Musikgeschichte wird, vor allem in
unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends,
Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen
überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht
werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener
Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen"
gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang
und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie
begründet. Er war zwischen Carl Nielsen und Per Nørgård
Dänemarks eminentester Tonsetzer und huldigte dem 'metamorphischen'
Formideal:
Vagn Holmboe (1909-96)
Metamorphische Sinfonien
(Anspieltip: Sinfonie Nr. 11)
"In ihrer reinsten Form sind die Freude über Musik und
ihr Erlebnis direkt und unmittelbar; sie können als Ausdruck
eines vollendeten Ganzen erfahren werden und ein Gefühl für
kosmische Zusammenhänge wecken. Sie können eine seelische
Erschütterung hervorrufen und in glücklichen Augenblicken
eine Erhebung oder Leichtigkeit der Seele schaffen, die den Zuhörer
über das Alltagsbewußtsein hinausführen. Hier kann
nicht die Rede sein von Flucht vor äußeren Realitäten,
von passivem Vergessen, sondern von einem momentanen Zustand, der
unabhängig von der chronologischen Zeit die Seele aktiviert,
einem Zustand, der vom Menschen als eine unmittelbare Öffnung
zu einem universalen Bewußtsein empfunden werden kann
Entscheidend ist, daß ein Gefühl der Identität zwischen
dem schaffenden und dem empfangenden Menschen entsteht, indem der
Zuhörer die Musik so erlebt, wie es war, als sie geschaffen
worden ist, und er dadurch eine solche Einsicht wie der Komponist
erhält in den musikalischen und psychischen Verlauf, in die
Beziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzen und in die zeitliche
Dimension, in der die Musik entfaltet wird."
Vagn Holmboe in 'Das Unerklärliche'
Als Denker über Musik war Vagn Holmboe, Dänemarks bedeutendster
Sinfoniker nach Carl Nielsen und vor seinem Schüler Per Nørgård,
ein nicht weniger bemerkenswerter Mensch als als Komponist. Im Oktober
1994 traf ich ihn in seinem ländlichen Heim in Ramløse
im Norden Seelands, wo er mit seiner Frau Meta der originellen
bildenden Künstlerin und Fotografin faszinierender Eismotive,
die die Covers der Holmboe-Edition bei BIS zieren in einer
Umgebung von mehreren tausend in 55 gemeinsamen Jahren selbstgepflanzten
Bäumen lebte. Er war sehr liebenswürdig und müde
und brachte außer für sein Schaffen nicht mehr viel Kraft
auf. Da er nicht sehr gesund aussah, wollte er nicht fotografiert
werden. Am 1. März 1996 sah ich ihn wieder bei der Uraufführung
seiner 13. und letzten Sinfonie in Kopenhagen, zu der Kenner und
Bewunderer aus aller Welt angereist waren. Genau ein halbes Jahr
später, am 1. September, war er tot. Holmboe war eine unspektakuläre,
extrem ernsthafte Persönlichkeit mit verborgenem Humor. Geboren
am 20. Dezember 1909 im jütländischen Horsens, entschloß
er sich relativ früh, Musiker zu werden und begann, dank freundlicher
Empfehlung Carl Nielsens, 1926 mit dem Kompositionsstudium am Kopenhagener
Konservatorium, das er 1929 abschloß. Seine Lehrer waren der
Palestrina-Experte Knud Jeppesen und der kompositorische Vordenker
der Neuen Sachlichkeit in Dänemark, Finn Høffding. 1930
ging er nach Berlin, wo er kurzfristig von Ernst Toch unterwiesen
wurde und Meta Graf kennenlernte, die er 1933 in ihrer rumänischen
Heimat heiratete. So kam auch auf ganz natürliche Weise sein
intensives Interesse an südosteuropäischer Folklore und
der Musik Béla Bartóks zustande. Bis 1932 hatte er
über 75 Werke komponiert, die er später als Vorstadium
jenes Schaffens ansah, das nun beginnen sollte und Gültigkeit
beanspruchen durfte. Seinen Durchbruch hatte Holmboe 1939, als er
mit der 2. Sinfonie den skandinavischen Wettbewerb der Königlichen
Kapelle Kopenhagen gewann. Schlagartig war er ein begehrter Mann,
erhielt Aufträge und wurde zum Hauptrepräsentanten dänischer
neuer Musik mit starker Ausstrahlung auf die nordischen Nachbarn.
Zu jener Zeit war seine Musik, bei aller Eigenheit, teilweise noch
hörbar geprägt von Strawinskij (vor allem in der an die
Psalmensinfonie angelehnten 4. Sinfonie mit Chor, der 'Sinfonia
Sacra' von 1941 auf eigene, ins Lateinische übersetzte Zeilen),
dem immens bewunderten Bartók und unbewußt auch von
Nielsen. Mit der 5. Sinfonie errang Holmboe 1944 größere
Eigenständigkeit, indem er seine Idee der Form als Metamorphose-Prinzip
verfolgte, das er noch weit ausgereifter und unabhängiger in
der 1947 entstandenen 6. Sinfonie in zwei mächtigen Sätzen
(hierin Nielsens Fünfter vergleichbar) vertiefte. In der 7.
Sinfonie fand er 1950 zu einer auch im groben Aufriß völlig
neuen Formgestalt mit vier durch drei atmosphärisch verhaltene
Interludien zu einem einzigen Satz verbundenen Binnensätzen.
Die gewaltige, nordisch herbe Achte, ein Jahr später entstanden,
ist hingegen wieder klassisch viersätzig.
Das Metamorphose-Prinzip war Holmboe innerliches Bedürfnis,
formbewußte Konsequenz modaler Harmonik, der Betonung des
Linearen, der zentralen Bedeutung organisch-prägnanter Motivik.
Anders als bei Nielsen, der die Möglichkeiten der Dur-Moll-Tonalität
ein letztes Mal ausschöpfte wie kein Komponist je zuvor, damit
eine berstende Spannung, einen kadenzierenden Sog ohnegleichen erzeugte
und folgerichtig den Themendualismus, das Sonatenprinzip, in der
Nachfolge Beethovens auf die Spitze trieb, ist Holmboes in harmonischer
Hinsicht eher eintönige Tonsprache mit ihrem Hang zum unentschieden
plagalen statt dominantischen Kadenzieren tendenziell monothematisch
veranlagt die ganze Mannigfaltigkeit wird aus einer Keimzelle
gewonnen, deren Entstehungsprozeß das Werk eröffnet:
"Die Metamorphose gründet in einem Prozeß, der eine Sache
in eine andere verwandelt, ohne daß sie ihre Identität,
ihre grundlegenden Charakterzüge verlöre. Metamorphische
Musik ist daher natürlicherweise einheitlich geprägt,
was unter anderem bedeutet, daß Kontraste wie stark
sie auch sein mögen immer aus derselben materiellen
Substanz geschaffen sind, und diese Kontraste können tatsächlich
nur komplementär und nicht dualistisch sein."
Neben den großen Sinfonien schrieb Holmboe auch 13 Kammerkonzerte
und weitere Solokonzerte, die divertimentohafter gefügt sind
und die Freude am idiomatischen Spiel und virtuosen Wettstreit in
den Vordergrund stellen. Seine Chormusik, die in dem zeitlich weitverstreuten,
biblischen a-cappella-Zyklus des 'Liber canticorum' gipfelt, ist
von bohrendem Ernst und keuscher Sanglichkeit gezeichnet. Von zehn
Frühwerken abgesehen, schrieb er ab den vierziger Jahren 20
Streichquartette, die in intimer, aufs erste Hinhören oft spröde
erscheinender Weise die Biographie seiner 'metamorphisch'-organischen,
dem Ideal einer absoluten Musik in reinster Weise huldigenden Tonwelt
schreiben.
Die 9. Sinfonie entstand 16 Jahre nach der 8. dazischen liegen
eine monolithische 'Sinfonia in memoriam' und drei imposant dichte
'Sinfonische Metamorphosen' und knüpfte mit ihren zwei
verbindenden Intermezzi an die 7. an, doch ist die zuvor oft massive
und in den kontrapunktischen Kräfteballungen unausgewogene
Instrumentation nunmehr lichter, farben- und nuancenreicher, auch
individualistischer geworden wenngleich eine gewisse Askese,
ja Schmucklosigkeit, immer Holmboe eigentümlich bleiben sollte.
Die letzten vier Sinfonien, komponiert zwischen 1970 und 1994, liegen
vollkommen jenseits aller zeitlichen Trends und markieren einen
so hohen Grad an kreativer Selbstfindung, an Stimmigkeit, an Beherrschung
der Mittel und Erfindungsreichtum innerhalb des 'metamorphisch'-elastischen
Rahmens, daß keine von ihnen über die anderen gestellt
werden sollte. Das Metamorphose-Prinzip kann höchst Überraschendes
zeugen, so in der Zehnten das Dies irae-Motiv, das den ersten Satz
unerbittlicht beendet und am Schluß nochmals auftaucht, oder
die BACH-Reminiszenz der Trompete am Beginn der in ihrer scheinbar
lakonisch-sachlichen Haltung so unendlich vielschichtigen 13. Sinfonie.
Holmboes uvre ist, ähnlich demjenigen des mit ihm leidenschaftlich
sympathisierenden englischen Sinfonikers Robert Simpson, von zeitloser
Qualität, die bei aller unverkennbaren Zeitgenossenschaft aus
den Zeitläufen herausgefallen zu sein scheint und zumal
in Mitteleuropa! erst von einer künftigen Generation
in ihrem wahren Wert zu entdecken sein wird.
Christoph Schlüren
(Ungekürztes Manuskript eines 'Kleinen Lauschangriffs' für
Klassik Heute)
Diskographie:
Sinfonien Nr. 1-13, Sinfonia in memoriam op. 65;
Århus Sinfonieorchester, Owain Arwel Hughes
BIS 6CD 843/846 (Vertrieb: Klassik-Center)
(alle 6 CDs auch einzeln erhältlich)
4 Symphonische Metamorphosen: Epitaph op. 68, Monolith op. 76, Epilog
op. 80, Tempo variabile op. 108
Aalborg Sinfonieorchester, Owain Arwel Hughes
BIS CD 852
Trompetenkonzert op. 44, Posaunenkonzert op. 52, Tubakonzert op.
127 etc.
Håkan Hardenberger (Trompete), Christian Lindberg (Posaune),
Jens Bjørn-Larsen (Tuba), Aalborg SO, O. A. Hughes
BIS CD 802
Blockflötenkonzert op. 122, Flötenkonzerte op. 126 und
op. 147
Dan Laurin (Blockflöte), Manuela Wiesler (Flöte), Aalborg
SO, O. A. Hughes
BIS CD 911
Streichquartette Nr. 1-15 in fünf Folgen:
CD 9203 (Nr. 1, 3, 4), CD 8.224026 (Nr. 2, 5, 6), 8.224973 (Nr.
7-9), 8.224101 (Nr. 10-12), 8. 224127 (Nr. 13-15);
Kontra Quartett
Dacapo (Vertrieb: Naxos)
Kammerkonzerte Nr. 1-13 in vier Folgen:
CD 8.224038 (Nr. 1-3), 8.224063 (Nr. 4-6), 8.224086 (Nr. 7-9), 8.
224087 (Nr. 10-13)
Konzertorchester und Sinfonietta des Dänischen Rundfunks, Hannu
Koivula
Dacapo
Preludes für Sinfonietta, Folge 1
Athelas Sinfonietta, Giordano Bellincampi
Dacapo 8.224123
Cellokonzert op. 120, Quintett für Blechbläser op. 79,
Triade für Trompete und Orgel etc.
Erling Bløndal Bengtsson (Cello), Edward Tarr (Trompete),
Elisabeth Westenholz (Orgel), Swedish Brass Quintet, Dänisches
RSO, János Ferncsik
BIS CD 78
Werke für Gitarre solo: Sonaten op. 141 und op. 142, 5 Intermezzi
op. 149
Maria Kämmerling
Paula PACD 30 (Vertrieb: Klassik-Center)
Liber canticorum für Chor a cappella
diverse dänische Chöre
Danica DCD 8209/11 (Vertrieb: Fenn Music Service)
Werke für Chor a cappella
Sokkelund Sangkor, Morten Schuldt-Jensen
Dacapo CD 9204
Werke für Chor a cappella
Sct. Peders Konzertchor, Karsten Blond
Paula PACD 113
(Stand 2000)
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