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Rihm und lichter Schatten

Zur Uraufführung von Wolfgang Rihms Klarinettenkonzert

Die Feder des Komponisten als Seismograph der Seele, das ist schumannesk und erzromantisch. Aber wie Schumann an Aktualität immer weiter noch zu gewinnen scheint, kann die zerklüftete Schönheit des entgrenzt Abgründigen auch für Rihm den schmalen Grat ins Zeitlose bedeuten. Solist Jörg Widmann wurde nun in der einsätzigen, mehr als halbstündigen Musik für Klarinette und Orchester (Über die Linie II) zum Verbündeten oszillierenden Sehnens, zu des Komponisten lichtem Schatten. Widmanns äußerste Flexibilität des Ausdrucks, seine wendig-kleingliedrige Artikulation, die feinste Nuancierung auch in der extremen Höhe bleiben in lebhafter Erinnerung. Die kompositorische Linie duldet kein Ausspannen des Solisten, dessen Part schon rein physisch als Tortur gelten dürfte, wäre da nicht die reichliche, Phase auf Phase völlig unvorhersehbare Belohnung: Rihms jüngste Musik ist in den verborgenen, für gewöhnlich dem Verkümmern preisgegebenen Winkeln der Seele zuhause, wo immerzu plötzlich Selbstverlust droht. Zerbrechliche, splitterbereite Schönheit, schleimfreie Zärtlichkeit, schlackengeplagtes Irrlichtern auskomponierter Verunsicherung – drängende Fragen und eigenwillige Echos: Die Form ist Tagebuch eines verschlungenen, in seiner Gesamtheit womöglich nicht faßlichen Suchens,

welches immer wieder auf Unerschlossenes stößt, Kammern verwegener Funde zeitigt. Es ist Musik, die nach innen zieht und Wege weist, deren Ziel sich erst sehr spät zu erkennen gibt. Wie ist das Werk als Ganzes zu fassen, wo nach einem intensiv mit "kettenschlagendem" Ostinato (grandios instrumentiert) erpeitschten Höhepunkt die Wege sich nochmals ins unüberschaubar Weite verzweigen, neuer Verdichtung der Konflikte zustreben? Eine ganz eigene Welt verwirklicht auch diese neue Komposition Wolfgang Rihms, überquellend von obsessiv verflochtenen Gesichten des Innern.

Christoph Schlüren

(Rezension für Frankfurter Rundschau)