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Maulwurf – Kein Feldherrnhügel

Interview-Portrait Wolfgang Rihm

"Natur pflegt sich versteckt zu halten."
Heraklit
"Es gibt diese Lieblingstöne in der Musik. Da gehört für mich der tiefe Fagott-Ton in Berlioz’ 'Fee Mab'-Scherzo dazu. Oder das Cis im C-Dur-Akkord der Vierten Sibelius, im ersten Satz. Das klingt doch wie ein Tier, was die Bratschen und die Fagotte da 'hineinröhren'." Wolfgang Rihm folgt als Komponist dem Moment, den Weisungen desselben und seinen damit korrespondierenden Schüben: "Alles ist Setzung und gleichzeitig Wuchs. Oder auch: Zug und Gegenzug – gegenstrebige Fügung. Ich empfehle immer, der Intuition mehr zu vertrauen als der planenden Festlegung. Ich versuche, mit meinen Nerven zu komponieren. Mit Intuition meine ich über die Eingebung hinaus das freie Spiel mit Setzung und der Fähigkeit, den Echos der Setzung zu folgen. Ich merke jetzt, daß ich in dieser Lebensphase dahin komme, daß die Strecke Bedeutung gewinnt. 'Vers une symphonie fleuve IV' ist das Schwellenstück, wo die Phase der Moment-Setzungen überlagert wird von der Phase der Strecken-Bedeutung. Wobei die Strecke für mich ein Vorbegriff ist zum Fluß: Fluß als die energetisch durchströmte Strecke, wo weniger die Einzelereignisse als solche zählen als deren Erscheinen im Verlauf. Ich habe lange erforscht, wie Zusammenhang aus unzusammenhängenden Partikeln entsteht. Auch der Schnitt kann organische Folgen zeitigen! Denn eine Form ist nicht nur durch Fluß bestimmt, sondern ebenso durch Unterbrechung, durch Ruptur. Aber jetzt wünsche ich, in einigen Werken das Zusammenhang Stiftende in einer unablässigen Strömung – etwa 'Über die Linie' – zu erforschen, dem auf die Spur zu kommen." Ob das für ihn auch mit Harmonik zu tun hat? "Insofern, als es eine Folge hat in der Harmonik. Indem es sich länger in einem harmonischen Raum bewegt und weniger wechselt. Das begann übrigens in Stücken wie 'Inschrift' für Orchester, welches ich für San Marco in Venedig schrieb. Dort ist dieser extrem lange Nachhall gegeben, wodurch ich gezwungen war, um der Deutlichkeit des Erklingenden willen – auch bei schneller Bewegung! – einen einmal angeschlagenen Klang länger beizubehalten. Dadurch habe ich etwas für mich entdeckt, was ich weiter erkunden wollte. So kam mein Interesse an Flußformen auf, an ununterbrochener Bewegung des Klingenden. Während früher in einer Arbeitsphase die Pausen enorm wichtig waren – den Energiestrom zwischen zwei Körpern offenhörbar, vernehmbar zu machen, also ganz bildlich: daß zwischen diesen zwei Körpern ein dritter entsteht, der durch die ihn umgrenzenden definiert wird; nicht leer, sondern gefüllt mit dem, was war, und dem, was kommt. Klanglich konkret gibt es da sehr vielfältige Möglichkeiten, siehe Stockhausens Begriff von der 'gefärbten Pause', bis hin zur tatsächlichen Stille. Und jetzt suche ich den Strom bei ständiger klanglicher Aktion, zum Beispiel in 'Jagden und Formen'." Aber geht es wirklich um Pausen oder nicht Pausen? In 'Spiegel und Fluß' fließt es durch die Pausen weiter. "Es hat weniger mit den Pausen an sich zu tun als mit meiner Einstellung zu den Pausen. Ich habe begonnen, diese Kontinuität zu suchen." Und wie ist da die Rolle der Harmonik? "Ich versuche es noch über harmonisch nicht eindeutig gebundene Linienzüge, die changieren und sowohl auf tonal geprägte als auf nicht tonal geprägte Felder bezogen werden können. Ein starker Anteil in mir ist durchaus Harmoniker."
Wenn Rihm betont, er denke sehr viel von der Harmonik her, so meint er keine herrschenden Ordnungsprinzipien: "Das hat mich von Anfang an gestört, diese enorme Abhängigkeit von Systemen: Jeder hat mehr oder weniger ein System entwickelt, es wurden ständig Systeme referiert – ich habe dieses Bedürfnis schon in frühen Jahren nicht verstehen können. Ich denke, es kommt aus einer ganz zur Apologie gezwungenen Situation. Jeder Autor sieht sich gezwungen, zu beweisen, daß er etwas richtig macht. Also wirft er ein Diagramm an die Wand und sagt, die Töne, die er da geschrieben habe, entsprächen exakt dem System, das er entworfen habe. Und somit könne es nicht sinnlos sein! Die Angst vor dem Spontanen ist hier die Angst vor der Sinnlosigkeit; auch die Angst, etwas zu tun, was seinen Sinn erst mit der Zeit bekommen könnte; etwas zu tun, was sich noch in keiner Form fügt in einen Sinnzusammenhang, den man bereits bereithält, sondern eben etwas, was seinen Rätselcharakter behält. Da bin ich anscheinend von der Veranlagung her begünstigt, denn ich glaube, daß Kunst nur dann entstehen kann, wenn sich der Künstler auf diesen Rätselcharakter einlassen kann. Wenn Erklärbarkeit und Offenlegung das Erfinden selber ersetzt, ist nichts weiter als eine gutgemeinte, ehrliche, saubere Arbeitsweise dokumentiert. Das ist unkünstlerisch. Die Systemsuche macht selbst vor intuitiv Arbeitenden nicht Halt, und das ist etwas, was ich überall beobachte. Es ist sehr schwierig, sich völlig dieser Belegbarkeit zu entäußern. Aber wenn es wirklich Musik ist: Wie sollte man sagen, wie die Musik sei? Wie will man sie sagen? Vor allem, wenn man in ihr lebt, versagen alle Ansatzpunkte der Definition."
Natürlich definiert ein Werktitel nicht die betreffende Musik, auch dann nicht, wenn diese sehr deskriptiver Natur wäre. Aber er verspricht doch einen bestimmten Zugang: "Es ist immer schwierig, aus der Metaphernwelt der Titel in die konkrete klangliche Welt der Stücke wieder zurückzufinden. Aber ich habe mich nun mal entschieden, diese offene Poetik von Titeln zuzulassen und bin deswegen auch immer wieder in Verlegenheit, wenn ich dafür um Erklärungen gebeten werde, die dann manchmal den bereits abgegebenen widersprechen!" Und wie erklärt sich dann ein Titel wie 'Spiegel und Fluß'? "'Spiegel' ist natürlich das Selbstbild, außerdem die Möglichkeit, wenn ich in den Spiegel sehe, eine Form von Zeit wahrzunehmen, und wenn es nur mein eigenes Älterwerden ist. Es hat mit meiner Einstellung zu mir selbst zu tun, zum erlebten Lebensgang. Es ist ein Stilleben mit Totenkopf und Kerze – umgestürzter Kerze, beckmannsch’ gesprochen. Also durchaus ein 'nature morte'. Sodann kann man den Fluß als eine bewegte und den Spiegel als eine unbewegte Wasseroberfläche interpretieren – als See, unter dessen Oberfläche enorme Abgründe denkbar sind. Ganz kurz tritt ein echtes Erschrecken ein! Aber solche Titel sind im Grunde spontane Entscheidungen. Manchmal sind sie auch Wegweiser für mich selber, um ins Stück hineinzukommen. Zugleich ist immer auch eine unwillkürliche Idee dahinter, nur kann ich die nicht unbedingt wiedergeben."
 
"Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt."
Heraklit
Es sind natürlich nicht nur Lieblingstöne, sondern auch Lieblingsstücke, auf die Wolfgang Rihm gerne verweist: "Jean Sibelius’ Vierte Symphonie ist für mich eine der bedeutendsten Symphonien überhaupt, ja, eines der großartigsten Werke in der Geschichte. Ungefähr zeitgleich mit 'Sacre du printemps'. Ich liebe den langsamen Satz, der ist von einer derartigen Abgründigkeit, das ist ungeheuer. Man sieht daran auch, wie die Kategorie des Gelingens nicht an die Erscheinungsbilder geknüpft ist, die schon bekannt sind. Wann ist denn etwas gelungen? Wenn viele Leute meinen, es sei gelungen? Aber die meisten sprechen dann von Gelingen, wenn etwas zur Tür hereinkommt, was aussieht wie das, was sie kennen als Gelungenes. Und dann: die Kategorie des 'Neuen'. Man erlebt es doch immer wieder, wenn man auf einem Musikfest ist: Meistens wird das wirklich Neue gar nicht als Neues wahrgenommen, sondern mit dem verglichen, was man als 'das Neue' kennt. Jeder, der sich über 'das Neue' verbreitet in dem Sinne, daß er sich als dessen Anwalt zu outen hofft, wird 'das Neue' in der Form begrüßen, wie er es einmal prägend wahrgenommen hat, also letztlich als etwas Altes."
Wenn dem so ist, was wünscht sich Rihm dann von der Kritik? "Eine Sicht auf das, was ich tue, die mich in schwierigen Momenten des Tuns bereichert und mir hilft. Damit wäre natürlich etwas von der Ausgewogenheit Forschung und Lehre in das Phänomen Kunst und Kritik eingebracht. Die Lehre gewinnt durch die Forschung. Ich wäre als Künstler durch die Kritik bereichert, würden mir Aspekte gezeigt, die ich nicht bedacht habe. Das geschieht aber leider viel zu selten in der Öffentlichkeit. Es ist sicher positiv, wenn ein Kritiker Ratlosigkeit verspüren läßt. Man könnte oft denken, die Ratlosigkeit sei primär ein Grundzustand des Schaffenden, aber ich bin beruhigt, wenn ich ihn auch auf Seiten des kritischen Beobachters finde – dann kann es ja so schlecht nicht bestellt sein. Denn die belebende Diskussion verstummt ja immer dann, wenn keine Ratlosigkeit mehr erlaubt ist, wenn eine Äußerung, festgemauert in ihren Grundsätzen, sich nicht mehr beweglich zeigt." Fühlt sich der Komponist Rihm in seinen oft extremen Verwandlungen adäquat von der Kritik begleitet? "Selbstverständlich nicht in dem Maße, wie ich sie selber als natürlich empfinde. Schon allein deshalb, weil ich eine derartige Fülle von Œuvre bereits exponiert habe, daß die Begleitung umfassende Kenntnis voraussetzte. Ich achte auch die Meinung, mein Komponieren sei allzu privat motiviert, und kann nur den als glücklich schätzen, der über dieses Private hinausgelangt in ein öffentliches Interesse. Das kann ich nicht absichtlich tun. Ich hoffe, daß meine Werke das von selbst besorgen ohne eine solche Ausgangsstrategie."
Das Schlagwort von der 'Neuen Einfachheit', auf Rihm ohnehin seit jeher fehlangewendet, hat sich längst überlebt. Heute ist in weiten Kreisen eine 'Neue Armut' mit ihrer scheinmeditativen Abkehr von aller Innenspannung 'in', an der gemessen die einstige 'Neue Einfachheit' hochkomplex war. "Ich kann mir nur vorstellen, daß dieser Bedarf heute aus einer 'Entlastungssituation' kommt, indem bestimmte Hörvorgänge als belastend empfunden werden, wie sie in einer Musik, die sich mehr aus dem Dialektischen motiviert, verströmt werden. Entlastung als Gegenreaktion auf Überlastung! Von daher ist durchaus auch ein diskutabler und positiver Kern drin, der aber dadurch, daß er beliefert und industriell abgespeist wird – ein herrlich freies Feld für Marktstrategen – , und daß diese Produkte stilbildend wirken im Verdrängungswettbewerb, auf welchen die Rezeption anspringt, so daß anderes nicht mehr wahrgenommen werden kann: der dadurch bestimmte Fähigkeiten verkümmern läßt, indem das reine Versinken im sich um sich selbst drehenden Klangbild alles übertönend angesagt ist. Darin sehe ich die Gefahr einer Verarmung, nicht nur von der Rezeptionsseite her: auch für die Komponisten werden die Möglichkeiten immer enger!"
 
"Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehn, auch wenn du jeden denkbaren Weg begehst: so unerschöpflich ist, was sie zu erklären hat."
Heraklit
In Rihms Händen wird Musik tatsächlich zur unmißbräuchlichen Muse. Von nichts weiter als willkürlicher rhetorischer Anmaßung war denn auch der Versuch einer Autorin in einer deutschen Fachzeitschrift getragen, die van der Lubbe-Vertonung 'In doppelter Tiefe" als willfährige Staatsaktmusik zu diffamieren. Politik kann doch die Abgründe des Seelischen nur dann propagandistisch verwerten, wenn für das Hier und Jetzt ein Nutzen gezogen werden kann. Dafür bedarf es, ungeachtet womöglicher Mannigfaltigkeit, emotionaler Eindeutigkeiten, die massenidentifikatorisch wirken. Diese Kategorie erfüllt Rihm nie und nimmer. Er folgt eben dem Moment, dem frei-wechselseitigen Spiel von Setzung und Wuchs. Eine immer schon vorhandene Tendenz hingegen, die in jüngerer Zeit verstärkt hervortritt, könnte man als 'Suche nach innen' bezeichnen. Das geschieht nicht ohne Allusionen zur romantischen Schattenwelt. Ein Titel wie 'Verborgene Formen' mag Hinweise darauf enthalten – der Komponist auf verschütteten Pfaden, im verwinkelten, schwer zugänglichen Hinterland der Psyche. Vielleicht ist es bei Rihm oft weniger das innere 'Schlachtfeld', auf welchem seine künstlerischen Auseinandersetzungen Gestalt annehmen, als das von unausgesprochener Not getragene Bedürfnis, im Innern dem Dionysos zu huldigen, des Styx angesichtig zu werden. Das ist nicht unerheblich, denn wenn Heraklit mitteilt, daß "die Seelen im Hades Ausdünstung einatmen", so muß der unbestellte Besucher auch mit einigem rechnen… Beschreibungen sind stets nicht nur Selbstbeschreibungen, sondern auch Verengung des Geschauten, Erlebten; Festlegung des Dynamischen, Veränderlichen. Riskieren wir also ein Attest aus der augenblicklich erscheinenden Lage, nicht zuletzt aufgrund des jüngsten Eindrucks von seinem 1999 in München uraufgeführten Klarinettenkonzert 'Über die Linie': Empfindest du 'Suche nach innen' als auf dich zutreffend? "Es könnte dem nahekommen, was gemeint ist. Je nachdem, was für ein 'Innen' gemeint ist. Wenn es nur die momentane eigene Befindlichkeit wäre, dann wäre es zu wenig. Das gesuchte 'Innen' ist nicht identisch mit dem Klischee von der 'Innerlichkeit'. Also keine Selbstbezogenheit, die sich darin genügt, das Selbst zu betrachten und zu umhegen, mit möglichen Folgen wie Larmoyanz, Euphorie, was weiß ich… Was übrigens über die Qualität des Entstehenden noch lange nichts sagt. Aber absichtlich angestrebte, proklamierte Innerlichkeit wird sich entlarven, indem sie aus diesem natürlichen, innerlich unbewußten Zustand herausgerissen und in eine dogmatische Veräußerungssituation verkehrt wird: Schluß, aus, von wegen innerlich! Mithin, Innerlichkeit als ästhetische Waffe, das mag ich nicht. Aber so oder so ist es nur ein Begriff, und mit dem kommt man nicht weit. Jedenfalls ist in meiner Musik die Komplexität nicht die Folge von Systematik. Ich lasse sie vielmehr zu. Sie ist die Folge divergierender Organismen. Also mehr Goethe und weniger Schiller. Mehr die Natur zulassen als sie regeln wollen."
Die gewachsene Psyche ist voller Widersprüche. "Du kennst mich nur in Kurzmomenten, und vielleicht denkst du jetzt, ich sei eher ein erhitzter Typus. Wenn Du mich längere Zeit kennen würdest, würdest du auch bei mir die Eiseskälte bekommen. Man erlebt jemanden ja immer nur ausschnitthaft, und dann werden diese Ausschnitte festgeschrieben über ein Leben hin. Damit hat man als Autor ein Leben lang zu kämpfen. Am Anfang war ich plötzlich der 'Hauptvertreter der Neuen Einfachheit'. Wenn du nach Frankreich gehst, bin ich der 'Romantiker'. Gehst du nach Amerika, so bin ich der typisch deutsche Komponist, der 'häßliche Klänge' schreibt. Einen Personalstil kann man übrigens nicht anstreben. Man kann dann höchstens nicht anders." Wobei immer die spielerischen, willkürfreudigen, Außen und Innen durcheinanderwirbelnden und neu assoziierenden Komponenten mit zu berücksichtigen bleiben. Wann die eintreten dürfen, bestimmt der Komponist nicht humorfrei: "Ich habe auch theatralische Bedürfnisse, und ich bin auch – in einer Facette – ein theatralischer Mensch. Das zu leugnen wäre übrigens genauso theatralisch! Ich kann ja nicht von meinem Wesen absehen. 'Gejagte Form' zum Beispiel verlegt eine Hatz, eine Jagd von innen nach außen. Es trägt ein innen vermeintes Stürmen, Jagen in die Welt hinaus. Es hat auch exhibitionistische Züge, ist also auch insofern theatralisch. Das zu erforschen ist freilich nicht Aufgabe dessen, der es tut." Aber verstehen wir unter 'theatralisch' nicht doch eher Effekt um seiner selbst willen, lokale Wirkung, allusives Moment?

 

"Das hieße, daß ich vom Wesen her nicht frei darüber verfügte, sondern es aufsuchte. Verfügt man aber vom Wesen her über diese Art der Interpunktion und Diktion, so ist es sozusagen 'Theatralik der ersten Art'. Das war bei mir von Anfang an ein Bedürfnis. Ich komme ja aus einem süddeutsch-katholischen Milieu. Ganz früh als Bub wollte ich Priester werden. Nicht, weil ich das Wort Gottes zu verkünden hatte, sondern, weil mir das Ritual gefiel: das Hochamt, die Musik, der Weihrauch – diese ganze bewegte Architektur. Da habe ich schon erste theatralische 'Zuckungen' vernommen. Und vergessen Sie nicht, daß ich aus Baden komme. Mein Freund Helmut Lachenmann und ich, wir sind sozusagen die beiden Ausprägungen des südwestdeutschen Echos. Wir sind uns sehr bewußt, daß der eine aus dem schwäbischen Pietismus kommt und der andere aus dem Badischen, wo man ja fast schon dem 'welschen Tand' zuneigt." Sage einer, wer so freundlich mit dem Landstrich kokettiert, lasse nicht auch in seiner Musik Züge eines Landstreichers durchscheinen, die den Erschließungsexperten musikalischen Neulands gar manchen Streich spielen.
 
"Für Seelen ist es nicht Tod, sondern Genuß, feucht zu werden."
Heraklit
Die Liebe zu einer Musik, in diesem Fall zum Beispiel zu derjenigen von Jean Sibelius oder Allan Pettersson, birgt gemeinhin stets die Gefahr der Nachahmung. Es kann aber auch einfach so sein, daß bestimmte Aspekte befruchtend wirken, Vertrautes wie Fremdes, Sympathisches wie Abstoßendes mag Anziehungskraft ausüben. Ist es nicht gar Rihm, der Musik endlich mit den Löchern komponiert, die Adorno bei Sibelius suchte? Es war übrigens Sergiu Celibidache, der fragte, wo eigentlich "die Löcher im Wasser" geblieben seien. Aber im Ernst: der unschlichtbare Widerstreit zwischen Kohärenz-Sinn, einem Komponieren als aus dem größeren Zusammenhang heraus 'nicht anders können' einerseits, dem sich-Verzetteln, Ausufern, Launen folgen, dem tönend entäußerten 'Tagebucheintrag', dem Herüberschwappen der Alltagsbanalität andererseits – wie stellt sich dem der Komponist? "Ich kann’s nicht trennen." Hat es mit 'work-in-progress' zu tun? "Diese Verbindung sehe ich nicht. 'Inschrift' ist eines meiner kohärentesten Werke, auch wenn da am Ende 'work-in-progress' steht, was in Bezug auf das beistehende Datum gilt. Heute aber ist es nicht mehr so, denn es wurde zu sich. 'Work-in-progress' heißt bei mir Folgendes: Ein Teil ist da. Später kommt ein anderer Teil hinzu. Es wird übermalt, es kommt eine dritte Schicht darüber. Alle diese Schichten sind präsent. In 'Inschrift', das sehr strophisch gebaut ist, kommt so eine Passage, wo die 'Zeitgrundierung' nach vorne dringt. Das ist ein Verfahren, das ich aus der Malerei übernommen habe. Da gibt es in vielen Stücken Stellen, wo die Musik sozusagen zurücktritt und der Grund, auf dem sie geschrieben steht, hervortritt, als wäre die Leinwand ungrundiert. Oder: als würde man nur die Struktur des Stoffes, auf den aufgetragen wurde, sehen. Am unmittelbarsten hat mich da Andrea Mantegna beeindruckt: seine Beweinung Jesu, wo bei den beweinenden Gesichtern die Leinwand frei ist. Es kann natürlich sein, daß der Farbauftrag da abgeblättert ist. Aber ich glaube das nicht. Ich denke, daß das als Ausdruckswert benutzt wurde. Die Haltung, Dinge einfach unfertig stehen zu lassen, hatte Michelangelo auch. Vieles ist bei mir Folge meiner Affinität zur bildenden Kunst. Denn in der Musik gibt’s das eigentlich nicht. In der Musik ist immer alles fertig. Auch ein sogenanntes 'work-in-progress' hören wir als 'work'. Indem ich sage, daß es noch weitergehen kann, wird, vielleicht: könnte – dann kommt das ja ins Bewußtsein des Zuhörers. Ich kann’s ebensogut auch nicht sagen. Das Ende eines solchen Stücks hat für mich Doppelpunkt-Charakter. Es ist nicht das explizite Fragezeichen, sondern die schiere Möglichkeit, dem Wuchs weiter zu folgen. Was das im Hörer hinterläßt, kann der Komponist nicht bestimmen. Bei jedem Hörer ist die Hinterlassenschaft des Klanges eine andere. Die Angebote werden durch die Werke gegeben. Ob die nun progredieren oder definitiv sich vorführen, ist letztlich der 'Regie des Hörers' anheimgestellt. Ich kann die Regie selber nur bis zu einem gewissen Punkt in die Hand nehmen. Je mehr ich sie in die Hand nehmen will, desto unkünstlerischer wird das Ganze." 'Work-in-progress'-Projekte sind beispielsweise sowohl die Serie 'Vers une symphonie fleuve' als auch der sich ständig erweiternde Werkpool 'Jagden und Formen'. In Letzterem sind die "Jagden musikalische Bewegungsformen, und die Formen sind musikalische Formen, die bereits bestehen, Objekte, Akkorde – Werkformen, die ich schon komponiert habe, die in dieses Stück wie in einen Strudel hineingesogen werden, in die Einschübe gesetzt werden; die übermalt werden, wobei dann die Übermalungsschicht wiederum mit einer anderen Klangschicht konfrontiert wird usw. Es ist ein Prozeß, der seit 1995 anhält und nicht auf einen Abschluß hin angelegt ist."
In 'Vers une symphonie fleuve IV' sind "die Orchesterteile zum Teil noch rudimentäre Bestände aus ganz anderen Zusammenhängen, unter anderem aus '…et nunc', einem Stück für Bläser und Schlagzeug. Und in dieses Milieu hinein habe ich dann diese lange Hornmelodie geschrieben. Diese Information spielt für den Hörer keine Rolle. Es kommt aus der Stückung, geht aber zur Strecke. Was in einem bestimmten Moment geschieht, ist eigentlich immer erst dann klar. Ich werde auch den Anfang von 'Vers une symphonie fleuve IV' weiterkomponieren, um woanders anzukommen. 'Vers une symphonie' versteht sich analog zum Begriff Musik: Adornos 'Hin zu einer informellen Musik'. Und die 'Symphonie fleuve' ist abgeleitet vom 'Roman fleuve'. Romain Rolland hat das in seinem 'Jean-Christophe' ausgeführt, wo wir Figuren begleiten, die verschwinden und wieder auftauchen, in einem ständigen Fluß der Ereignisse sich befinden. Auch Hubert Fichte hat seine große Lebensarbeit 'Schule der Empfindlichkeit' als 'Roman fleuve' bezeichnet. Von ihm habe ich den Begriff zum ersten Mal gehört. Für mich ist es ein Stücke-Projekt, ein für große Besetzung komponiertes magnetisches Feld, in das immer wieder Werke und Werkteile hineindrängen, die dort einer permanenten Metamorphose ausgesetzt sind, einem Weitergetriebenwerden, Aufgelöstwerden und wieder Zusammengefaßtwerden, und unablässigem Strömungsverlauf."
Ist es so, als ob ein Lebensstrom dich mitzöge als Schaffenden? "Es ist eher so, daß ich diesen Strom hier herstelle und gleichzeitig von ihm bewegt werde. Wie genau der Lebensstrom in den Produktionsstrom überspringt, darüber kann ich keine Auskunft geben. Das gehört zu den Geheimnissen der Energie-Weitergabe. Wo die Synapsen sind, wo die Energie überspringt, das weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen." Rihm weiß anderes umso besser, so, daß es in Teilen von 'Vers une symphonie fleuve IV', zumal zu Beginn, eine deutliche Affinität zu Allan Pettersson gibt: "Ich habe mich in früheren Stücken oft bewußt auf Pettersson bezogen. Aber just in diesem Fall scheint es mir etwas zu sein, was aus dem Unbewußten kam. Vielleicht ist es gerade deswegen umso wirksamer. Dabei gehe ich übrigens nicht nur in der Folge woanders hin als Pettersson, ich komme auch von woanders her. Bei der Vierten Mahler denken wir auch oft an Mozart oder Schubert. Es ist doch schön, daß man beim Einen oft auch an den Anderen denkt und diesen nicht vergißt!"
Wie steht es mit den Brüchen in der erlebten Fortschreitung? "Also die 'Erlebbarkeit der Fortschreitung' ist für Sie essentiell? Dieses Fortschreiten des Hörens und das Fortschreiten der Komposition ist aber nicht immer nur von vorne nach hinten denkbar, sondern auch in verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Richtungen – die ominöse 'Kugelgestalt der Zeit'." Aber wie hört man? "Von vorne nach hinten und wieder zurück – aber schon weiter… Alles zugleich." Wie ist es mit der energetischen Verwirklichung der Form, der 'Ladung' der Noten? "Ich will doch nicht, daß ständig unbedingt meine Noten geladen werden von jemandem, den ich nicht eingeladen habe. Er soll nur das spielen, was dasteht." Und wenn er 'neutral' lädt? "Dann entlädt er eher. Die Ladung ist ja eh da. Es ist ja alles immer da." Auch wenn keiner das Werk spielt und niemand es hört? "Ich glaube schon, daß es auch dann da ist. Es ist in der Welt. Das ist bei der Musik natürlich das Unverständliche. Was man noch nicht verstanden hat, das ist das Interessante."
 
In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht."
Heraklit
Indem man nicht alles kennen kann, aber doch alles irgendwie da ist, läßt einen der Lauf der Zeit nicht aus: "Es ist die Fülle der Schritte, die den nächsten Schritt hervorbringt. Die Fülle der Schritte drängt – an ihren Rändern wohlgemerkt! – den einen oder anderen Schritt weiter ins Unbegangene. Es ist eine Eigendynamik." Aber wohin drängt es Wolfgang Rihm? "In jedem Fall: hin. Es kann vielleicht eine dynamische Entwicklung sein von etwas, was mich lange beschäftigt hat: hin zu etwas Anderem. Ich sehe es ganz unpathetisch. Außerdem erlebe ich nichts zweimal. Die Beobachtung und jegliche Erscheinung lehrt, daß es nichts zweimal gibt. Auch ich bin immer woanders beim nächsten Mal. Alles ist einmalig für mich. Natürlich ist der weitere Weg, der tatsächliche 'Fortschritt' kein Zufall. Aber das ist nicht Objekt meiner eigenen Erforschung. Meine Aufgabe ist es, die Dinge zu machen. Und diesen Dingen merke ich an, daß sich etwas ändert. Ich sage nicht: 'Hier ist mein Programm. Jetzt gucken wir mal, wie wir da zu Stücken kommen.' Nein: ich mache Stücke, und daran stelle ich fest. Bei mir führt der Weg immer von der Produktivität zur Reflexion. Dann aber wird die Reflexion Gegenstand neuer Produktivität. Das zeugt sich selber vorwärts. Einige Kriterien, an denen sich Kunst immer erweisen muß, sind: Ist sie in sich vielschichtig, vieldeutig; ist sie dicht, geöffnet; trifft sie auf Fragen und löst sie Antwortmöglichkeiten aus? Es gibt da keinen pädagogischen oder reglementierenden Ansatz, der fruchtbringend wäre. Ich denke, daß von den Werken eine Gravitation ausgehen muß. Entscheidend ist die Vielfalt und die Uneindeutigkeit von Kunst. Je eindeutiger etwas ist, umso schneller kann es rezipiert, abgegrast und auch wieder vergessen werden. Je mehr es in sich gegenläufige Bewegung beherbergt, desto länger wird es als Batterie für immer wieder neu ansetzende Beschäftigung dienen können." Was ist mit Volksliedern, die über Jahrhunderte überliefert sind, ohne in besonderem Maße über solche gegenläufigen Kräfte zu verfügen? "Das stimmt, aber ein Volkslied ist ja nicht ein Kunstobjekt, mit dem man sich über eine spezielle Beschäftigung auseinandersetzt, sondern etwas, was dem täglichen Gebrauch entstammt und auch dort verbleibt, wenn es nicht über Bearbeitungsformen in die Kunst übertragen wird. Wenn wir den Begriff der Beschäftigung dort ansetzen, wo auch wirklich ein Dialog beginnt – das ist das Feld der Kunst: nicht nur stumme Entgegennahme und Verbrauch, sondern – Antwort! Antwortfähigkeit!" Um den schnellen Erfolg, sagt Rihm, geht es nicht. Ich denke, es geht um Authentizität und Unmittelbarkeit. Es muß auch die Möglichkeit in der Musik sein, daß sie unmittelbar wirken kann, sprich, auf dem direktesten Wege kommuniziert. "Selbstverständlich. Aber das kann man nicht anstreben. Man hat es oder man hat es nicht. Aber ob die Rezeption darauf reagiert? Nimm Anders Eliasson: Was mir bei ihm so nahe geht, ist seine Haltung, Musik als eine Art Verlängerung des naturgegebenen nervlichen Apparats erfahrbar zu machen und eben nicht als auf dem Papier stattfindende Materialschlacht. Es ist immer etwas sehr Persönliches, Eigensprachliches spürbar, was sich nicht hinter Zeit-Floskeln verstecken muß; auch etwas sehr Deutliches, dabei keineswegs Rätselloses – aber es ist klar. Im Grunde ist es eine 'klassische Musik'. So soll es sein. Authentisch und unmittelbar, folglich aber nicht so leicht einzuordnen und daher – meine ich – nicht so bekannt, zumal hierzulande. Oder nimm meine Musik: Die wurde unlängst in Amerika von einem Publikum, das mich überhaupt noch nicht kannte, spontan als unmittelbar empfunden. Natürlich muß man diese Unmittelbarkeit überhaupt erst mal an sich heranlassen und bei sich zulassen. Die Aufnahme ist unvorhersehbar. Ich konnte und wollte mich nie allzusehr mit Rezeptionsfragen beschäftigen, weil für mich Rezeption etwas absolut Unberechenbares ist. Und auch nicht etwas, worauf ich meine Produktion in irgendeiner Weise stützen könnte.
Der Künstler schafft ja nicht aus einem Überblick heraus. Vielmehr habe ich für mich immer das Gefühl, aus Nichtwissen, aus Maulwurfs- und Froschperspektiven heraus Durchgänge und Helligkeiten – überhaupt Atemfreiheiten – zu suchen, zu entdecken. Ich agiere nicht vom Feldherrnhügel aus. Das ist ein Bild des Künstlers, wie ich es nicht teilen kann. Ich bin Teil des Produktionsprozesses, ich bin sozusagen das Fortpflanzungsorgan im Moment."
'Bildlos – weglos' heißt eine Komposition Wolfgang Rihm. Dies könnte ihm auch, was die Intention betrifft, Schaffensmotto sein. Das Schöpferische kennt keine Übereinkünfte, und seine Auskünfte sind glühenden Rätseln gleich. Am 25. Februar 2000 frage ich Rihm, ob er etwas zu seiner im Entstehen begriffenen Lukas-Passion 'Deus Passus' sagen könne. Er tut es, aber eigentlich kann er nicht: "Ich habe eine Vorstellung, wie es werden könnte. Es soll auch eine von der Linie her gedachte Musik werden, eine relativ strenge, aber darin sinnliche Angelegenheit. Mehr weiß ich noch nicht. Ich habe mehrere Text-Ansätze: natürlich die Luther-Übersetzung, lateinische Texte; dann habe ich erwogen, etwas aus der Diotima-Rede, aus Platon 'Symposion' zu übernehmen; Passionsdichtungen beschaffe ich mir, Volksdichtungen und dergleichen, und befrage sie; dann barocke Kunst-Passionsdichtungen. Ich werde nicht erst, wenn der Text steht, weiterarbeiten. Ich werde versuchen, während des Schreibens – das natürlich in groben Zügen dem durch das Evangelium vorgegebenen dramaturgischen Rahmen folgt – die Texte 'an Land zu ziehen'." Gibt es auch schon einige klarer umrissene Momente? "Die ganze Klangwelt, die klangliche Disposition habe ich schon. Die ist da. Ich möchte es wenig theatralisch-szenisch auffassen. Ich steuere auf nichts Bestimmtes zu. Das ist immer so, bei jedem Stück, das ich mache. Es ist vorher nur eine Ahnung, ein Grauwert. Ich steuere auf etwas zu, was ich nicht kenne."

"Hunde kläffen an, wen sie nicht kennen."
Heraklit

Christoph Schlüren

(Programmbuchbeitrag für
Salzburger Festspiele 2000)