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Ferruccio Busoni – Genie und Polyvalenz 

Erster Abschnitt der Introduction des dritten Satzes 'Pezzo serioso'
aus dem Klavierkonzert op. 39 (1902-04)

Garrick Ohlsson (Klavier), Cleveland Orchestra, Christoph von Dohnányi

Telarc/in-akustik CD 80207 (oder: 82012) 

"Ich sah ein neues Geschlecht (Thier oder Mensch ist nicht zu entscheiden); es war klein, nicht größer als eine Eichkatze. Sie hatten Eidechsenleiber mit doppelt so langem fuchsähnlichem Schwanz. Vom Kopfe ist mir nichts mehr deutlich, als daß er einen klugen, menschlichen Ausdruck hatte.
Es war ein großer Saal. Für diese Geschöpfe groß genug, daß sie – wie im Freien – sich darin bewegen und in Kutschen fahren konnten. Die Kutschen waren sehr elegant, sogenannte Galakutschen und fuhren wie in einem Corso oder einer Procession geordnet in der Reihe. Es war wie eine große Feier. Die Geschöpfe zeigten im Ceremoniell, im Betragen eine große, alte Cultur.
Ich sprach mit einigen von ihnen und frug, warum ich sie zum ersten Mal sähe und nie von ihnen erwähnen gehört?
Man sagte mir, daß nur derjenige, der reinen Herzens geworden, sie erblicken könnte. So hätte sie das gläubige und naive Mittelalter gut gekannt und mit ihnen im Verkehr gestanden. (Jetzt erinnerte ich mich auch, wieviel im Mittelalter von Kobolden, Elementargeistern u.s.w. die Rede gewesen). Das raffinirte 18. Jahrhundert hätte sie geleugnet und infolgedessen auch wirklich nicht mehr gesehen.
Aber (sagte ich), warum will San Francesco d’Assisi, der doch gewiß reinen Herzens gewesen, nichts von ihnen wissen?
Man antwortete: San Francesco d’Assisi war gewiß reinen Herzens und hat sie gesehen; aber er hat das Gesicht für eine Versuchung des Teufels gehalten und seine Wirklichkeit geleugnet. –
Das war der Traum. – …"
 
Rondo Arlecchinesco op. 43 (1915);
Robert Wörle (Tenor), Radio-Symphonieorchester Berlin, Gerd Albrecht;
Capriccio/EMI CD 10479;
 
"Gestern, mitten im großen "Traffic" der Automobil-Omnibusse ging friedlich und schuldlos mein lieber Vorsehungs-Esel durch die Shaftesbury-Ave. – Alle Wagen mußten um ihn einen Bogen machen, da er langsamer schritt als sie. Da hob sich mein dummes Herz. – …"
Ferruccio Busonis 'Rondo Arlecchinesco' von 1915, Teil des 1917 vollendeten theatralischen Capriccio 'Arlecchino', spielte das Radio-Symphonieorchester Berlin unter Gerd Albrecht.
"Im buntgeflickten Gewande / ein geschmeidiger Leib / ein kecker und kluger Geist… –. Die Idee zum 'Arlecchino' gab mir die meisterhafte Darstellung eines italienischen Schauspielers…, der die alte Commedia dell’Arte wieder einzuführen versuchte und in dieser die Rolle meines Helden überlegen sprach und spielte…
Vorgeworfen wird mir im 'Arlecchino', daß er höhnisch und unmenschlich sei; indessen ist diese Schöpfung aus dem ganz gegensätzlichen Drang hervor entstanden: aus dem Mitleid mit den Menschen, die es sich einander schwerer machen, als es sein sollte und könnte: durch Egoismus, durch eingefleischte Vorurteile, durch die dem Gefühle entgegengehaltene Form! Deswegen kommt man im 'Arlecchino' (und diese Absicht ist erreicht) nur zu einem schmerzhaften Lachen. Selbst die harmloseste Figur, der Ritter, ist zum Teile mit Bitterkeit ironisiert… 'Arlecchino' ist ein dramatisiertes Bekenntniswerk… Es ist zugleich eine leichte Verspottung des Lebens und auch der Bühne, aufrichtigste Haltung, bei aller Anspruchslosigkeit und Komik ernst gemeint, und mit liebevollster Besorgtheit um die künstlerische Form unternommen.
'Der Arlecchineide Fortsetzung und Ende' spinnt die ethische Idee des Stückes weiter, vom Opernwerke äußerlich losgetrennt, schwerlich musizierbar und kaum darstellbar: eine mehr abstrakte 'Fantasie'.
Sie wird nächstens als Buch erscheinen."
 
Schlußteil des 'Finale alla Turca' aus 'Turandot-Suite' op. 41 (1905);
Orchestra Filarmonica della Scala, Riccardo Muti;
Sony SK 53280;
 
Ferruccio Dante Michelangelo Benvenuto Busoni fluktuierte in seinem Denken unentwegt in Extremen mystischer Vergangenheitsbeschwörung und auratischer Zukunftsprojektion. Busoni betätigte sich als der Wirklichkeit vorauseilender Visionär und im nächsten Atemzug als himmelstürmender, gleichwohl in sublimster Musikanterie verwurzelter Virtuose. Seine hochfliegende, spekulative Denkungsart über die Zukunft der Musik, am nachdrücklichsten belegt im 'Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst', löste heftige Kontroversen im Musikleben der Zeit aus. Busonis hauptsächlicher Widersacher nach Erscheinen der zweiten Auflage der zukunftsweisenden Schrift im Jahr 1910 war Hans Pfitzner, der "Futuristengefahr!" witterte. Der Entwurf proklamiert tatsächlich Unerhörtes, Utopisches: Busoni schlägt vor, die Begrenzung von Dur und Moll durch 113 gleichberechtigte siebenstufige Skalen auszuweiten; er spricht vom "kaleidoskopischen Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen" und wird so zum intuitiven Wegbereiter der Systeme Schönbergs und Hauers; und er lanciert die Idee einer sechsteltönigen Musik, zu deren Umsetzung er später den Tschechen Alois Hába anregen sollte. Busoni stößt sich an allen Begrenzungen, betreibt mit schweifendem Scharfsinn mögliche Entgrenzung:
"Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung liegt; dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; derart, daß in einem neuen und selbständigeren Werke notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und daß der unabhängigste Komponist in all dieses Unabänderliche hinein- und hinabgezogen wird…
…die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der nächste Schritt?
Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daß ein neuer Anfang jungfräulich erstehe."
Busoni hat diese selbstgestellten Forderungen nur ab und zu erfüllt, und schnell war da die böse Rede vom "flügellahmen Propheten". Führte er aber gelegentlich eine Neuigkeit in einer einmal vorgestellten Weise durch, so gelangte er zu seltsam fremdartig berührenden, kühl leuchtenden, eher einer unbewußten Dimension entsprungen scheinenden Fortschreitungen, denen ein eigenartig losgelöstes Zeitempfinden eignet. Eindrücklichstes Beispiel eines derartigen Tongewebes ist das 1914 komponierte 'Nocturne symphonique', ein frühes Satellitenwerk seines Opus summum, der unvollendet gebliebenen Oper 'Doktor Faust', in der Busoni all seine Bestrebungen zusammenfaßte. 'Nocturne symphonique' ist ein echtes Nachtstück, fahl und schattenhaft. Die Farbenskala ist ein unerhört reich abgestuftes Chiaroscuro, wo in schwarzem und weißem Licht vielfältig abgetönte Grautöne einander abwechseln. Die Satzweise verrät den Kontrapunktiker, der keine Stimmbewegung aus Verlegenheit vornimmt, der mit untrüglichem Gespür über jeden Wechsel seinen Zauberstab hält. Menschliche Regung spielt eine untergeordnete Rolle. Nur eins: die Nächtlichkeit macht den Menschen staunen. Das Berliner Radio-Symphonieorchester unter Gerd Albrecht spielt Ferruccio Busonis 'Nocturne symphonique' op. 43.
 
Ausschnitt aus: 'Nocturne symphonique' op. 43 (1914);
Radio-Symphonieorchester Berlin, Gerd Albrecht;
Capriccio/EMI CD 10479;
 
Busonis Erneuerungsdrang, der sich über die gesamte Tonkunst erstreckte und in atmosphärisch eigentümlichen, klanglich kühn ausgesuchten Stücken wie dem soeben erklungenen 'Nocturne symphonique' gelegentlich zur Ausprägung kam, war in den Augen konservativer Geister eine aristokratische Entartung. Sein so ungeheuer einflußreicher 'Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst' veranlaßte Pfitzner zu folgendem Exkurs:
"Er hat mit seiner außergewöhnlichen Begabung alle technischen Möglichkeiten durchschritten, nun langweilt ihn das Bezwungene, und von dieser Seite stören ihn die Grenzen. Er sitzt am Klavier. Wie eigensinnig von den Tasten, daß zwischen dem h und dem c da nicht ein sanfter Übergang möglich ist. Diese Grenzen müssen fort! Er hört ein Orchester: das ist noch beinahe dieselbe Klarinette und Trompete und Violine, die schon zu Beethovens und Wagners Zeit im Orchester figuriert hat. Wie langweilig sind diese Grenzen! Er schlägt Noten auf: was fällt dem tyrannischen und pedantischen Komponisten da ein, von mir zu verlangen, hundert Takte lang in demselben Zeitmaß zu spielen? Länger als acht Takte halte ich das nicht aus! Das unterbindet meine Freiheit! Und die schwarzen Punkte, Striche und Linien da, das soll dasselbe sein wie die hohen Gedanken der Menschen? Fort mit diesen Begrenzungen! Und der Violinschlüssel und der Baßschlüssel da vorn, die sind ihm nun ganz besonders verdächtig!"
Zum Gedächtnis seiner Mutter, die am 3. Oktober 1909, kaum vier Monate nach dem Vater, gestorben war, schrieb Busoni, auf der Grundlage einer kurz zuvor komponierten 'Berceuse' für Klavier, seine 'Berceuse élégiaque. Des Mannes Wiegenlied am Sarge seiner Mutter. Poesie für sechsfaches Streichquartett mit Sordinen; drei Flöten, einer Oboe, drei Klarinetten, vier Hörnern, Gong, Harfe und Celesta'. Die Notenausgabe schmückte eine eigenhändige Zeichnung Busonis, die von der Stätte des Wiegenlieds durch einen Türbogen den Blick frei gibt auf den Sarg, der zum Grab getragen wird. Der Zeichnung ist das Motto unterlegt:
"Schwingt die Wiege des Kindes
Schwankt die Wage seines Schicksals
Schwindet der Weg des Lebens
Schwindet hin in die ewigen Fernen."
 
Ausschnitt aus: Berceuse élégiaque op. 42 (1911);
BBC Symphony Orchestra, Michael Gielen;
Inta’glio CD 7461;

"Ich möchte noch gern einen Zipfel der neuen Tonkunst erwischen und womöglich selbst einen Saum daran nähen. Immer deutlicher fühle ich, wie künftig unser ganzes Gezirp als prähistorische Epoche bezeichnet wird."
Ferruccio Busoni wurde am 1. April 1866 in Empoli nahe Florenz geboren. Obwohl seine Eltern beide Musiker waren, erhielt Ferruccio Busoni nie jene systematische Ausbildung, die anderen großen Musikern seiner Zeit zukam. Er eignete sich den vielleicht größten Teil seiner handwerklichen Meisterschaft in Selbstkontrolle an und war dabei stets um geistige Durchdringung der Zusammenhänge und emotionale Durchlässigkeit – auf daß ihm keine Nuance des Seelischen entginge! – bestrebt. Sein Vater führte ein improvisiertes Leben als reisender Klarinettenvirtuose, der schließlich der Begabung seines Sohnes gewahr wurde und diesen mit südländischer Despotie antrieb. Zuvor hatte die Mutter, Anna Weiß-Busoni, eine angesehene Pianistin deutsch-italienischer Abstammung, mit sanfter Hand die Geschicke des Knaben geleitet. Der kleine Ferruccio machte sich schnell als Wunderkind einen Namen. Über entbehrungsreiche Jahre hinweg entwickelte er sich zu einem Klaviervirtuosen von Weltgeltung, dem mit dem ersten Preis im ersten Rubinstein-Wettbewerb 1890 der Durchbruch geglückt war. Was das Unvergleichliche seines Spiels ausmachte, entzog sich auch den beschreibenden Möglichkeiten der meisten Zeitgenossen. Er hatte seine ganz eigene Art, das Klavier klingen zu lassen, entwickelt.
Seine Anhängerin Gisella Selden-Goth beschreibt:
"Liszt übertrug die Anregung von Paganinis Bogenkunst, die weiten Sprünge, die Doppelgriffglissandi, die alternierenden, gehämmerten Oktavengänge in Ganz- und Halbtonleitern auf die Tasten; Busoni baute auf diesem Grunde weiter. Von ihm stammt eine ganz neue Behandlung des Pedals, mit dem er einzelne Töne und Akkorde angeschlagen oder stumm niedergedrückt durch Passagen weiterklingen läßt… In der Erkenntnis, daß ein wahres Legato dem Wesen des Tasteninstruments widerstrebt, ihm unorganisch ist, verzichtet er von vornherein auf die Erziehung eines solchen und meißelt jeden Ton für sich hin, die Bindung in der Kantilene allein durch ständigen, auf das letzte auskombinierten Gebrauch des Pedals erzielend."
 

 

Busoni selbst sah das so:
"Die größere Technik hat ihren Sitz im Gehirn, sie setzt sich aus Geometrie, Abschätzung der Distanzen und weiser Anordnung zusammen. Aber auch damit ist nur erst ein Anfang gemacht, denn zur wirklichen Technik gehört auch der Anschlag und ganz besonders der Gebrauch der Pedale.
Zum großen Künstler gehört ferner eine ungewöhnliche Intelligenz, Kultur, eine umfassende Erziehung in allen musikalischen und literarischen Dingen und in den Fragen des menschlichen Daseins. Auch Charakter muß der Künstler haben. Fehlt eines von diesen Erfordernissen, so wird die Lücke in jeder Phrase offenbar, die er vorträgt. Dann kommt noch Gefühl, Temperament, Phantasie, Poesie und schließlich jener persönliche Magnetismus hinzu, der einen manchmal instand setzt, viertausend fremde, durch Zufall zusammengebrachte Menschen in einen und denselben Seelenzustand zu versetzen. Danach ist auch noch Geistesgegenwart zu verlangen, Herrschaft über Stimmungen unter irritierenden Begleitumständen, die Fähigkeit, des Publikums Aufmerksamkeit zu erregen, und endlich in "psychologischen Momenten" das Publikum zu vergessen.
Soll man noch das Gefühl für Form, für Stil, die Tugend guten Geschmacks und Originalität hinzufügen? Wie könnte man je zu Ende kommen, wenn man alles Erforderliche aufzählen wollte? Vor allem möge man eine Forderung gegenwärtig halten: Wem ein Leben nicht durch die Seele gezogen, der wird die Sprache der Kunst nicht meistern."
Echte Tondokumente von Busonis Spiel sind selten, wenn man seine Welte-Mignon-Walzenaufnahmen, die vom originalen Klang im Raum keine Spur in sich tragen, nicht als echt ansieht. Sie hören nun zwei knisternde Aufnahmen vom 27. Februar 1922 in London, wo Busoni seine Arrangements des Orgelchoralvorspiels BWV 734 von Johann Sebastian Bach und der Ecossaise Es-Dur WoO 83 von Ludwig van Beethoven vorträgt.
 
Bach/Busoni: Choralvorspiel BWV 734;
Beethoven/Busoni: Ecossaise Es-Dur WoO 83;
Ferruccio Busoni, London, 27.2.1922;
Pearl GEMM CD 9347;
 
Trotz aller klanglichen Entstellung belegen die wenigen vorhandenen Dokumente, welcher Ausnahmemusiker Ferruccio Busoni war. Nur wenige haben später ein solches Niveau subtiler, lebendiger, zusammenhängender Gestaltung erreicht – allenfalls Namen wie Eduard Erdmann, Dinu Lipatti, Arturo Benedetti Michelangeli oder Murray Perahia können hier angeführt werden. Im Gegensatz zu den eben Genannten spielte Busoni Bach in eigenen Bearbeitungen für sein modernes Instrument. Er selbst war der beste Anwalt einer Ästhetik der Bearbeitung, und seine Ausführungen dazu lassen Rückschlüsse auf seine Einstellung als Pianist wie als Komponist zu.
"Um das Wesen der "Bearbeitung" mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung des Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der Nennung Johann Sebastian Bachs. Er war einer fruchtbarsten Bearbeiter eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große "universelle" Musik dieselbe bleibt, durch welches Mittel sie auch ertönen mag. Aber auch die zweite Wahrheit, daß verschiedene Mittel eine verschiedene (ihnen eigene) Sprache haben, in der sie diese Musik immer wieder etwas anders verkünden…
Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht den Einfall aufzuschreiben bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. Mag auch vom Einfall manches Originale, das unverwüstlich ist, weiter bestehen; dieses wird doch von dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate, oder einem Konzert: das ist bereits ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zur zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig…
Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden – niemals das Original aus der Welt schaffen. Denn das musikalische Kunstwerk besteht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit."
Und Busoni ging noch weiter. Mit Widmung an den eminenten Kontrapunktisten Wilhelm Middelschulte, einen der "Gotiker von Chicago", schrieb er 1910 seine 'Fantasia contrappuntistica', in der er versucht, für die unvollendete letzte Fuge in Bachs 'Kunst der Fuge' die Ergänzung zu finden. Wie andere schon vor ihm, entdeckt er das entscheidende Hauptsubjekt, das sich zwanglos mit den vorhandenen Themen verarbeiten läßt, und macht ein Stück echten Busoni aus dem Ganzen: Einem zehnminütigen 'Preludio corale' folgen drei Fugen; daraufhin wird über ein Intermezzo, drei Variationen und eine Cadenza die Fuga IV, der Kern des Gesamtgeflechts, angesteuert, die in einen Choral übergeht, der in eine Stretta mündet. In diesem mehr als halbstündigen Werk, das in Fassungen für Klavier, 2 Klaviere und Orgel vorliegt, vollzieht der Musiker Busoni die Fusion von geistvollem Kontrapunkt und virtuoser Brillanz. Eduard Erdmann, der vielen als der großartigste Bach-Spieler seiner Zeit in Erinnerung ist, schließt seinen Aufsatz 'Moderne Klaviermusik' mit einer klarsichtigen Empfehlung:
"Zum Schluß Busoni. Er vertritt gewissermaßen den internationalen Künstlertypus. In unserer Zeit ist er der geistvollste Komponist – im abgrenzenden Sinne des Wortes. Nicht in der schöpferischen Erfindungskraft liegt bei ihm der Schwerpunkt, aber in seiner schaffenden Intelligenz, seinem psychischen Sonderleben, seiner klangkombinatorischen Phantasie. Sein stärkstes gibt Busoni in katholischer Mystik, spukhafter Phantastik, resignierender Stille. Er schenkte uns wohl das bedeutendste Werk der modernen Klavierliteratur: die Fantasia contrappuntistica. Dieses Werk muß man kennen… In Busoni verbindet sich die artistisch-koloristische mit der im engeren Sinne expressionistischen Richtung zu einem neuen, lebendigen Ganzen."
Hören Sie nun Christopher O’Riley mit der Fuga IV aus der 'Fantasia contrappuntistica'.
 
Fuga IV aus 'Fantasia contrappuntistica' (1910);
Christopher O’Riley (Klavier);
Centaur/Disco-Center CD CRC 2036;
 
1911 verkündete der bedeutende Berliner Komponist Heinz Tiessen:
"Das Ziel der Kunst ist Klassizität… Aufgabe der Zukunft ist es, die sich noch als Selbstzweck aufdrängenden Errungenschaften der Neuromantik für die Gestaltung einer neuen, modernen Klassizität zu gewinnen… Es gibt keine Rückkehr, immer nur einen neuen Weg zur neuen Klassizität."
Mit seinem Brief an Paul Bekker, veröffentlicht in der 'Frankfurter Zeitung' am 20. Januar 1920, wurde Ferruccio Busoni zur Identifikationsfigur derjenigen, die Klassizität anstrebten im Gegensatz zu rückschauendem Klassizismus oder rigid-atonaler Modernität.
"Auch die Erscheinung von einzelnen in der Karikatur mündenden Experimenten ist eine ständige Begleitung der Evolutionen: bizarre Nachäffung hervorspringender Gesten jener, die etwas gelten; Trotz oder Rebellion, Satire oder Narrheit. In den letzten 15 Jahren ist derartiges wieder dichter aufgetreten; es fällt umso stärker auf nach dem Stillstand der achtziger Jahre, der in der Kunstgeschichte recht vereinzelt dasteht (und leider gerade mit meiner eigenen Jugend zusammenfiel). Aber das Allgemeinwerden der Übertreibung – womit heute bereits der Anfänger debütiert – weist auf die Beendigung eines solchen Abschnittes; und der nächste Schritt, den der Widerspruch fördernd herbeiführen muß, ist der, der zur neuen Klassizität lenkt.
Unter einer "jungen Klassizität" verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen."
Schon in dem 1908 komponierten, mehr als siebzig Minuten dauernden Klavierkonzert op. 39, das vielfach als "monströs" abgelehnt wurde, hat Busoni über weite Strecken zu einer Gangart gefunden, die auf der Linie dieser Klassizität lag. Aus dem dritten Satz, 'Pezzo serioso' betitelt, der sich in eine Introduction und drei Teile gliedert, hören wir einen Abschnitt des mittleren Teils. Garrick Ohlsson wird begleitet vom Cleveland Orchestra unter Christoph von Dohnànyi.
 
Ausschnitt aus dem dritten Satz, 'Pezzo serioso', des Klavierkonzerts op. 39 (1908): Ende von prima pars und Hälfte von altera pars;
Garrick Ohlsson (Klavier), Cleveland Orchestra, Christoph von Dohnányi;
Telarc/in-akustik CD 80207;
 
Hört man viele von Busonis Werken, so stellt man fest, daß sie verschiedenartigsten Orten zugehören, verschiedenartigste Welten betreffen. Busoni war als Interpret zu involviert, um ungestört einen einheitlichen Personalstil entfalten zu können. Das freilich hatte er wohl auch gar nicht im Sinn, und seine Musik krankt darum noch lange nicht am "Kapellmeistermusik"-Syndrom. Er strebte nach einer "Einheit der Musik", wie er sie mit der "jungen Klassizität" gefordert hat. Nach einer Einheit, in der alle Elemente ihren Platz haben. Auch die ironische Distanz. Auch der Zweifel. Dieses Forum einer weitaufgefächerten Schar der vorhandenen Mittel sollte Eingang in sein Hauptwerk, die nach seinem frühen Tod von seinem Schüler Philipp Jarnach vollendete Oper 'Doktor Faust' finden, die ihn seit 1914, also die letzten zehn Jahre seines Lebens, beschäftigte. Hier sieht er die Möglichkeit, all das zu verwirklichen, was ihm vorschwebt.
"Was für meinen Entschluß entscheidend in die Waagschale fällt, ist der Umstand, daß die Oper alle Mittel und alle Formen, die sonst in der Musik einzeln zur Anwendung kommen, vereint in sich birgt, sie gestattet und sie fordert. Sie gibt Gelegenheit, sie insgesamt oder gruppenweise anzubringen. Von den einfachen Lied-, Marsch- und Tanzweisen bis zu dem kunstreichsten Kontrapunkt, vom Gesang zum Orchester, vom "Weltlichen" zum "Geistlichen" reicht – und noch weiter – das Gebiet der Oper; der ungemessene Raum, über den sie verfügt, befähigt sie, jede Gattung und Art aufzunehmen, jede Stimmung zu reflektieren."
Doch auch in seinen großen Instrumentalkonzerten geht Busoni solche Wege, wenngleich unter symphonischerem Blickwinkel, weniger spielerisch, wie in der Blockhaftigkeit des Klavierkonzerts. Dem Geist des Theatralischen noch näher steht das hochvirtuose Violinkonzert op. 35a, das schon 1897 entstanden ist. Und wenn dann ein Virtuose zur Verfügung steht, der diesen durch nichts zu bremsenden Elan zu verkörpern versteht, ist diese Musik elementar und mitreißend. So wie bei Joseph Szigeti, der nun mit der Little Orchestra Society unter Thomas Scherman mit dem Schlußsatz zu hören ist: Allegro impetuoso – Alla marcia – Più stretto – Quasi presto – Più presto.
 
Finale aus dem Violinkonzert op. 35a (1897);
Joseph Szigeti (Violine), The Little Orchestra Society, Thomas Scherman; CBS/Sony CD MPK 52537;
 
 
Sendemanuskript für BR4; Produktion: 1.10.97;
Erstsendung: 6.10.1997, 23:oo-24:oo, "Montagsthema"

Christoph Schlüren, 10/97