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Botanische Formprinzipien

Vagn Holmboes letztes Werk uraufgeführt

Drei der großen alten Männer der nordischen Musik sind in den letzten zwei Monaten gestorben: der Schwede Åke Hermanson am 8. August, der Däne Vagn Holmboe am 1. September und der Finne Joonas Kokkonen am 2. Oktober.
Hermanson, Jahrgang 1923 und Schüler des ersten schwedischen Modernisten Hilding Rosenberg, hinterläßt ein Minimum an hochverdichteten, schattenhaft kontrapunktischen Werken von gespannter Expressivität, darunter großorchestrale Auftürmungen wie Ultima, Utopia oder die erste Symphonie. In den letzten Jahren lebte er völlig zurückgezogen und war aufgrund schwerer Krankheit zum schöpferischen Verstummen gezwungen. Der 1921 geborene Joonas Kokkonen galt lange als Finnlands führender Symphoniker in neuerer Zeit. Seine Formen waren von organischem Motivdenken, klassizistischem Maßhalten und enthaltsam-strukturbewußter Klanglichkeit geprägt. Doch hat Kokkonen, stolzer Besitzer eines von Alvar Aalto erbauten Hauses in Form eines Konzertflügels, mit Die letzten Versuchungen auch die populärste finnische Oper geschrieben. Zu seinen Schülern, denen er vorbildlich den Weg in die kompositorische Freiheit wies, zählt mit Pehr Henrik Nordgren der wohl eigentümlichste Tonschöpfer im heutigen Finnland.
Vagn Holmboe (geb. 1909) war der große alte Mann der dänischen Musik und Lehrer des prominentesten lebenden Komponisten des Landes, Per Nørgård, dem er in den fünfziger Jahren seine metamorphosische Denkweise nahebrachte. Holmboe hatte bei dem Palestrina-Spezialisten Knud Jeppesen und dem inzwischen 97jährigen Finn Høffding studiert und hielt zeitlebens die Ideale von strengem Satz und spielerischem Neoklassizismus hoch. Freilich fern jeglicher Oberflächlichkeiten - als kompositionsethisches Vorbild ist Bartók anzusehen, und immer wieder scheint durch die glänzend beherrschte Faktur auch eine Wildheit und naturhafte Emotionalität durch, die an Bartók oder Sibelius erinnern. Seine Formprinzipien "botanische" zu nennen, liegt für den wachen Hörer nahe, auch wenn er nicht weiß, daß Holmboe auf seinem Grund im Norden Seelands in den letzten 55 Jahren einen ganzen Wald großgezogen hat, in dem er jeden Baum selbst pflanzte. Als Orchestrator strebte er in dreizehn Symphonien weniger nach glanzvoller Farbigkeit als nach unerbittlicher Durchsetzung der linearen Substanz, nach Verwirklichung der themenimmanenten Triebkräfte. So hat sich das vielstimmige Wesen dieses Komponisten vielleicht noch reiner in 21 Streichquartetten ausgesprochen. Zuletzt war Holmboes physische Kraft sehr reduziert, und als er letztes Jahr vom Wunsch des renommierten Ostbottnischen Kammerorchesters hörte, ein neues Werk von ihm zu spielen, beschloß er, von den begonnenen Projekten einer 14. Symphonie und eines weiteren Streichquartetts abzusehen.

Er vereinigte vielmehr das Material der angefangenen Werke zu einem neuen Kontext, und so entstand seine letzte vollendete Komposition, das Concerto für Streichquartett und Streichorchester op. 195, das nun am 5. Oktober im finnischen Kokkola unter Leitung von Juha Kangas uraufgeführt wurde. Das Concerto setzt Holmboes Tendenz zur Konzentration auf das strukturell Wesentliche und zur formalen Verknappung konsequent fort. Es umfaßt vier konzentriert und markant gearbeitete Sätze, die vor allem den Quartettsolisten mit teils widerhakigem Figurenwerk einiges abverlangen. Bei Folgeaufführungen ist es ratsam, ein gewachsenes Streichquartett für die Concertino-Aufgaben zu engagieren, das dem Ensembleklang mit geschlossenem Klangbild gegenübertreten kann. Vom Orchester wird ein leichter, federnder Klang verlangt, der in unprätentiösem Verhältnis zur Tiefe des thematischen Gedankenguts steht. Holmboes Sprache geht stets von Linien aus, die freitonal zueinander bezogene harmonische Felder durchlaufen. Es gibt keine Übertreibungen, keine sentimentalen Schlacken. Jede Note ist bewußt gesetzt, und nie versuchte Holmboe, sein Material zu vergewaltigen. Man kann sein Komponieren "ökonomisch" nennen, sofern man darunter nicht "trocken" versteht - es ist ein letztes Werk, das unbeeindruckt auf einem persönlichen Weg entstand, der längst nicht mehr äußerlicher Bestätigung bedurfte. Mit dem grandiosen Ensemble möchte man mehr von Holmboe hören, so den aus vier Streichersymphonien bestehenden Zyklus Kairos.
Eine weitere Uraufführung stand am Anfang des Konzerts: ein Adagio für Streicher vom zuletzt sehr erfolgreichen Letten Peteris Vasks, revidierter langsamer Satz aus dem dritten Streichquartett. Die raffende Überarbeitung hat den auf ein Maximum an Simplizität reduzierten chromatischen Bögen gutgetan. Vasks' Stimme ist von nicht nachlassender Eindringlichkeit und transportierte die Hörer für einige Minuten in einen Zustand gelassener Trauer. Krönender Abschluß des Auftritts war Mendelssohns neunte Streichersymphonie in c. Die sinnfällige Artikulation, die Verve, die jeden Moment durchdringende Gegenwärtigkeit zeugen von einer Kontinuität enthusiastischen Musikantentums, wie das nur an wenigen Orten anzutreffen ist. Ein solches Konzert, für englische und amerikanische Berichterstatter ein wichtiges Ereignis, firmiert freilich in Mitteleuropa vorerst weiterhin als "Geheimtip".
Christoph Schlüren

(Unveröffentlichte Rezension vom Oktober 1996)