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DER GEIGER-KOMPONIST RICARDO ODRIOZOLA

Ein Baske in Bergen

Anfang von Ricardo Odriozola, 'Four Dances': Nr. 1, 'Rinocerontito'. Ricardo Odriozola (Violine),
Jane Odriozola (Violoncello). Point/Fenn
Music CD 5116.
 
"Die Neugier abseits des Mainstream hat mich immer begleitet und geleitet. In unserem kleinen Fischerstädtchen in Nordspanien waren mein Bruder und ich die einzigen, die "Art-Rock"-Musik hörten. Das rückte mich auch als Musiker aus meiner Umgebung heraus. Dieses Gefühl, originell und einzigartig zu sein, Unbekanntes zu entdecken, ist für einen jungen Menschen sehr stark. Die anderen hörten jene Popgruppen, die gerade "in" waren, und ich hörte – neben den Klassikern, zu denen in intensiven Phasen zum Beispiel Mahler, Strawinskij und Hindemith gehörten – Gruppen wie Henry Cow, Gentle Giant, Van der Graaf Generator oder King Crimson. Wenn ich diese Musik meinen Freunden vorspielte, so merkte ich, wie ihnen das Wesentliche daran entging. Manche spürten schon, daß da etwas Besonderes war. Diese "Art-Rock"-Musik interessierte mich auch so sehr, weil da Musik auf völlig andere Weise angegangen wurde als in der klassischen Tradition.
Als ich später im letzten Jahr an der Eastman School of Rochester genug hatte von der ganzen theoriebehafteten Musikausbildung, ging ich gegen Ende in die Bibliothek und las alle die Interviews mit meinen Jugendidolen in den einschlägigen Zeitschriften. Sie sprachen darüber, wie sie hören, wie sie Musik mit ihren Ohren machen. Ich bewundere diese Musiker nach wie vor. Sie versuchen wirklich, den unmittelbar bewegenden Klang zu kreieren. Das führt zurück zum Wesen des Musizierens, zur ursprünglichen Motivation. Das primäre Feld der Musik ist Klang und Stille, und es findet sicher nicht auf dem Papier statt. In der populären Musik ist ein starker Antrieb, eine gute Zeit verleben zu wollen beim Musizieren. Das ist für mich sehr wichtig und hat auch eine spirituelle Energie. Eine gewisse Qualität im Klang und in der Konzeption muß für mich natürlich schon da sein, was sicher mit meinem klassischen Background zusammenhängt. Heute ist es ein sehr breites Spektrum von Musik, die ich mag, von einfachen Songs mit bescheidener Akkordik bis zu hochkomplizierten Symphonien. Diese Dinge gehen nicht zusammen auf der gleichen Ebene, weswegen die modische "Cross-Over"-Idee auch nur Verwässerung zur Folge haben kann. Im Gegenteil: Allan Pettersson hätte nie einen Peter Hammill-Song schreiben können. Und Peter Hammill wäre nicht in der Lage, eine Symphonie zu komponieren. Und doch gibt es eine Art sehr langer Untergrund-Verbindung zwischen Hammill und Pettersson, ja auch Mahler, Schostakowitsch, Harald Sæverud. Diese verschütteten Verbindungen interessieren mich als Komponist."
Ausschnitt aus: Carl Nielsen, 4. Symphonie op. 29, 3. Satz 'Poco adagio'.
City of Birmingham Symphony Orchestra, Simon Rattle.
EMI CD 764737-2.
 
Wie verschlägt es einen jungen, hochbegabten baskischen Musiker, der in den USA eine elitäre Ausbildung genossen hat, in den kühlen Norden, ins regnerische Bergen? Ist es die Magie der nordischen Musik, das Aufeinanderprallen von Lyrischem und Existentiellem, wie im 'Poco adagio' der Vierten Symphonie Carl Nielsens, einem Werk, das Odriozola viel bedeutet?
Ricardo Odriozola wurde am 28. September 1965 in der Nähe von Bilbao geboren und wuchs in dem Fischerort Bermeo auf. Seine Eltern waren Musikliebhaber. Der älteste Bruder seiner Mutter hatte es als Violinvirtuose zu beachtlichem Ruf gebracht, war aber sehr früh verstorben. Als Ricardo sechs, sieben Jahre alt war, kaufte der Vater ein Radio- und Tonbandgerät, und das erste, woran sich Ricardo erinnert, war seine Begeisterung für Mozarts 'Don Giovanni'. Bald folgten Beethoven-Symphonien und vieles weitere. Mit achteinhalb Jahren begann er, Gitarre zu spielen. Er lernte alles selbst, ohne Lehrer, mit Hilfe von Büchern und Aufnahmen. Eineinhalb Jahre später fing er mit dem Geigenspiel an. Er fand einen Lehrer, bei dem er sechs Jahre lernte. 1979 traf er auf einem Kurs seinen nächsten Lehrer, Francisco Comesaña aus Madrid, bei dem er nun parallel zum bisherigen Unterricht studierte. Comesaña hatte in der goldenen Zeit der russischen Schule in den sechziger Jahren in Moskau studiert, wo er auch Schostakowitsch kennenlernte. Er brachte seinen jungen baskischen Schüler, der alle zwei Wochen mit dem Nachtzug zu ihm nach Madrid kam und dort unentgeltlich ausgedehnte Unterrichtsstunden genoß, auf den Weg zur Beherrschung des Instruments.
(Hintergrundmusik:
Ausschnitt aus: Ludwig van Beethoven, 4. Symphonie, 1. Satz, Allegro vivace.
Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache.
EMI CD 556521-2.)
1979 spielte der 13jährige erstmals in einem Orchester, denn in seinem Heimatort gab es dazu keine Gelegenheit. Dort war er der einzige Geiger weit und breit. Und er trat erstmals als Solist mit Orchester auf, mit einem Bach-Konzert.
"Zwischen 13 und 16 entdeckte ich diese ganze avantgardistische Rockmusik-Welt, den sogenannten "Art-Rock". Es begann mit Emerson, Lake & Palmer’s 'Trilogy'. Dann kamen King Crimson, Gentle Giant, Van der Graaf Generator dazu, und etwas später Henry Cow und die Canterbury-Szene. Das ist Teil meines musikalischen Gepäcks. Der kleine 'Bittern Storm Over Ulm' von Henry Cow zum Beispiel ist ab dem zweiten Takt ein wildes Verwirrspiel mit unseren Hörerwartungen. Ein normaler E-Dur-Akkord wird verzerrt. Dann kommen diese Fagotte, und eine elektrische Gitarre hämmert ihren Mißklang gegen das Metrum. Und wenn wir dann dasitzen und zufrieden lächeln bei der letzten, recht zivilisierten Kadenz, gehen sie ab und beenden das Stück mit einem hohen Saxophon-Schnörkel. Wären Monty Python in der Musik und nicht im Film tätig, so wäre so etwas ihr Job."
Henry Cow, aus dem Album 'Unrest' (1974): 'Bittern Storm Over Ulm'
(composed by Fred Frith).
Broadcast Records LP BC4.
 
1982 ging Ricardo Odriozola auf Anraten seines Lehrers Comesaña in die USA, wo er in Boston sein letztes Highschool-Jahr absolvierte und bei dem großenGeiger (und einstigen Studenten Carl Fleschs) Roman Totenberg studierte. Er spielte als Konzertmeister im Boston Youth Orchestra unter einem jungen Bernstein-Schüler und lernte das große Repertoire im Orchester kennen. Nach einem Jahr trat er in die Eastman School of Rochester ein, wo Zvi Zeitlin, der legendäre Interpret von Arnold Schönbergs Violinkonzert, der noch Kreisler und Huberman kannte, sein Lehrer wurde.
"Geigerisch und musikalisch lernte ich in den vier Jahren bei Zeitlin eine Menge. Wie spielst du einen Ton, eine Phrase? Ganz fundamental hat er mich gelehrt, wie man einen Ton beendet. Darüber bewußt zu sein und das zu verwirklichen ist wichtig für die Entwicklung des ganzen Menschen. Den Ton beenden heißt ihn vollenden, das Versprochene erfüllen. Und in gewisser Weise ist der Raum zwischen den Tönen wichtiger als die Töne selbst."
Mogens Christensen: Ausschnitt aus: 'Dreamless Fragments' (1994).
Ricardo Odriozola (Violine).
Point/Fenn Music CD 5116.
 
Sie hörten Ricardo Odriozola mit einem Ausschnitt aus 'Dreamless Fragments' von dem dänischen Komponisten Mogens Christensen. Odriozola hatte sich in den Jahren an der Eastman School of Rochester unter Zvi Zeitlins Anleitung zu einem herausragenden Geiger entwickelt. Zeitlins Angebot, sein Assistent zu werden und das Master’s Degree zu machen, schlug er aber aus, denn mittlerweile hatte er eine andere Liebschaft gefunden. Es zog ihn nach dem Studienabschluß 1987 nach Bergen. Im Sommer des Vorjahres war er einer Einladung eines Studienkollegen, des norwegischen Pianisten Einar Røttingen, nach Bergen gefolgt. Er fühlte sich sofort heimisch in der herrlichen Landschaft und mochte die Mentalität. Røttingen machte ihn mit der Musik von Harald Sæverud, dem wohl eigentümlichsten norwegischen Komponisten dieses Jahrhunderts, bekannt. Gemeinsam besuchten sie Sæverud, der schon ein sehr alter Mann war. In Bergen besorgte sich Odriozola außerdem eine Platte mit der Achten Symphonie von Allan Pettersson.
"Pettersson war ein "Big Bang" für mich. Er überwältigte mich, traf mich ins Mark. Und dann hörte ich seine 1970 entstandene Neunte Symphonie. Dieser erste Anlauf, diese Obsession: Das ist die unerträglichste Musik, die ich mir vorstellen kann. Es ist wirklich physische Qual."
Allan Pettersson: Ausschnitt aus: Symphonie Nr. 9 (1970).
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Alun Francis.
cpo/jpc CD 999231-2.
 
"Petterssons Musik beschreibt das weiteste Ausmaß an möglichem Ausdruck. Seine Sprache ist schmerzerfüllt und tief menschlich. Sie hat mich nachhaltig beeinflußt, zum Beispiel in 'Agony and Ecstasy' für Cello und Klavier, wo Elemente von Allan Pettersson und Peter Hammill eingewoben sind. Petterssons Lied 'Herren går på ängen' (Der Herr geht über die Wiesen) kommt aus einer anderen Welt. Es ist eine unendliche, zeitlose Musik. Trotz der Kürze und entwaffnenden Einfachheit hat dieses Lied mir nach all’ den Jahren noch immer nicht den Grund seiner musikalischen Lebenskraft enthüllt."
Allan Pettersson: 'Herren går på ängen'.
Margot Rödin (Sopran), Arnold Östman (Klavier).
Swedish Society Discofil/Disco-Center CD 1033.
 
Aus seiner spanischen Heimat ist es vor allem der Katalane Federico Mompou, dessen klingende Stille und Einsamkeit Odriozola anzieht.
"Mompous Musik ist essentiell katalanisch. Er hat ein äußerst verfeinertes Gehör für harmonische Farbwerte, und seine Musik schafft oft eine magische Atmosphäre, als wäre sie vor der Außenwelt geschützt. Seine 'Música callada' ist die Krönung seines Werks. Sie ist essentielle Musik, bar überflüssiger Gesten."
Hören Sie das 3. Stück aus dem 4. Buch von Federico Mompous 'Música callada', 'Moderato'. Es spielt Herbert Henck.
Federico Mompou, aus 'Música callada', 4. Buch: 3. Satz, Moderato.
Herbert Henck, Klavier.
ECM CD 445699-2.
 
Mehr und mehr faszinierte Odriozola in den letzten Jahren die im ursprünglichen Wortsinne fantastische Tonsprache des britischen Symphonikers Havergal Brian, von dessen 32 Symphonien die überwiegende Zahl im Alter von mehr als siebzig Jahren entstand.
"Brian ist extrem persönlich, er geht eigensinnige, unbegangene Wege. Das Großartige ist, daß die Musik geradezu aus ihm herauszubrechen scheint. Vor allem beherrscht er eine Kunst des Unerwarteten. Es ist bei ihm nahezu unmöglich, den Gang der Musik für mehr als einige wenige Takte vorauszuahnen. Dann nimmt es wieder eine Richtung, die nur seiner Eigenart unterworfen ist."
Havergal Brian: Anfang der Symphonie Nr. 1 'The Gothic' (1919-27), 1. Satz, Allegro assai.
Slowakische Philharmonie, Ondrej Lenard.
Marco Polo/Naxos CD 8.223280.
 

Sie hörten den Anfang von Havergal Brians 1927 vollendeter, monumentaler 'Gothic Symphony', die als "largest symphony" Eingang ins Guinness Book of Records fand. Doch nicht nur die Erfahrung entlegener symphonischer Welten prägte Ricardo Odriozolas eigenen Zugang zum kompositorischen Schaffen. In vielfältiger Weise tauchen in seinen Werken Elemente jenes "Art-Rock" auf, der seinem Drang nach Befreiung des Ausdrucks immer wieder ein atmosphärisches Refugium wurde. Wichtig war die kreative Verspieltheit und stilistische Flexibilität, der Sinn fürs Idyllische und Versponnene, den die Gruppen der Canterbury-Szene wie Hatfield & The North, National Health, Gilgamesh, Soft Machine, Matching Mole, Caravan oder Gong voller Enthusiasmus pflegten. Selbst die pure Musizierfreude der Incredible String Band, deren "professioneller Dilettantismus" haben ihn tief berührt. Am wichtigsten aber dürften für Odriozola bis heute zwei grundverschiedene Persönlichkeiten dieser illustren Szene sein: Peter Hammill, der die Geschicke der Band Van der Graaf Generator bestimmte, und Robert Fripp, Kopf und Herz der Gruppe King Crimson in ihren wechselhaften Geschicken.
"Die live aufgenommene Einleitung zu 'The Night Watch' ist von einer Klanglichkeit, die mir zu Herzen geht. Majestät und Naivität sind auf bewegende Weise kombiniert. Für einen Augenblick durchflutet hier wirkliche Musik durch die Luft."
King Crimson, aus dem Album 'Starless and Bible Black (1974): 'The Night Watch'
(written by Robert Fripp, John Wetton, Richard Palmer-James).
EG/Virgin CD 12.
 
Im Sommer 1988 nahm Odriozola an einem sechstägigen Kurs von Robert Fripp und dessen League of Crafty Guitarists teil. Dieses Erlebnis war von einschneidender Bedeutung.
"Wir kamen mit Gitarre und Plektrum. Es ging um systematische Meisterung der Technik von den Grundlagen an: Back to the beginning. Fripp sprach über die vier Stadien: Lehrling, Meister, Künstler und Genie; über die Unmöglichkeit, eine Stufe zu überspringen; über die Wahl, die man treffen muß: ªMusik oder Leben…´ – ªWillst Du nach Deiner Gewohnheit leben, oder möchtest Du Dich selbst erkennen im Dienst an der Musik?´ Das Wichtigste war ihm: Allen alten Ballast abwerfen, und alles, was dann bleibt, in den Dienst an der Musik geben. Die Idee der Stille war zentral: ªKein guter Klang ohne die rechte Stille.´ Er übertrug höchste Disziplin, in jeder Hinsicht. Und wenn er umherging, schien es, als hätte er kein Gewicht. Das Ganze war ein extrem subtiler Erziehungsprozeß, und mit dem Loswerden des Gepäcks stieg die Sensibilität für alles extrem an – wirklich für alles, für die Umgebung, für das Dasein im Raum, für die ganze Wahrnehmung."
Das folgende Stück von King Crimson, 'Providence', ist eine Gruppenimprovisation, die suggestiv bezeugt, zu welcher spontanen musikalischen Korrelation unterschiedlichster KLanggesten solche Disziplin und Sensibilität in glücklichen Momenten führen kann. Derart gestisch korreliertes Musizieren hat in Odriozolas Werk intensiven Niederschlag gefunden.
King Crimson, aus dem Album 'Red' (1974): Anfang von 'Providence'.
(David Cross, Violine; Robert Fripp, Gitarre; John Wetton, Baß; Bill Bruford, Schlagzeug)
EG/Virgin CD 15.
 
Neben der kühlen Magie Robert Fripps ist auch der Einfluß des Sängers und Songwriters Peter Hammill auf Odriozola von grundlegender Dimension.
"Ich kenne Hammills Werke wie meine Westentasche. Er ist ein ungeschliffener, rauher Musiker, ohne die geringste Glätte, ganz auf dem Boden. Er ist aufrichtig und nicht an den hübschen Annehmlichkeiten des Lebens interessiert. Die Art, wie er seine Stimme benutzt, einen Akzent macht, einen Ton hervorhebt – das kommt ganz aus dem Bauch. Als professioneller Musiker hat Peter Hammill auch deutliche Schwächen. Aber er hat eine musikalische Kultur, weiß viel über Musik. Es gibt ganz objektiv sehr interessante Stücke von ihm. Und er ist stets unverwechselbar. Ich denke, er will, daß seine Musik ganz nackt ist, direkt, schutz- und schonungslos. Und auf dieser existentiellen, körperhaften Seite finde ich Verbindungslinien zwischen ihm und Harald Sæverud, und gelegentlich zu Allan Pettersson. Hammills Ausdrucksbreite ist äußerst nuanciert."
Über den folgenden Song von Peter Hammills Gruppe Van der Graaf Generator, mit dem Titel 'Pilgrims', sagt Odriozola, er vereine Würde, Erwartung, Hoffnung und Mysterium.
Van der Graaf Generator, aus dem Album 'Still Life' (1976): Anfang von 'Pilgrims'
(written by Peter Hammill and David Jackson).
Charisma/Virgin CD 1116.
 
Ricardo Odriozola komponierte 1993 'Ashen Hours' für Blockflöte, Violine, Cello und Cembalo für das Euterpe Ensemble, in dem er selbst mitwirkt. Er hat dem Stück folgenden Kommentar beigegeben:
"Die Banalität, die die Massenmedien als akzeptierten Lebensstandard verkaufen – man möchte meinen, als ein Muster des Bösen schlechthin –, ist dabei, die Seele des heutigen Menschen zu zerstören. Einige beginnen vielleicht, zu glauben, daß ihnen das Leben auf diese Art gefällt, und sie identifizieren sich mit den Sachzwängen der Gesellschaft und des Marktes. Sie tauchen ab in eine Art Künstlichkeit, aber nur, um so noch stärker die Leere und grenzenlose Langeweile zu fühlen, wenn sie mit ihrem eigenen Selbst in der Einsamkeit ihrer eigenen Behausung konfrontiert werden. Dies sind die 'Ashen hours', die Peter Hammill in seinem Lied 'Modern' von 1973 beschreibt: "No one really knows what to do / and the city is a cage. / It traps in ashen hours and concrete towers, / imprisons in the social order." Doch mitten in alle Langeweile fliegt eine alte, unschuldige Fantasie der Kinderzeit herein. Die wenigen, die sich ihrer unmenschlichen Lebensbedingungen bewußt sind, werden diese fast vergessene Vision im Fluge fangen und voller Hoffnung ihren Weg zurück in die Fülle des wirklichen Lebens finden."
Ricardo Odriozola: 'Ashen Hours' (1993).
Euterpe Ensemble.
Horizon/Disco-Center CD 9301.
(Dauer: 8'49).
Das Euterpe-Ensemble spielte die 1993 komponierten 'Ashen Hours' von Ricardo Odriozola. Kaum war Odriozola 1987 nach Bergen übergesiedelt, wo er eine Stellung als Geigenprofessor am Konservatorium annahm, da kam er auch schon in intensiven Kontakt mit Harald Sæverud, dem großen alten Komponisten von neun Symphonien und einer Vielzahl hinreißender Klavierminiaturen. Dieser Kontakt, der bis zu Sæveruds Tod 1992 im Alter von 95 Jahren andauern sollte, erwies sich als die intensivste und wichtigste musikalische Inspiration in Odriozolas Leben.
"Sæverud war ein Mensch von hundertprozentiger Präsenz. Sie konnten seine Anwesenheit im Raum fühlen, auch wenn Sie ihn nicht sahen. Sein Gesicht offenbarte alles: die Melancholie, den wachen Humor, die Ernsthaftigkeit. Dieses Gesicht erzählte unglaublich viel, und es konnte in einer Sekunde vom Weinen zum Lachen übergehen. Wesentlich war sein unmittelbarer Kontakt mit der Natur, ihrer Rauheit im Großen, ihrer Schönheit im Kleinen. Da war viel Fels, Stein. Seine Gestik war sehr ruckartig und plötzlich. Er konnte Dinge sehen und hören, die andere nicht wahrnehmen. Er bestärkte mich in dem Gefühl, daß die Fantasie in gewisser Weise nicht weniger wirklich ist als die Realität. Er sprach mit Mäusen, und die Mäuse schauten ihm dabei in die Augen und blieben ganz ruhig da.
Sæveruds musikalische Quelle waren eigentlich Beethoven, Mozart, Haydn – die klassische Ästhetik. Seine Symphonik mag zunächst sehr komplex und schwierig scheinen. Aber Sæverud befaßte sich intensiv mit dem einzelnen Ton. Musik wuchs für ihn wie in der Natur aus einem Samenkorn. Alles ist bereits potentiell enthalten in dem kleinen Organismus. Der Ausgangspunkt entscheidet, wie das Stück sich selbst formt."
Der folgende kurze Ausschnitt aus Harald Sæveruds Siebenter Symphonie, 'Salme', ist für Odriozola ein "bleibendes Ideal echter, heiterer Schönheit".
Harald Sæverud, Ausschnitt aus 7. Symphonie op. 27 'Salme' (1944-45).
Philharmonisches Orchester Bergen, Dmitrij Kitajenko.
Simax/Disco-Center CD 3124.
 
Die andere, steinige, obsessive und abrupte Seite in Sæveruds Schaffen hören wir im dritten Satz, 'Allegro molto e ben marcato', aus dem 1975 vollendeten 2. Streichquartett op. 52. Es spielt das Hansa-Quartett, dessen Primarius Ricardo Odriozola ist.
Harald Sæverud, aus dem 2. Streichquartett op. 52 (1972-75): 2. Satz, Allegro molto e ben marcato.
Hansa-Quartett.
Simax/Disco-Center CD 1141.
 
Von Sæveruds Musikdenken nachhaltig geprägt, behaupten die Werke von Ricardo Odriozola ihre relative Eigenständigkeit im Kreuzfeuer der äußerst vielfältigen, verschiedenartigen Einflüsse, denen er sich öffnet, inklusive der heimischen spanisch-baskischen Idiomatik, die im folgenden Stück, dem ersten der vier Tänze für Violine und Violoncello, groteske Züge annimmt.
"Es hat mich immer gereizt, musikalisches Material mit Instrumenten zu präsentieren, für die es nicht idiomatisch ist. Insbesondere der Pasodoble ist nicht eine Art Tanz, die man mit einem Duo aus Geige und Cello in Verbindung bringen würde. Ich hatte 1988 das große Verlangen, etwas zu schreiben, das im Grunde den Pasodoble-Stil ad absurdum führt. So durchsetzte ich eine große Anzahl von Pasodoble-Klischees mit einer breiten Palette von Seltsamkeiten: freie Ausbrüche, eine Pseudo-Webern-Passage, kuhartige Glissandi, Pfeifen, ein Baßgang, der sich seinen Weg aus blauem Himmel bahnt, Fripp-artige Gitarrenfiguren. Wenn das Hauptthema wiederkehrt, stelle ich mir das Publikum eines Jazzkonzerts vor, das hysterisch applaudiert. Die Sympathie überträgt sich, ohne Vorbehalt, auf den – Stier. Ganz zum Schluß kann man seine Seele hören, wie sie den Körper verläßt und in den Stier-Himmel aufsteigt."
Besagtes absurde kleine Stück von Ricardo Odriozola, das sprunghaft divergierende musikalische Welten durcheilt und leichthin miteinander in Kollision bringt, ist die erste Nummer aus den 1987-89 entstandenen 'Four Dances' für Violine und Cello. Es heißt 'Rinocerontito – Pasodoble'. Zum Abschluß spielen Ricardo und Jane Odriozola.
Ricardo Odriozola, aus 'Four Dances' für Violine und Cello (1987-89): Tanz Nr. 1, 'Rinocerontito – Pasodoble'.
Ricardo Odriozola (Violine), Jane Odriozola (Cello).
Point/Fenn Music CD 5116.
(Dauer: 4'58).

Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wolf Loeckle);
Sprecher der Zitate: Gerd Udo Feller;
Produktion: 12.12.1997;
Erstsendung: 19.2.1997, 20:o5–21:oo;

Christoph Schlüren, im Dezember 1997