenhängenden Partikeln entsteht. Auch der Schnitt
kann organische Folgen zeitigen! Denn eine Form ist nicht nur durch
Fluß bestimmt, sondern ebenso durch Unterbrechung, durch Ruptur.
Aber jetzt wünsche ich, in einigen Werken das Zusammenhang
Stiftende in einer unablässigen Strömung etwa 'Über
die Linie' zu erforschen, dem auf die Spur zu kommen."
Ob das für ihn auch mit Harmonik zu tun hat? "Insofern,
als es eine Folge hat in der Harmonik. Indem es sich länger
in einem harmonischen Raum bewegt und weniger wechselt. Das begann
übrigens in Stücken wie 'Inschrift' für Orchester,
welches ich für San Marco in Venedig schrieb. Dort ist dieser
extrem lange Nachhall gegeben, wodurch ich gezwungen war, um der
Deutlichkeit des Erklingenden willen auch bei schneller Bewegung!
einen einmal angeschlagenen Klang länger beizubehalten.
Dadurch habe ich etwas für mich entdeckt, was ich weiter erkunden
wollte. So kam mein Interesse an Flußformen auf, an ununterbrochener
Bewegung des Klingenden. Während früher in einer Arbeitsphase
die Pausen enorm wichtig waren den Energiestrom zwischen
zwei Körpern offenhörbar, vernehmbar zu machen, also ganz
bildlich: daß zwischen diesen zwei Körpern ein dritter
entsteht, der durch die ihn umgrenzenden definiert wird; nicht leer,
sondern gefüllt mit dem, was war, und dem, was kommt. Klanglich
konkret gibt es da sehr vielfältige Möglichkeiten, siehe
Stockhausens Begriff von der 'gefärbten Pause', bis hin zur
tatsächlichen Stille. Und jetzt suche ich den Strom bei ständiger
klanglicher Aktion, zum Beispiel in 'Jagden und Formen'." Aber
geht es wirklich um Pausen oder nicht Pausen? In 'Spiegel und Fluß'
fließt es durch die Pausen weiter. "Es hat weniger mit
den Pausen an sich zu tun als mit meiner Einstellung zu den Pausen.
Ich habe begonnen, diese Kontinuität zu suchen." Und wie
ist da die Rolle der Harmonik? "Ich versuche es noch über
harmonisch nicht eindeutig gebundene Linienzüge, die changieren
und sowohl auf tonal geprägte als auf nicht tonal geprägte
Felder bezogen werden können. Ein starker Anteil in mir ist
durchaus Harmoniker."
Wenn Rihm betont, er denke sehr viel von der Harmonik her, so meint
er keine herrschenden Ordnungsprinzipien: "Das hat mich von
Anfang an gestört, diese enorme Abhängigkeit von Systemen:
Jeder hat mehr oder weniger ein System entwickelt, es wurden ständig
Systeme referiert ich habe dieses Bedürfnis schon in
frühen Jahren nicht verstehen können. Ich denke, es kommt
aus einer ganz zur Apologie gezwungenen Situation. Jeder Autor sieht
sich gezwungen, zu beweisen, daß er etwas richtig macht. Also
wirft er ein Diagramm an die Wand und sagt, die Töne, die er
da geschrieben habe, entsprächen exakt dem System, das er entworfen
habe. Und somit könne es nicht sinnlos sein! Die Angst vor
dem Spontanen ist hier die Angst vor der Sinnlosigkeit; auch die
Angst, etwas zu tun, was seinen Sinn erst mit der Zeit bekommen
könnte; etwas zu tun, was sich noch in keiner Form fügt
in einen Sinnzusammenhang, den man bereits bereithält, sondern
eben etwas, was seinen Rätselcharakter behält. Da bin
ich anscheinend von der Veranlagung her begünstigt, denn ich
glaube, daß Kunst nur dann entstehen kann, wenn sich der Künstler
auf diesen Rätselcharakter einlassen kann. Wenn Erklärbarkeit
und Offenlegung das Erfinden selber ersetzt, ist nichts weiter als
eine gutgemeinte, ehrliche, saubere Arbeitsweise dokumentiert. Das
ist unkünstlerisch. Die Systemsuche macht selbst vor intuitiv
Arbeitenden nicht Halt, und das ist etwas, was ich überall
beobachte. Es ist sehr schwierig, sich völlig dieser Belegbarkeit
zu entäußern. Aber wenn es wirklich Musik ist: Wie sollte
man sagen, wie die Musik sei? Wie will man sie sagen? Vor allem,
wenn man in ihr lebt, versagen alle Ansatzpunkte der Definition."
Natürlich definiert ein Werktitel nicht die betreffende Musik,
auch dann nicht, wenn diese sehr deskriptiver Natur wäre. Aber
er verspricht doch einen bestimmten Zugang: "Es ist immer schwierig,
aus der Metaphernwelt der Titel in die konkrete klangliche Welt
der Stücke wieder zurückzufinden. Aber ich habe mich nun
mal entschieden, diese offene Poetik von Titeln zuzulassen und bin
deswegen auch immer wieder in Verlegenheit, wenn ich dafür
um Erklärungen gebeten werde, die dann manchmal den bereits
abgegebenen widersprechen!" Und wie erklärt sich dann
ein Titel wie 'Spiegel und Fluß'? "'Spiegel' ist natürlich
das Selbstbild, außerdem die Möglichkeit, wenn ich in
den Spiegel sehe, eine Form von Zeit wahrzunehmen, und wenn es nur
mein eigenes Älterwerden ist. Es hat mit meiner Einstellung
zu mir selbst zu tun, zum erlebten Lebensgang. Es ist ein Stilleben
mit Totenkopf und Kerze umgestürzter Kerze, beckmannsch
gesprochen. Also durchaus ein 'nature morte'. Sodann kann man den
Fluß als eine bewegte und den Spiegel als eine unbewegte Wasseroberfläche
interpretieren als See, unter dessen Oberfläche enorme
Abgründe denkbar sind. Ganz kurz tritt ein echtes Erschrecken
ein! Aber solche Titel sind im Grunde spontane Entscheidungen. Manchmal
sind sie auch Wegweiser für mich selber, um ins Stück
hineinzukommen. Zugleich ist immer auch eine unwillkürliche
Idee dahinter, nur kann ich die nicht unbedingt wiedergeben."
"Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht
entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich
bleibt."
Heraklit
Es sind natürlich nicht nur Lieblingstöne, sondern auch
Lieblingsstücke, auf die Wolfgang Rihm gerne verweist: "Jean
Sibelius Vierte Symphonie ist für mich eine der bedeutendsten
Symphonien überhaupt, ja, eines der großartigsten Werke
in der Geschichte. Ungefähr zeitgleich mit 'Sacre du printemps'.
Ich liebe den langsamen Satz, der ist von einer derartigen Abgründigkeit,
das ist ungeheuer. Man sieht daran auch, wie die Kategorie des Gelingens
nicht an die Erscheinungsbilder geknüpft ist, die schon bekannt
sind. Wann ist denn etwas gelungen? Wenn viele Leute meinen, es
sei gelungen? Aber die meisten sprechen dann von Gelingen, wenn
etwas zur Tür hereinkommt, was aussieht wie das, was sie kennen
als Gelungenes. Und dann: die Kategorie des 'Neuen'. Man erlebt
es doch immer wieder, wenn man auf einem Musikfest ist: Meistens
wird das wirklich Neue gar nicht als Neues wahrgenommen, sondern
mit dem verglichen, was man als 'das Neue' kennt. Jeder, der sich
über 'das Neue' verbreitet in dem Sinne, daß er sich
als dessen Anwalt zu outen hofft, wird 'das Neue' in der Form begrüßen,
wie er es einmal prägend wahrgenommen hat, also letztlich als
etwas Altes."
Wenn dem so ist, was wünscht sich Rihm dann von der Kritik?
"Eine Sicht auf das, was ich tue, die mich in schwierigen Momenten
des Tuns bereichert und mir hilft. Damit wäre natürlich
etwas von der Ausgewogenheit Forschung und Lehre in das Phänomen
Kunst und Kritik eingebracht. Die Lehre gewinnt durch die Forschung.
Ich wäre als Künstler durch die Kritik bereichert, würden
mir Aspekte gezeigt, die ich nicht bedacht habe. Das geschieht aber
leider viel zu selten in der Öffentlichkeit. Es ist sicher
positiv, wenn ein Kritiker Ratlosigkeit verspüren läßt.
Man könnte oft denken, die Ratlosigkeit sei primär ein
Grundzustand des Schaffenden, aber ich bin beruhigt, wenn ich ihn
auch auf Seiten des kritischen Beobachters finde dann kann
es ja so schlecht nicht bestellt sein. Denn die belebende Diskussion
verstummt ja immer dann, wenn keine Ratlosigkeit mehr erlaubt ist,
wenn eine Äußerung, festgemauert in ihren Grundsätzen,
sich nicht mehr beweglich zeigt." Fühlt sich der Komponist
Rihm in seinen oft extremen Verwandlungen adäquat von der Kritik
begleitet? "Selbstverständlich nicht in dem Maße,
wie ich sie selber als natürlich empfinde. Schon allein deshalb,
weil ich eine derartige Fülle von uvre bereits exponiert
habe, daß die Begleitung umfassende Kenntnis voraussetzte.
Ich achte auch die Meinung, mein Komponieren sei allzu privat motiviert,
und kann nur den als glücklich schätzen, der über
dieses Private hinausgelangt in ein öffentliches Interesse.
Das kann ich nicht absichtlich tun. Ich hoffe, daß meine Werke
das von selbst besorgen ohne eine solche Ausgangsstrategie."
Das Schlagwort von der 'Neuen Einfachheit', auf Rihm ohnehin seit
jeher fehlangewendet, hat sich längst überlebt. Heute
ist in weiten Kreisen eine 'Neue Armut' mit ihrer scheinmeditativen
Abkehr von aller Innenspannung 'in', an der gemessen die einstige
'Neue Einfachheit' hochkomplex war. "Ich kann mir nur vorstellen,
daß dieser Bedarf heute aus einer 'Entlastungssituation' kommt,
indem bestimmte Hörvorgänge als belastend empfunden werden,
wie sie in einer Musik, die sich mehr aus dem Dialektischen motiviert,
verströmt werden. Entlastung als Gegenreaktion auf Überlastung!
Von daher ist durchaus auch ein diskutabler und positiver Kern drin,
der aber dadurch, daß er beliefert und industriell abgespeist
wird ein herrlich freies Feld für Marktstrategen
, und daß diese Produkte stilbildend wirken im Verdrängungswettbewerb,
auf welchen die Rezeption anspringt, so daß anderes nicht
mehr wahrgenommen werden kann: der dadurch bestimmte Fähigkeiten
verkümmern läßt, indem das reine Versinken im sich
um sich selbst drehenden Klangbild alles übertönend angesagt
ist. Darin sehe ich die Gefahr einer Verarmung, nicht nur von der
Rezeptionsseite her: auch für die Komponisten werden die Möglichkeiten
immer enger!"
"Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehn, auch wenn
du jeden denkbaren Weg begehst: so unerschöpflich ist, was
sie zu erklären hat."
Heraklit
In Rihms Händen wird Musik tatsächlich zur unmißbräuchlichen
Muse. Von nichts weiter als willkürlicher rhetorischer Anmaßung
war denn auch der Versuch einer Autorin in einer deutschen Fachzeitschrift
getragen, die van der Lubbe-Vertonung 'In doppelter Tiefe"
als willfährige Staatsaktmusik zu diffamieren. Politik kann
doch die Abgründe des Seelischen nur dann propagandistisch
verwerten, wenn für das Hier und Jetzt ein Nutzen gezogen werden
kann. Dafür bedarf es, ungeachtet womöglicher Mannigfaltigkeit,
emotionaler Eindeutigkeiten, die massenidentifikatorisch wirken.
Diese Kategorie erfüllt Rihm nie und nimmer. Er folgt eben
dem Moment, dem frei-wechselseitigen Spiel von Setzung und Wuchs.
Eine immer schon vorhandene Tendenz hingegen, die in jüngerer
Zeit verstärkt hervortritt, könnte man als 'Suche nach
innen' bezeichnen. Das geschieht nicht ohne Allusionen zur romantischen
Schattenwelt. Ein Titel wie 'Verborgene Formen' mag Hinweise darauf
enthalten der Komponist auf verschütteten Pfaden, im
verwinkelten, schwer zugänglichen Hinterland der Psyche. Vielleicht
ist es bei Rihm oft weniger das innere 'Schlachtfeld', auf welchem
seine künstlerischen Auseinandersetzungen Gestalt annehmen,
als das von unausgesprochener Not getragene Bedürfnis, im Innern
dem Dionysos zu huldigen, des Styx angesichtig zu werden. Das ist
nicht unerheblich, denn wenn Heraklit mitteilt, daß "die
Seelen im Hades Ausdünstung einatmen", so muß der
unbestellte Besucher auch mit einigem rechnen
Beschreibungen
sind stets nicht nur Selbstbeschreibungen, sondern auch Verengung
des Geschauten, Erlebten; Festlegung des Dynamischen, Veränderlichen.
Riskieren wir also ein Attest aus der augenblicklich erscheinenden
Lage, nicht zuletzt aufgrund des jüngsten Eindrucks von seinem
1999 in München uraufgeführten Klarinettenkonzert 'Über
die Linie': Empfindest du 'Suche nach innen' als auf dich zutreffend?
"Es könnte dem nahekommen, was gemeint ist. Je nachdem,
was für ein 'Innen' gemeint ist. Wenn es nur die momentane
eigene Befindlichkeit wäre, dann wäre es zu wenig. Das
gesuchte 'Innen' ist nicht identisch mit dem Klischee von der 'Innerlichkeit'.
Also keine Selbstbezogenheit, die sich darin genügt, das Selbst
zu betrachten und zu umhegen, mit möglichen Folgen wie Larmoyanz,
Euphorie, was weiß ich
Was übrigens über die
Qualität des Entstehenden noch lange nichts sagt. Aber absichtlich
angestrebte, proklamierte Innerlichkeit wird sich entlarven, indem
sie aus diesem natürlichen, innerlich unbewußten Zustand
herausgerissen und in eine dogmatische Veräußerungssituation
verkehrt wird: Schluß, aus, von wegen innerlich! Mithin, Innerlichkeit
als ästhetische Waffe, das mag ich nicht. Aber so oder so ist
es nur ein Begriff, und mit dem kommt man nicht weit. Jedenfalls
ist in meiner Musik die Komplexität nicht die Folge von Systematik.
Ich lasse sie vielmehr zu. Sie ist die Folge divergierender Organismen.
Also mehr Goethe und weniger Schiller. Mehr die Natur zulassen als
sie regeln wollen."
Die gewachsene Psyche ist voller Widersprüche. "Du kennst
mich nur in Kurzmomenten, und vielleicht denkst du jetzt, ich sei
eher ein erhitzter Typus. Wenn Du mich längere Zeit kennen
würdest, würdest du auch bei mir die Eiseskälte bekommen.
Man erlebt jemanden ja immer nur ausschnitthaft, und dann werden
diese Ausschnitte festgeschrieben über ein Leben hin. Damit
hat man als Autor ein Leben lang zu kämpfen. Am Anfang war
ich plötzlich der 'Hauptvertreter der Neuen Einfachheit'. Wenn
du nach Frankreich gehst, bin ich der 'Romantiker'. Gehst du nach
Amerika, so bin ich der typisch deutsche Komponist, der 'häßliche
Klänge' schreibt. Einen Personalstil kann man übrigens
nicht anstreben. Man kann dann höchstens nicht anders."
Wobei immer die spielerischen, willkürfreudigen, Außen
und Innen durcheinanderwirbelnden und neu assoziierenden Komponenten
mit zu berücksichtigen bleiben. Wann die eintreten dürfen,
bestimmt der Komponist nicht humorfrei: "Ich habe auch theatralische
Bedürfnisse, und ich bin auch in einer Facette
ein theatralischer Mensch. Das zu leugnen wäre übrigens
genauso theatralisch! Ich kann ja nicht von meinem Wesen absehen.
'Gejagte Form' zum Beispiel verlegt eine Hatz, eine Jagd von innen
nach außen. Es trägt ein innen vermeintes Stürmen,
Jagen in die Welt hinaus. Es hat auch exhibitionistische Züge,
ist also auch insofern theatralisch. Das zu erforschen ist freilich
nicht Aufgabe dessen, der es tut." Aber verstehen wir unter
'theatralisch' nicht doch eher Effekt um seiner selbst willen, lokale
Wirkung, allusives Moment?
"Das hieße, daß ich vom Wesen her nicht frei darüber
verfügte, sondern es aufsuchte. Verfügt man aber vom Wesen
her über diese Art der Interpunktion und Diktion, so ist es
sozusagen 'Theatralik der ersten Art'. Das war bei mir von Anfang
an ein Bedürfnis. Ich komme ja aus einem süddeutsch-katholischen
Milieu. Ganz früh als Bub wollte ich Priester werden. Nicht,
weil ich das Wort Gottes zu verkünden hatte, sondern, weil
mir das Ritual gefiel: das Hochamt, die Musik, der Weihrauch
diese ganze bewegte Architektur. Da habe ich schon erste theatralische
'Zuckungen' vernommen. Und vergessen Sie nicht, daß ich aus
Baden komme. Mein Freund Helmut Lachenmann und ich, wir sind sozusagen
die beiden Ausprägungen des südwestdeutschen Echos. Wir
sind uns sehr bewußt, daß der eine aus dem schwäbischen
Pietismus kommt und der andere aus dem Badischen, wo man ja fast
schon dem 'welschen Tand' zuneigt." Sage einer, wer so freundlich
mit dem Landstrich kokettiert, lasse nicht auch in seiner Musik
Züge eines Landstreichers durchscheinen, die den Erschließungsexperten
musikalischen Neulands gar manchen Streich spielen.
"Für Seelen ist es nicht Tod, sondern Genuß, feucht
zu werden."
Heraklit
Die Liebe zu einer Musik, in diesem Fall zum Beispiel zu derjenigen
von Jean Sibelius oder Allan Pettersson, birgt gemeinhin stets die
Gefahr der Nachahmung. Es kann aber auch einfach so sein, daß
bestimmte Aspekte befruchtend wirken, Vertrautes wie Fremdes, Sympathisches
wie Abstoßendes mag Anziehungskraft ausüben. Ist es nicht
gar Rihm, der Musik endlich mit den Löchern komponiert, die
Adorno bei Sibelius suchte? Es war übrigens Sergiu Celibidache,
der fragte, wo eigentlich "die Löcher im Wasser"
geblieben seien. Aber im Ernst: der unschlichtbare Widerstreit zwischen
Kohärenz-Sinn, einem Komponieren als aus dem größeren
Zusammenhang heraus 'nicht anders können' einerseits, dem sich-Verzetteln,
Ausufern, Launen folgen, dem tönend entäußerten
'Tagebucheintrag', dem Herüberschwappen der Alltagsbanalität
andererseits wie stellt sich dem der Komponist? "Ich
kanns nicht trennen." Hat es mit 'work-in-progress' zu
tun? "Diese Verbindung sehe ich nicht. 'Inschrift' ist eines
meiner kohärentesten Werke, auch wenn da am Ende 'work-in-progress'
steht, was in Bezug auf das beistehende Datum gilt. Heute aber ist
es nicht mehr so, denn es wurde zu sich. 'Work-in-progress' heißt
bei mir Folgendes: Ein Teil ist da. Später kommt ein anderer
Teil hinzu. Es wird übermalt, es kommt eine dritte Schicht
darüber. Alle diese Schichten sind präsent. In 'Inschrift',
das sehr strophisch gebaut ist, kommt so eine Passage, wo die 'Zeitgrundierung'
nach vorne dringt. Das ist ein Verfahren, das ich aus der Malerei
übernommen habe. Da gibt es in vielen Stücken Stellen,
wo die Musik sozusagen zurücktritt und der Grund, auf dem sie
geschrieben steht, hervortritt, als wäre die Leinwand ungrundiert.
Oder: als würde man nur die Struktur des Stoffes, auf den aufgetragen
wurde, sehen. Am unmittelbarsten hat mich da Andrea Mantegna beeindruckt:
seine Beweinung Jesu, wo bei den beweinenden Gesichtern die Leinwand
frei ist. Es kann natürlich sein, daß der Farbauftrag
da abgeblättert ist. Aber ich glaube das nicht. Ich denke,
daß das als Ausdruckswert benutzt wurde. Die Haltung, Dinge
einfach unfertig stehen zu lassen, hatte Michelangelo auch. Vieles
ist bei mir Folge meiner Affinität zur bildenden Kunst. Denn
in der Musik gibts das eigentlich nicht. In der Musik ist
immer alles fertig. Auch ein sogenanntes 'work-in-progress' hören
wir als 'work'. Indem ich sage, daß es noch weitergehen kann,
wird, vielleicht: könnte dann kommt das ja ins Bewußtsein
des Zuhörers. Ich kanns ebensogut auch nicht sagen. Das
Ende eines solchen Stücks hat für mich Doppelpunkt-Charakter.
Es ist nicht das explizite Fragezeichen, sondern die schiere Möglichkeit,
dem Wuchs weiter zu folgen. Was das im Hörer hinterläßt,
kann der Komponist nicht bestimmen. Bei jedem Hörer ist die
Hinterlassenschaft des Klanges eine andere. Die Angebote werden
durch die Werke gegeben. Ob die nun progredieren oder definitiv
sich vorführen, ist letztlich der 'Regie des Hörers' anheimgestellt.
Ich kann die Regie selber nur bis zu einem gewissen Punkt in die
Hand nehmen. Je mehr ich sie in die Hand nehmen will, desto unkünstlerischer
wird das Ganze." 'Work-in-progress'-Projekte sind beispielsweise
sowohl die Serie 'Vers une symphonie fleuve' als auch der sich ständig
erweiternde Werkpool 'Jagden und Formen'. In Letzterem sind die
"Jagden musikalische Bewegungsformen, und die Formen sind musikalische
Formen, die bereits bestehen, Objekte, Akkorde Werkformen,
die ich schon komponiert habe, die in dieses Stück wie in einen
Strudel hineingesogen werden, in die Einschübe gesetzt werden;
die übermalt werden, wobei dann die Übermalungsschicht
wiederum mit einer anderen Klangschicht konfrontiert wird usw. Es
ist ein Prozeß, der seit 1995 anhält und nicht auf einen
Abschluß hin angelegt ist."
In 'Vers une symphonie fleuve IV' sind "die Orchesterteile
zum Teil noch rudimentäre Bestände aus ganz anderen Zusammenhängen,
unter anderem aus '
et nunc', einem Stück für Bläser
und Schlagzeug. Und in dieses Milieu hinein habe ich dann diese
lange Hornmelodie geschrieben. Diese Information spielt für
den Hörer keine Rolle. Es kommt aus der Stückung, geht
aber zur Strecke. Was in einem bestimmten Moment geschieht, ist
eigentlich immer erst dann klar. Ich werde auch den Anfang von 'Vers
une symphonie fleuve IV' weiterkomponieren, um woanders anzukommen.
'Vers une symphonie' versteht sich analog zum Begriff Musik: Adornos
'Hin zu einer informellen Musik'. Und die 'Symphonie fleuve' ist
abgeleitet vom 'Roman fleuve'. Romain Rolland hat das in seinem
'Jean-Christophe' ausgeführt, wo wir Figuren begleiten, die
verschwinden und wieder auftauchen, in einem ständigen Fluß
der Ereignisse sich befinden. Auch Hubert Fichte hat seine große
Lebensarbeit 'Schule der Empfindlichkeit' als 'Roman fleuve' bezeichnet.
Von ihm habe ich den Begriff zum ersten Mal gehört. Für
mich ist es ein Stücke-Projekt, ein für große Besetzung
komponiertes magnetisches Feld, in das immer wieder Werke und Werkteile
hineindrängen, die dort einer permanenten Metamorphose ausgesetzt
sind, einem Weitergetriebenwerden, Aufgelöstwerden und wieder
Zusammengefaßtwerden, und unablässigem Strömungsverlauf."
Ist es so, als ob ein Lebensstrom dich mitzöge als Schaffenden?
"Es ist eher so, daß ich diesen Strom hier herstelle
und gleichzeitig von ihm bewegt werde. Wie genau der Lebensstrom
in den Produktionsstrom überspringt, darüber kann ich
keine Auskunft geben. Das gehört zu den Geheimnissen der Energie-Weitergabe.
Wo die Synapsen sind, wo die Energie überspringt, das weiß
ich nicht und brauche es nicht zu wissen." Rihm weiß
anderes umso besser, so, daß es in Teilen von 'Vers une symphonie
fleuve IV', zumal zu Beginn, eine deutliche Affinität zu Allan
Pettersson gibt: "Ich habe mich in früheren Stücken
oft bewußt auf Pettersson bezogen. Aber just in diesem Fall
scheint es mir etwas zu sein, was aus dem Unbewußten kam.
Vielleicht ist es gerade deswegen umso wirksamer. Dabei gehe ich
übrigens nicht nur in der Folge woanders hin als Pettersson,
ich komme auch von woanders her. Bei der Vierten Mahler denken wir
auch oft an Mozart oder Schubert. Es ist doch schön, daß
man beim Einen oft auch an den Anderen denkt und diesen nicht vergißt!"
Wie steht es mit den Brüchen in der erlebten Fortschreitung?
"Also die 'Erlebbarkeit der Fortschreitung' ist für Sie
essentiell? Dieses Fortschreiten des Hörens und das Fortschreiten
der Komposition ist aber nicht immer nur von vorne nach hinten denkbar,
sondern auch in verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Richtungen
die ominöse 'Kugelgestalt der Zeit'." Aber wie
hört man? "Von vorne nach hinten und wieder zurück
aber schon weiter
Alles zugleich." Wie ist es
mit der energetischen Verwirklichung der Form, der 'Ladung' der
Noten? "Ich will doch nicht, daß ständig unbedingt
meine Noten geladen werden von jemandem, den ich nicht eingeladen
habe. Er soll nur das spielen, was dasteht." Und wenn er 'neutral'
lädt? "Dann entlädt er eher. Die Ladung ist ja eh
da. Es ist ja alles immer da." Auch wenn keiner das Werk spielt
und niemand es hört? "Ich glaube schon, daß es auch
dann da ist. Es ist in der Welt. Das ist bei der Musik natürlich
das Unverständliche. Was man noch nicht verstanden hat, das
ist das Interessante."
In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir
sind und wir sind nicht."
Heraklit
Indem man nicht alles kennen kann, aber doch alles irgendwie da
ist, läßt einen der Lauf der Zeit nicht aus: "Es
ist die Fülle der Schritte, die den nächsten Schritt hervorbringt.
Die Fülle der Schritte drängt an ihren Rändern
wohlgemerkt! den einen oder anderen Schritt weiter ins Unbegangene.
Es ist eine Eigendynamik." Aber wohin drängt es Wolfgang
Rihm? "In jedem Fall: hin. Es kann vielleicht eine dynamische
Entwicklung sein von etwas, was mich lange beschäftigt hat:
hin zu etwas Anderem. Ich sehe es ganz unpathetisch. Außerdem
erlebe ich nichts zweimal. Die Beobachtung und jegliche Erscheinung
lehrt, daß es nichts zweimal gibt. Auch ich bin immer woanders
beim nächsten Mal. Alles ist einmalig für mich. Natürlich
ist der weitere Weg, der tatsächliche 'Fortschritt' kein Zufall.
Aber das ist nicht Objekt meiner eigenen Erforschung. Meine Aufgabe
ist es, die Dinge zu machen. Und diesen Dingen merke ich an, daß
sich etwas ändert. Ich sage nicht: 'Hier ist mein Programm.
Jetzt gucken wir mal, wie wir da zu Stücken kommen.' Nein:
ich mache Stücke, und daran stelle ich fest. Bei mir führt
der Weg immer von der Produktivität zur Reflexion. Dann aber
wird die Reflexion Gegenstand neuer Produktivität. Das zeugt
sich selber vorwärts. Einige Kriterien, an denen sich Kunst
immer erweisen muß, sind: Ist sie in sich vielschichtig, vieldeutig;
ist sie dicht, geöffnet; trifft sie auf Fragen und löst
sie Antwortmöglichkeiten aus? Es gibt da keinen pädagogischen
oder reglementierenden Ansatz, der fruchtbringend wäre. Ich
denke, daß von den Werken eine Gravitation ausgehen muß.
Entscheidend ist die Vielfalt und die Uneindeutigkeit von Kunst.
Je eindeutiger etwas ist, umso schneller kann es rezipiert, abgegrast
und auch wieder vergessen werden. Je mehr es in sich gegenläufige
Bewegung beherbergt, desto länger wird es als Batterie für
immer wieder neu ansetzende Beschäftigung dienen können."
Was ist mit Volksliedern, die über Jahrhunderte überliefert
sind, ohne in besonderem Maße über solche gegenläufigen
Kräfte zu verfügen? "Das stimmt, aber ein Volkslied
ist ja nicht ein Kunstobjekt, mit dem man sich über eine spezielle
Beschäftigung auseinandersetzt, sondern etwas, was dem täglichen
Gebrauch entstammt und auch dort verbleibt, wenn es nicht über
Bearbeitungsformen in die Kunst übertragen wird. Wenn wir den
Begriff der Beschäftigung dort ansetzen, wo auch wirklich ein
Dialog beginnt das ist das Feld der Kunst: nicht nur stumme
Entgegennahme und Verbrauch, sondern Antwort! Antwortfähigkeit!"
Um den schnellen Erfolg, sagt Rihm, geht es nicht. Ich denke, es
geht um Authentizität und Unmittelbarkeit. Es muß auch
die Möglichkeit in der Musik sein, daß sie unmittelbar
wirken kann, sprich, auf dem direktesten Wege kommuniziert. "Selbstverständlich.
Aber das kann man nicht anstreben. Man hat es oder man hat es nicht.
Aber ob die Rezeption darauf reagiert? Nimm Anders Eliasson: Was
mir bei ihm so nahe geht, ist seine Haltung, Musik als eine Art
Verlängerung des naturgegebenen nervlichen Apparats erfahrbar
zu machen und eben nicht als auf dem Papier stattfindende Materialschlacht.
Es ist immer etwas sehr Persönliches, Eigensprachliches spürbar,
was sich nicht hinter Zeit-Floskeln verstecken muß; auch etwas
sehr Deutliches, dabei keineswegs Rätselloses aber es
ist klar. Im Grunde ist es eine 'klassische Musik'. So soll es sein.
Authentisch und unmittelbar, folglich aber nicht so leicht einzuordnen
und daher meine ich nicht so bekannt, zumal hierzulande.
Oder nimm meine Musik: Die wurde unlängst in Amerika von einem
Publikum, das mich überhaupt noch nicht kannte, spontan als
unmittelbar empfunden. Natürlich muß man diese Unmittelbarkeit
überhaupt erst mal an sich heranlassen und bei sich zulassen.
Die Aufnahme ist unvorhersehbar. Ich konnte und wollte mich nie
allzusehr mit Rezeptionsfragen beschäftigen, weil für
mich Rezeption etwas absolut Unberechenbares ist. Und auch nicht
etwas, worauf ich meine Produktion in irgendeiner Weise stützen
könnte.
Der Künstler schafft ja nicht aus einem Überblick heraus.
Vielmehr habe ich für mich immer das Gefühl, aus Nichtwissen,
aus Maulwurfs- und Froschperspektiven heraus Durchgänge und
Helligkeiten überhaupt Atemfreiheiten zu suchen,
zu entdecken. Ich agiere nicht vom Feldherrnhügel aus. Das
ist ein Bild des Künstlers, wie ich es nicht teilen kann. Ich
bin Teil des Produktionsprozesses, ich bin sozusagen das Fortpflanzungsorgan
im Moment."
'Bildlos weglos' heißt eine Komposition Wolfgang Rihm.
Dies könnte ihm auch, was die Intention betrifft, Schaffensmotto
sein. Das Schöpferische kennt keine Übereinkünfte,
und seine Auskünfte sind glühenden Rätseln gleich.
Am 25. Februar 2000 frage ich Rihm, ob er etwas zu seiner im Entstehen
begriffenen Lukas-Passion 'Deus Passus' sagen könne. Er tut
es, aber eigentlich kann er nicht: "Ich habe eine Vorstellung,
wie es werden könnte. Es soll auch eine von der Linie her gedachte
Musik werden, eine relativ strenge, aber darin sinnliche Angelegenheit.
Mehr weiß ich noch nicht. Ich habe mehrere Text-Ansätze:
natürlich die Luther-Übersetzung, lateinische Texte; dann
habe ich erwogen, etwas aus der Diotima-Rede, aus Platon 'Symposion'
zu übernehmen; Passionsdichtungen beschaffe ich mir, Volksdichtungen
und dergleichen, und befrage sie; dann barocke Kunst-Passionsdichtungen.
Ich werde nicht erst, wenn der Text steht, weiterarbeiten. Ich werde
versuchen, während des Schreibens das natürlich
in groben Zügen dem durch das Evangelium vorgegebenen dramaturgischen
Rahmen folgt die Texte 'an Land zu ziehen'." Gibt es
auch schon einige klarer umrissene Momente? "Die ganze Klangwelt,
die klangliche Disposition habe ich schon. Die ist da. Ich möchte
es wenig theatralisch-szenisch auffassen. Ich steuere auf nichts
Bestimmtes zu. Das ist immer so, bei jedem Stück, das ich mache.
Es ist vorher nur eine Ahnung, ein Grauwert. Ich steuere auf etwas
zu, was ich nicht kenne."
"Hunde kläffen an, wen sie nicht kennen."
Heraklit
Christoph Schlüren
(Programmbuchbeitrag für
Salzburger Festspiele 2000)
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