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"Die Musik pflücken, wo sie wächst"

Portrait Arvo Pärt

"Meine Haltung ist immer kategorischer gegen 'Paparazzi'-Forschung in meinen Werken. Ich akzeptiere nicht jede Aufführung unter meinem Namen. Ich möchte konsultiert werden, vor allem, wenn Aufnahmen gemacht werden." Nicht nur bei den Aufnahmen, auch beim Konzert des Estnischen Philharmonischen Kammerchors unter seinem Leiter Tonu Kaljuste im heimatlichen Tallinn ist Arvo Pärt zugegen. Und er stellt sich, wenn auch nicht allzu vergnüglich, dem internationalen Journalistentroß, den Virgin Classics zusammentrommelte. Einzelinterviews werden nicht gewährt. Die Pressekonferenz findet in den Kammerchor-Räumlichkeiten in der Tallinner Altstadt statt, im Dachgeschoß mit dem Flair einer mittelalterlichen Trutzburg. Die Situation ist Pärt unangenehm. Er gibt sich freilich gelassen, professionell, humorvoll. Die meisten Fragen sind dumm. Und wenn es ihm zu dumm wird, so versteht er einfach die Frage nicht. Gerade auch konkretere Fragen zu seiner Musik, zu strukturellen Prinzipien und deren Bedeutung möchte er nicht beantworten: "Ich habe keine Meinung über meine Musik. Ich schreibe nur einfach Musik und kann nicht erklären, was Musik sei."
So sieht Arvo Pärts künstlerische Wirklichkeit heute aus. Vor dreißig Jahren war Pärt ein Suchender, dem das Korsett intellektueller Errungenschaften, komplizierter avantgardistischer Techniken unerträglich wurde. Seine kompositorische Ausbildung hatte er – wie die drei großen estnischen Symphoniker Eduard Tubin, Boriss Parsadanian und Lepo Sumera – von Heino Eller erhalten, dem legendären "Vater der neuen Musik Estlands". Pärt profilierte sich bald als Modernist mit einer phänomenalen Technik, der eine stilistische Brücke von Schostakowitsch zu Schönberg zu schlagen imstande schien, und wurde von den Schergen des sozialistischen Realismus als "Formalist" gebrandmarkt. Ende der 60er Jahre verstummte er und studierte intensiv Musik des Mittelalters und der frühen Renaissance, die 1971 in die neoarchaische Dritte Symphonie einging. Doch noch hatte er nicht jene Quelle gefunden, nach der ihn dürstete. Es folgten weitere Jahre des Schweigens, in denen er die Dimensionen gregorianischer Einstimmigkeit erkundete.
Als Pärt 1976 schließlich das Klavierstückchen Für Alina präsentierte, hatte er in der Abgeschiedenheit seinen Personalstil entwickelt, in dem die persönliche Gefühlswelt zurücktritt zugunsten einer dem Asketischen entsprungenen Balance. Diese neue Sprache, die für sein Lebenswerk von nun an bestimmend ist, nannte er "Tintinnabuli"-Stil. Tintinnabuli bedeutet Glöckchen. Gemeint ist das "Klingeln" des Dreiklangs, dessen drei Töne das ganze Stück über mittönen. Technisch bestehen Pärts Tintinnabuli-Werke aus zwei Schichten: aus den Dreiklangstönen und echter Melodie, die sich in der gleichen Tonart bewegt. Daraus schafft er zum Teil äußerst komplexe Gebilde, mit Hilfe alter Techniken wie des Proportionskanons. Die Statik der Dreiklangstöne repräsentiert sozusagen die Ewigkeit, die Dynamik des Melodischen die Vergänglichkeit der Zeit. Indem dies gleichzeitig geschieht, stellt sich ein eigenartig losgelöstes Zeitempfinden ein. Zugleich erreicht Pärt durch die zwei Ebenen der Wahrnehmung eine ungeahnte Schönheit der Dissonanz. Was anderswo als schriller Mißklang empfunden würde, wirkt erhaben. Mit dieser völlig neugeschaffenen Klangwelt aus alten und neuen Sprachmitteln wurde Arvo Pärt bald – dank des enormen Einsatzes der Plattenfirma ECM – zum weltweit populärsten Komponisten "ernster Musik", ja gar zu einer Kultfigur. Sein mönchisch scheues Image trägt sicher bei zu diesem Erfolg, der ihm auch unerquickliche Etickettierungen eintrug wie "heiliger Minimalismus" oder "Meditationsmusik":
"Ich weiß nicht, was Meditation ist. Ich versuche weiterhin, herauszufinden, was Musik ist. Am Anfang war das Wort, und das Wort ist zum Lobe Gottes. Aber wer fragt, was mit 'Wort' gemeint ist? Es ist das Rätsel der Rätsel, die Formel der Formeln. Ich glaube, daß diese Welt ihren Klang hatte, bevor sie da war. In der Formel war bereits die Zahl. Ohne die Zahl gibt es keine Musik. Und in dieser Formel ist Liebe, wie auch in der Musik Liebe sein soll. Aber die Menschen haben dafür gesorgt, daß diese Dinge verschwunden sind. Und doch bleibt Musik. Insofern hat Musik oberste Priorität, wie die Seele des Menschen. Musik wird überall geboren. Man muß sie nur dort pflücken, wo sie wächst."
 

Beim Konzert in der ehrwürdigen Niguliste-Kirche in Alt-Tallinn wurde erstmals ein "komponiertes Programm" aus acht Werken vorgestellt, das auch den Segen Arvo Pärts hat und bei Virgin Classics unter dem Titel Beatus eingespielt ist (CD 545276-2). Dabei sorgt Pärts Verleger, die Wiener Universal Edition, für ein Novum auf dem Gebiet der klassischen Musik, wie es im Pop-Geschäft längst gebräuchlich ist: parallel erscheint der Notenband zur neuen CD, der sämtliche Partituren enthält (UE 70009). Die Vokalmusik Pärts erschließt sich dem Hörer nur, wenn er sich mit dem biblischen Text auseinandersetzt. Sie führt kein von diesem unabhängiges Leben, auch wenn in den Sieben Magnificat-Antiphonen die emotionalen Kurven mit suggestiver Klanglichkeit vollzogen werden. Alle Werke sind äußerst subtil und zerbrechlich gearbeitet und werden hier auf exzellentem klanglichen Niveau mit innigem Ausdruck vorgetragen.

Christoph Schlüren

(Beitrag für Rondo-Musikmagazin, München 1997)

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Die Statik der Dreiklangstöne repräsentiert sozusagen die Ewigkeit, die Dynamik des Melodischen die Vergänglichkeit der Zeit. Indem dies gleichzeitig geschieht, stellt sich ein eigenartig losgelöstes Zeitempfinden ein. Zugleich erreicht Pärt durch die zwei Ebenen der Wahrnehmung eine ungeahnte Schönheit der Dissonanz. Was anderswo als schriller Mißklang empfunden würde, wirkt erhaben. Mit dieser völlig neugeschaffenen Klangwelt aus alten und neuen Sprachmitteln wurde Arvo Pärt bald – dank des enormen Einsatzes der Plattenfirma ECM – zum weltweit populärsten Komponisten "ernster Musik", ja gar zu einer Kultfigur. Sein mönchisch scheues Image trägt sicher bei zu diesem Erfolg, der ihm auch unerquickliche Etickettierungen eintrug wie "heiliger Minimalismus" oder "Meditationsmusik":
"Ich weiß nicht, was Meditation ist. Ich versuche weiterhin, herauszufinden, was Musik ist. Am Anfang war das Wort, und das Wort ist zum Lobe Gottes. Aber wer fragt, was mit 'Wort' gemeint ist? Es ist das Rätsel der Rätsel, die Formel der Formeln. Ich glaube, daß diese Welt ihren Klang hatte, bevor sie da war. In der Formel war bereits die Zahl. Ohne die Zahl gibt es keine Musik. Und in dieser Formel ist Liebe, wie auch in der Musik Liebe sein soll. Aber die Menschen haben dafür gesorgt, daß diese Dinge verschwunden sind. Und doch bleibt Musik. Insofern hat Musik oberste Priorität, wie die Seele des Menschen. Musik wird überall geboren. Man muß sie nur dort pflücken, wo sie wächst."
 
Beim Konzert in der ehrwürdigen Niguliste-Kirche in Alt-Tallinn wurde erstmals ein "komponiertes Programm" aus acht Werken vorgestellt, das auch den Segen Arvo Pärts hat und bei Virgin Classics unter dem Titel Beatus eingespielt ist (CD 545276-2). Dabei sorgt Pärts Verleger, die Wiener Universal Edition, für ein Novum auf dem Gebiet der klassischen Musik, wie es im Pop-Geschäft längst gebräuchlich ist: parallel erscheint der Notenband zur neuen CD, der sämtliche Partituren enthält (UE 70009). Die Vokalmusik Pärts erschließt sich dem Hörer nur, wenn er sich mit dem biblischen Text auseinandersetzt. Sie führt kein von diesem unabhängiges Leben, auch wenn in den Sieben Magnificat-Antiphonen die emotionalen Kurven mit suggestiver Klanglichkeit vollzogen werden. Alle Werke sind äußerst subtil und zerbrechlich gearbeitet und werden hier auf exzellentem klanglichen Niveau mit innigem Ausdruck vorgetragen.

Christoph Schlüren

(Beitrag für Rondo-Musikmagazin, München 1997)