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»Laudi« (1992-93), 7. Satz »I pastori«:
Anfang
Jard van Nes (Mezzosopran), Niederländische Radio-Philharmonie,
David Porcelijn (1996)
Emergo CD EC 3933-2 (Vertrieb: Liebermann); LC 8414
Track 7, 0’00-5'31 (ausblenden!), (Dauer: 5'31)
"September; gehen wir. Es ist Zeit zu wandern."
In den letzten Jahren seines allzu kurzen Lebens fand der holländische
Komponist Tristan Keuris zu einer Musik vollkommener innerer Übereinstimmung
und zeitloser Aussage. Die Frage der Kunstrichter, was 'modern'
oder 'altmodisch' sei, tangierte seine schöpferischen Entscheidungen
schon lange nicht mehr. So entstand 1992-93 sein umfangreichstes
Werk »Laudi«, Lobpreisungen, eine siebenteilige Vertonung
von Gedichten Gabriele d’Annunzios von knapp vierzig Minuten
Dauer. Im Untertitel wird »Laudi« als 'Symphonie für
Mezzosopran, Bariton, zwei gemischte Chöre und Orchester' bezeichnet.
Keuris’ ganzes Streben ging hin zum Organischen, dahin, symphonisch
aus den aufeinander bezogenen kontrastierenden Teilen einen lebendigen
Gesamtzusammenhang zu gewinnen. Der abschließende Teil von
»Laudi«, »I Pastori«, beschwört den
Herbst. Für Keuris war es bereits der Spätherbst des Lebens.
Zwei Jahre später, am 15. Dezember 1996, starb er im Alter
von fünfzig Jahren in Amsterdam an Krebs.
Geboren am 3. Oktober 1946 in Amersfoort, hatte er als Jugendlicher
Kompositionsunterricht bei Jan van Vlijmen genommen, der damals
ein großer Bewunderer Karlheinz Stockhausens war. Im 15. Lebensjahr
kam er an das Konservatorium in Utrecht, wo er bis zu seinem Abschluß
1969 bei Ton de Leeuw studierte. Der musikhistorisch sehr beschlagene
de Leeuw war geprägt von Strawinsky, Varèse und Messiaen
und arbeitete intensiv mit exotischen Rhythmen und Modi. Keuris
bewies bald, daß er sich keinen ästhetischen Prämissen
beugen wollte. Seine Musik war einerseits stets von der natürlichen
Energie lebendigen Musizierens durchpulst, andererseits interessierten
ihn unwillkürlich neue Lösungen. 1970 schrieb er eine
Klaviersonate, die seine sprühende Begabung dokumentiert. Sie
hören René Eckhardt mit einem kurzen Ausschnitt.
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Sonate für Klavier (1970): kurzer Ausschnitt
René Eckhardt (Klavier; Mai 2000)
NM Classics NM Extra 98019 'Tribute 2000' (Vertrieb: MusikWelt)
Track 14, 4'23-4'58 (schnell ein- und wegblenden!), (Dauer: 0'35)
Schnell erkannte man in Tristan Keuris ein außergewöhnliches
Talent. Seinen Durchbruch konnte er mit der 1974 komponierten 'Sinfonia
per orchestra' feiern, einem einsätzigen, zwölfminütigen,
frischen und lichten Werk, in welchem er auf raffinierte Weise die
Gruppen des Orchesters schichtet und in ein vitales Wechselspiel
bringt. Auch ist sehr beeindruckend, wie er von der Pause als dramaturgischem
Mittel Gebrauch macht. Es folgt der Anfang der 'Sinfonia'.
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Sinfonia per orchestra (1974): Anfang
Rotterdamer Philharmoniker, Edo de Waart
Donemus CV 30 (Vertrieb: Peer Music)
Track 1, 0'01-3'32 (schnell wegblenden!), (Dauer: 3'31)
Natürlich kann ein so kurzes Fragment nur eine sehr oberflächliche
Ahnung von der Musik vermitteln, doch ist dies hier eher möglich
als bei den späteren Werken von Tristan Keuris, denn noch ist
das formale Gefüge relativ locker. Die 'Sinfonia' wurde bald
vielerorts gespielt, und es war klar, daß Keuris über
ein enormes kompositorisches Potential verfügt, welches er
in den folgenden Jahren konsequent entwickelte. Er perfektionierte
seine Technik systematisch und versuchte, die Form immer bezwingender
zu gestalten. Auch in groß disponierten Formen ging der spontane,
oft fast improvisatorische Gestus nicht verloren. Gegen Mitte der
achtziger Jahre fand Tristan Keuris zu einer stilistisch durchweg
persönlichen Klangsprache, die sich in großartigen, weit
ausschwingenden Werken wie den Variationen für Streichorchester,
dem Zweiten Streichquartett, dem Konzert für Saxophonquartett
und Orchester oder dem Klarinettenquintett mitteilte. Flammende
Leidenschaftlichkeit, souveräne Beherrschung der Orchestration,
immer vollendetere Balance der Form, vital pulsierende Rhythmik,
farbenreich leuchtende, moll-lastige, modal geprägte Harmonik
und klar konturierte, stark von Sekund- und Septimintervallen getragene
Melodik zwischen ekstatischem Flackern und sehnender Innigkeit.
Bis 1988 schrieb Keuris ausschließlich Instrumentalmusik,
die — hierin Ravel und Prokofjev vergleichbar — den
pianistischen Ursprung nicht verleugnet, aber mit traumwandlerischer
idiomatischer Sicherheit der Natur der Instrumente eingeschrieben
ist.
Nun wandte er sich endlich auch dem Vokalschaffen zu, das in den
sieben verbleibenden Jahren eine gleichberechtigte Rolle einnehmen
sollte. Und es war auf Anhieb so, als hätte seine Musik nur
darauf gewartet, mit der menschlichen Stimme in Verbindung zu treten.
Es gelang ihm so etwas wie eine Wiederbelebung der frühbarocken
Madrigalkunst mit den Mitteln des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Das erste Werk für Stimmen — und in seiner blockhaften
Größe das gewaltigste aus seiner Feder — sollte
eine Vertonung des Gedichts »To Brooklyn Bridge« von
Hart Crane sein, eine Glorifizierung der herrlichen Brücke
von Manhattan nach Brooklyn, und Keuris komponierte es als eine
tönende Überquerung des East River, im weißen Nebel
beginnend und endend. Wir begeben uns nun mitten hinein in das hymnische
Drama, welches für 24 Stimmen und ein scharf konturiertes Ensemble
aus 4 Klarinetten, Saxophonquartett, 2 Klavieren, 2 Harfen und 3
Kontrabässen gesetzt ist — Keuris wollte ein Ensemble,
das klingt "wie ein großes Orchester". Es singen
Mitglieder des Niederländischen Kammerchors. Die Leitung hat
Anne Manson.
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»To Brooklyn Bridge« für 24 Stimmen und Ensemble
(1988): Ausschnitt
Niederländischer Kammerchor, Residentie Orkest Den Haag, Aurelia-Saxophonquartett,
Anne Manson (September 1995)
Emergo CD EC 3939-2 (Vertrieb: Liebermann); LC 8414
Track 1, (einblenden!) 7'49-15'12 (schnell wegblenden!), (Dauer:
7'24)
Nach der imposanten Vertonung von Hart
Cranes Gedicht »To Brooklyn Bridge«, woraus sie einen
Ausschnitt hörten, schrieb Tristan Keuris weitere substantielle
Vokalkompositionen wie Drei Michelangelo-Lieder für Mezzosopran
und Orchester, »L’infinito« auf Texte von Giacomo
Leopardi für 5 Stimmen und Ensemble, und die Vokalsymphonie
»Laudi«, die in der von Mahler und Zemlinsky begründeten
Gattung neue Wege beschreitet. Kammermusik schrieb er in den letzten
Jahren weniger, doch entstanden 1990 das Blockflötenquartett
»Passeggiate« und die »Canzone« für
Altsaxophon solo. Letztere zeigt, in der phänomenalen Darbietung
des führenden klassischen Saxophonisten unserer Zeit, John-Edward
Kelly, in exemplarischer Weise Tristan Keuris’ melodische
Meisterschaft. Er verstand es wie ganz wenige, mit einem Minimum
an Mitteln ein Maximum an Substanz zu vermitteln.
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»Canzone« für Altsaxophon solo (1991)
John-Edward Kelly (Altsaxophon; Dezember 1994)
col legno CD WWE 31891 (Vertrieb: harmonia mundi); LC 7989
Track 6, (Dauer: 6'45)
Die »Canzone« für Altsaxophon solo von Tristan
Keuris spielte John-Edward Kelly. Keuris’ letzte Schaffenszeit
ist geprägt von einem unausgesetzten Streben nach letzter Vollendung.
Sein Entdeckertum wandte sich vor allem der inneren Welt zu, das
Experiment als sonoristische Arena interessierte ihn gar nicht mehr.
Er sprach davon, wieviel höher das kompositorische Können
in früheren Generationen, vor der Entdeckung tonsetzerischer
Patentmethoden, angesiedelt war. Die Harmonik, die Klangwelt der
Akkorde, hatte für ihn eine uninterpretable Konturiertheit,
die er in faßlichen Worten umschreiben konnte. Er hatte eine
umfassende Meisterschaft erreicht, jene Vogelperspektive in Hinsicht
auf alle musikalischen Details, die ihm seit seiner Jugend vorgeschwebt
hatte. Die Vokalsymphonie »Laudi«, entstanden 1992-93,
ist eines der reifen Hauptwerke von Tristan Keuris. Es folgt daraus
der stürmische vierte Satz, »Terra, vale!«, mit
Jard van Nes (Mezzosopran), David Pittman-Jennings (Bariton), dem
Niederländischen Rundfunk-Chor und der Niederländischen
Radio-Philharmonie unter David Porcelijn.
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»Laudi« (1992/93), 4. Satz »Terra, vale!«
Jard van Nes (Mezzosopran), David Pittman-Jennings (Bariton), Niederländischer
Radio-Chor und Radio-Philharmonie, David Porcelijn (Mai 1996)
Emergo CD 3933-2 (Vertrieb: Liebermann); LC 8414
Track 4 (Dauer: 6'10)
Die 1992-93 komponierte Vokalsymphonie »Laudi«, aus
der soeben der vierte Satz, »Terra, vale!«, erklang,
ist das umfangreichste Werk aus der späten Schaffenszeit des
holländischen Komponisten Tristan Keuris. Aus seiner letzten
Kammermusik, dem 1994 geschriebenen Streichsextett, entstand im
Jahr darauf die »Symphonie in D«, die ich für den
Gipfelpunkt seines orchestralen Schaffens halte. Ein eindeutiges
Bekenntnis zur symphonischen Überlieferung, eine Symphonie
classique des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in der sich sogar einige
sehr deutliche Anklänge an Sergej Prokofjev finden —
eine Symphonie für klassisches Orchester im Sinne Beethovens
und Schuberts. Man könnte Keuris in dem Sinne, in dem von den
'Klassikern der Moderne' die Rede ist, einen 'Klassiker der Postmoderne'
nennen, wäre mit letzterem Begriff nicht eine solche Beliebigkeit
und Orientierungslosigkeit verbunden. Denn Tristan Keuris’
Musik ist existentiell sinnhaft. Hören Sie nun, gespielt vom
Niederländischen Radio-Kammerorchester unter der Leitung von
David Porcelijn, den zweiten und dritten Satz, 'Molto tranquillo'
und 'Scherzo', aus der 1995 komponierten »Symphonie in D«
von Tristan Keuris.
7 + 8
»Symphonie in D«, 2. Satz 'Molto tranquillo' & 3.
Satz 'Scherzo'
Niederländisches Radio-Kammerorchester, David Porcelijn (September
1995)
Emergo CD EC 3940-2 (Vertrieb: Liebermann); LC 8414
Tracks 5 & 6 (Dauer: 8'24 + 3'24)
Hört man Tristan Keuris’ »Symphonie in D«,
aus der unter der Leitung von David Porcelijn die beiden Mittelsätze
erklangen, so muß die Frage gestellt werden, welche Bedeutung
der Begriff der 'Moderne' tatsächlich in der Musik haben kann.
Keuris’ Musik ist jedenfalls zeitlos, auch in den in tonaler
Inbrunst erstrahlenden Intonationen, die immer wieder auch in sehr
lebhaften Sätzen Inseln der Entspannung oder Momente mystischer
Verkündigung bilden. Es mag viel Introversion in seiner Musik
liegen, aber wo viel Schatten ist, kann auch viel Licht sein. 1995
schrieb der todgeweihte Komponist sechs Orchesterpräludien
mit dem Titel »Arcade«, die tragende Elemente der Architektur
symbolisieren. Zum Abschluß ist der brillante Schlußsatz
aus »Arcade« zu hören: »Cornice«, gespielt
von der Niederländischen Radio-Philharmonie unter David Porcelijn.
Im Jahr nach dieser Komposition starb Tristan Keuris. Wie bei so
manchem musikalischen Genie lief die Uhr ab, als das, was uns als
Vollendung erscheint, erreicht war. Wohin wohl der Weg von Tristan
Keuris noch geführt hätte?
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»Arcade«, 6 Preludes for orchestra (1995): 6. Satz »Cornice«
Niederländische Radio-Philharmonie, David Porcelijn (Mai 1996)
Emergo CD EC 3933-2 (Vertrieb: Liebermann); LC 8414
Track 13 (Dauer: 2'13)
Zum Abschluß des Portraits des holländischen Komponisten
Tristan Keuris spielte die Niederländische Radio-Philharmonie
unter David Porcelijn das Finale aus den sechs Orchesterpräludien
»Arcade« von 1995.
Sendemanuskript für BR 2
(Redaktion: Wilfried Hiller)
Produktion: 12.3.2003
Erstsendung: 19.3..2003, 23.05-24.00 Uhr, "Mittwochsthema"
Christoph Schlüren 3/2003 |