Telarc/in-akustik CD 80207 (oder: 82012)
"Ich sah ein neues Geschlecht (Thier oder Mensch ist nicht
zu entscheiden); es war klein, nicht größer als eine
Eichkatze. Sie hatten Eidechsenleiber mit doppelt so langem fuchsähnlichem
Schwanz. Vom Kopfe ist mir nichts mehr deutlich, als daß er
einen klugen, menschlichen Ausdruck hatte.
Es war ein großer Saal. Für diese Geschöpfe groß
genug, daß sie wie im Freien sich darin bewegen
und in Kutschen fahren konnten. Die Kutschen waren sehr elegant,
sogenannte Galakutschen und fuhren wie in einem Corso oder einer
Procession geordnet in der Reihe. Es war wie eine große Feier.
Die Geschöpfe zeigten im Ceremoniell, im Betragen eine große,
alte Cultur.
Ich sprach mit einigen von ihnen und frug, warum ich sie zum ersten
Mal sähe und nie von ihnen erwähnen gehört?
Man sagte mir, daß nur derjenige, der reinen Herzens geworden,
sie erblicken könnte. So hätte sie das gläubige und
naive Mittelalter gut gekannt und mit ihnen im Verkehr gestanden.
(Jetzt erinnerte ich mich auch, wieviel im Mittelalter von Kobolden,
Elementargeistern u.s.w. die Rede gewesen). Das raffinirte 18. Jahrhundert
hätte sie geleugnet und infolgedessen auch wirklich nicht mehr
gesehen.
Aber (sagte ich), warum will San Francesco dAssisi, der doch
gewiß reinen Herzens gewesen, nichts von ihnen wissen?
Man antwortete: San Francesco dAssisi war gewiß reinen
Herzens und hat sie gesehen; aber er hat das Gesicht für eine
Versuchung des Teufels gehalten und seine Wirklichkeit geleugnet.
Das war der Traum.
"
Rondo Arlecchinesco op. 43 (1915);
Robert Wörle (Tenor), Radio-Symphonieorchester Berlin, Gerd
Albrecht;
Capriccio/EMI CD 10479;
"Gestern, mitten im großen "Traffic" der Automobil-Omnibusse
ging friedlich und schuldlos mein lieber Vorsehungs-Esel durch die
Shaftesbury-Ave. Alle Wagen mußten um ihn einen Bogen
machen, da er langsamer schritt als sie. Da hob sich mein dummes
Herz.
"
Ferruccio Busonis 'Rondo Arlecchinesco' von 1915, Teil des 1917
vollendeten theatralischen Capriccio 'Arlecchino', spielte das Radio-Symphonieorchester
Berlin unter Gerd Albrecht.
"Im buntgeflickten Gewande / ein geschmeidiger Leib / ein kecker
und kluger Geist
. Die Idee zum 'Arlecchino' gab mir
die meisterhafte Darstellung eines italienischen Schauspielers
,
der die alte Commedia dellArte wieder einzuführen versuchte
und in dieser die Rolle meines Helden überlegen sprach und
spielte
Vorgeworfen wird mir im 'Arlecchino', daß er höhnisch
und unmenschlich sei; indessen ist diese Schöpfung aus dem
ganz gegensätzlichen Drang hervor entstanden: aus dem Mitleid
mit den Menschen, die es sich einander schwerer machen, als es sein
sollte und könnte: durch Egoismus, durch eingefleischte Vorurteile,
durch die dem Gefühle entgegengehaltene Form! Deswegen kommt
man im 'Arlecchino' (und diese Absicht ist erreicht) nur zu einem
schmerzhaften Lachen. Selbst die harmloseste Figur, der Ritter,
ist zum Teile mit Bitterkeit ironisiert
'Arlecchino' ist ein
dramatisiertes Bekenntniswerk
Es ist zugleich eine leichte
Verspottung des Lebens und auch der Bühne, aufrichtigste Haltung,
bei aller Anspruchslosigkeit und Komik ernst gemeint, und mit liebevollster
Besorgtheit um die künstlerische Form unternommen.
'Der Arlecchineide Fortsetzung und Ende' spinnt die ethische Idee
des Stückes weiter, vom Opernwerke äußerlich losgetrennt,
schwerlich musizierbar und kaum darstellbar: eine mehr abstrakte
'Fantasie'.
Sie wird nächstens als Buch erscheinen."
Schlußteil des 'Finale alla Turca' aus 'Turandot-Suite' op.
41 (1905);
Orchestra Filarmonica della Scala, Riccardo Muti;
Sony SK 53280;
Ferruccio Dante Michelangelo Benvenuto Busoni fluktuierte in seinem
Denken unentwegt in Extremen mystischer Vergangenheitsbeschwörung
und auratischer Zukunftsprojektion. Busoni betätigte sich als
der Wirklichkeit vorauseilender Visionär und im nächsten
Atemzug als himmelstürmender, gleichwohl in sublimster Musikanterie
verwurzelter Virtuose. Seine hochfliegende, spekulative Denkungsart
über die Zukunft der Musik, am nachdrücklichsten belegt
im 'Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst', löste
heftige Kontroversen im Musikleben der Zeit aus. Busonis hauptsächlicher
Widersacher nach Erscheinen der zweiten Auflage der zukunftsweisenden
Schrift im Jahr 1910 war Hans Pfitzner, der "Futuristengefahr!"
witterte. Der Entwurf proklamiert tatsächlich Unerhörtes,
Utopisches: Busoni schlägt vor, die Begrenzung von Dur und
Moll durch 113 gleichberechtigte siebenstufige Skalen auszuweiten;
er spricht vom "kaleidoskopischen Durcheinanderschütteln
von zwölf Halbtönen" und wird so zum intuitiven Wegbereiter
der Systeme Schönbergs und Hauers; und er lanciert die Idee
einer sechsteltönigen Musik, zu deren Umsetzung er später
den Tschechen Alois Hába anregen sollte. Busoni stößt
sich an allen Begrenzungen, betreibt mit schweifendem Scharfsinn
mögliche Entgrenzung:
"Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein;
in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten
Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten
der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen, die eben nicht
anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung
liegt; dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten
in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende Überschwang
des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene
Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette;
derart, daß in einem neuen und selbständigeren Werke
notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt
und daß der unabhängigste Komponist in all dieses Unabänderliche
hinein- und hinabgezogen wird
die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren
längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden
wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der nächste
Schritt?
Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur
tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen
zielen, daß ein neuer Anfang jungfräulich erstehe."
Busoni hat diese selbstgestellten Forderungen nur ab und zu erfüllt,
und schnell war da die böse Rede vom "flügellahmen
Propheten". Führte er aber gelegentlich eine Neuigkeit
in einer einmal vorgestellten Weise durch, so gelangte er zu seltsam
fremdartig berührenden, kühl leuchtenden, eher einer unbewußten
Dimension entsprungen scheinenden Fortschreitungen, denen ein eigenartig
losgelöstes Zeitempfinden eignet. Eindrücklichstes Beispiel
eines derartigen Tongewebes ist das 1914 komponierte 'Nocturne symphonique',
ein frühes Satellitenwerk seines Opus summum, der unvollendet
gebliebenen Oper 'Doktor Faust', in der Busoni all seine Bestrebungen
zusammenfaßte. 'Nocturne symphonique' ist ein echtes Nachtstück,
fahl und schattenhaft. Die Farbenskala ist ein unerhört reich
abgestuftes Chiaroscuro, wo in schwarzem und weißem Licht
vielfältig abgetönte Grautöne einander abwechseln.
Die Satzweise verrät den Kontrapunktiker, der keine Stimmbewegung
aus Verlegenheit vornimmt, der mit untrüglichem Gespür
über jeden Wechsel seinen Zauberstab hält. Menschliche
Regung spielt eine untergeordnete Rolle. Nur eins: die Nächtlichkeit
macht den Menschen staunen. Das Berliner Radio-Symphonieorchester
unter Gerd Albrecht spielt Ferruccio Busonis 'Nocturne symphonique'
op. 43.
Ausschnitt aus: 'Nocturne symphonique' op. 43 (1914);
Radio-Symphonieorchester Berlin, Gerd Albrecht;
Capriccio/EMI CD 10479;
Busonis Erneuerungsdrang, der sich über die gesamte Tonkunst
erstreckte und in atmosphärisch eigentümlichen, klanglich
kühn ausgesuchten Stücken wie dem soeben erklungenen 'Nocturne
symphonique' gelegentlich zur Ausprägung kam, war in den Augen
konservativer Geister eine aristokratische Entartung. Sein so ungeheuer
einflußreicher 'Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst'
veranlaßte Pfitzner zu folgendem Exkurs:
"Er hat mit seiner außergewöhnlichen Begabung alle
technischen Möglichkeiten durchschritten, nun langweilt ihn
das Bezwungene, und von dieser Seite stören ihn die Grenzen.
Er sitzt am Klavier. Wie eigensinnig von den Tasten, daß zwischen
dem h und dem c da nicht ein sanfter Übergang möglich
ist. Diese Grenzen müssen fort! Er hört ein Orchester:
das ist noch beinahe dieselbe Klarinette und Trompete und Violine,
die schon zu Beethovens und Wagners Zeit im Orchester figuriert
hat. Wie langweilig sind diese Grenzen! Er schlägt Noten auf:
was fällt dem tyrannischen und pedantischen Komponisten da
ein, von mir zu verlangen, hundert Takte lang in demselben Zeitmaß
zu spielen? Länger als acht Takte halte ich das nicht aus!
Das unterbindet meine Freiheit! Und die schwarzen Punkte, Striche
und Linien da, das soll dasselbe sein wie die hohen Gedanken der
Menschen? Fort mit diesen Begrenzungen! Und der Violinschlüssel
und der Baßschlüssel da vorn, die sind ihm nun ganz besonders
verdächtig!"
Zum Gedächtnis seiner Mutter, die am 3. Oktober 1909, kaum
vier Monate nach dem Vater, gestorben war, schrieb Busoni, auf der
Grundlage einer kurz zuvor komponierten 'Berceuse' für Klavier,
seine 'Berceuse élégiaque. Des Mannes Wiegenlied am
Sarge seiner Mutter. Poesie für sechsfaches Streichquartett
mit Sordinen; drei Flöten, einer Oboe, drei Klarinetten, vier
Hörnern, Gong, Harfe und Celesta'. Die Notenausgabe schmückte
eine eigenhändige Zeichnung Busonis, die von der Stätte
des Wiegenlieds durch einen Türbogen den Blick frei gibt auf
den Sarg, der zum Grab getragen wird. Der Zeichnung ist das Motto
unterlegt:
"Schwingt die Wiege des Kindes
Schwankt die Wage seines Schicksals
Schwindet der Weg des Lebens
Schwindet hin in die ewigen Fernen."
Ausschnitt aus: Berceuse élégiaque op. 42 (1911);
BBC Symphony Orchestra, Michael Gielen;
Intaglio CD 7461;
"Ich möchte noch gern einen Zipfel der neuen Tonkunst
erwischen und womöglich selbst einen Saum daran nähen.
Immer deutlicher fühle ich, wie künftig unser ganzes Gezirp
als prähistorische Epoche bezeichnet wird."
Ferruccio Busoni wurde am 1. April 1866 in Empoli nahe Florenz geboren.
Obwohl seine Eltern beide Musiker waren, erhielt Ferruccio Busoni
nie jene systematische Ausbildung, die anderen großen Musikern
seiner Zeit zukam. Er eignete sich den vielleicht größten
Teil seiner handwerklichen Meisterschaft in Selbstkontrolle an und
war dabei stets um geistige Durchdringung der Zusammenhänge
und emotionale Durchlässigkeit auf daß ihm keine
Nuance des Seelischen entginge! bestrebt. Sein Vater führte
ein improvisiertes Leben als reisender Klarinettenvirtuose, der
schließlich der Begabung seines Sohnes gewahr wurde und diesen
mit südländischer Despotie antrieb. Zuvor hatte die Mutter,
Anna Weiß-Busoni, eine angesehene Pianistin deutsch-italienischer
Abstammung, mit sanfter Hand die Geschicke des Knaben geleitet.
Der kleine Ferruccio machte sich schnell als Wunderkind einen Namen.
Über entbehrungsreiche Jahre hinweg entwickelte er sich zu
einem Klaviervirtuosen von Weltgeltung, dem mit dem ersten Preis
im ersten Rubinstein-Wettbewerb 1890 der Durchbruch geglückt
war. Was das Unvergleichliche seines Spiels ausmachte, entzog sich
auch den beschreibenden Möglichkeiten der meisten Zeitgenossen.
Er hatte seine ganz eigene Art, das Klavier klingen zu lassen, entwickelt.
Seine Anhängerin Gisella Selden-Goth beschreibt:
"Liszt übertrug die Anregung von Paganinis Bogenkunst,
die weiten Sprünge, die Doppelgriffglissandi, die alternierenden,
gehämmerten Oktavengänge in Ganz- und Halbtonleitern auf
die Tasten; Busoni baute auf diesem Grunde weiter. Von ihm stammt
eine ganz neue Behandlung des Pedals, mit dem er einzelne Töne
und Akkorde angeschlagen oder stumm niedergedrückt durch Passagen
weiterklingen läßt
In der Erkenntnis, daß
ein wahres Legato dem Wesen des Tasteninstruments widerstrebt, ihm
unorganisch ist, verzichtet er von vornherein auf die Erziehung
eines solchen und meißelt jeden Ton für sich hin, die
Bindung in der Kantilene allein durch ständigen, auf das letzte
auskombinierten Gebrauch des Pedals erzielend."
|
Busoni selbst sah das so:
"Die größere Technik hat ihren Sitz im Gehirn, sie
setzt sich aus Geometrie, Abschätzung der Distanzen und weiser
Anordnung zusammen. Aber auch damit ist nur erst ein Anfang gemacht,
denn zur wirklichen Technik gehört auch der Anschlag und ganz
besonders der Gebrauch der Pedale.
Zum großen Künstler gehört ferner eine ungewöhnliche
Intelligenz, Kultur, eine umfassende Erziehung in allen musikalischen
und literarischen Dingen und in den Fragen des menschlichen Daseins.
Auch Charakter muß der Künstler haben. Fehlt eines von
diesen Erfordernissen, so wird die Lücke in jeder Phrase offenbar,
die er vorträgt. Dann kommt noch Gefühl, Temperament,
Phantasie, Poesie und schließlich jener persönliche Magnetismus
hinzu, der einen manchmal instand setzt, viertausend fremde, durch
Zufall zusammengebrachte Menschen in einen und denselben Seelenzustand
zu versetzen. Danach ist auch noch Geistesgegenwart zu verlangen,
Herrschaft über Stimmungen unter irritierenden Begleitumständen,
die Fähigkeit, des Publikums Aufmerksamkeit zu erregen, und
endlich in "psychologischen Momenten" das Publikum zu
vergessen.
Soll man noch das Gefühl für Form, für Stil, die
Tugend guten Geschmacks und Originalität hinzufügen? Wie
könnte man je zu Ende kommen, wenn man alles Erforderliche
aufzählen wollte? Vor allem möge man eine Forderung gegenwärtig
halten: Wem ein Leben nicht durch die Seele gezogen, der wird die
Sprache der Kunst nicht meistern."
Echte Tondokumente von Busonis Spiel sind selten, wenn man seine
Welte-Mignon-Walzenaufnahmen, die vom originalen Klang im Raum keine
Spur in sich tragen, nicht als echt ansieht. Sie hören nun
zwei knisternde Aufnahmen vom 27. Februar 1922 in London, wo Busoni
seine Arrangements des Orgelchoralvorspiels BWV 734 von Johann Sebastian
Bach und der Ecossaise Es-Dur WoO 83 von Ludwig van Beethoven vorträgt.
Bach/Busoni: Choralvorspiel BWV 734;
Beethoven/Busoni: Ecossaise Es-Dur WoO 83;
Ferruccio Busoni, London, 27.2.1922;
Pearl GEMM CD 9347;
Trotz aller klanglichen Entstellung belegen die wenigen vorhandenen
Dokumente, welcher Ausnahmemusiker Ferruccio Busoni war. Nur wenige
haben später ein solches Niveau subtiler, lebendiger, zusammenhängender
Gestaltung erreicht allenfalls Namen wie Eduard Erdmann,
Dinu Lipatti, Arturo Benedetti Michelangeli oder Murray Perahia
können hier angeführt werden. Im Gegensatz zu den eben
Genannten spielte Busoni Bach in eigenen Bearbeitungen für
sein modernes Instrument. Er selbst war der beste Anwalt einer Ästhetik
der Bearbeitung, und seine Ausführungen dazu lassen Rückschlüsse
auf seine Einstellung als Pianist wie als Komponist zu.
"Um das Wesen der "Bearbeitung" mit einem entscheidenden
Schlage in der Schätzung des Lesers zu künstlerischer
Würde zu erhöhen, bedarf es nur der Nennung Johann Sebastian
Bachs. Er war einer fruchtbarsten Bearbeiter eigener und fremder
Stücke, namentlich als Organist. Von ihm lernte ich die Wahrheit
erkennen, daß eine gute, große "universelle"
Musik dieselbe bleibt, durch welches Mittel sie auch ertönen
mag. Aber auch die zweite Wahrheit, daß verschiedene Mittel
eine verschiedene (ihnen eigene) Sprache haben, in der sie diese
Musik immer wieder etwas anders verkünden
Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist
schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick,
da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine
Originalgestalt. Die Absicht den Einfall aufzuschreiben bedingt
schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form und Klangmittel, für
welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr
und mehr den Weg und die Grenzen. Mag auch vom Einfall manches Originale,
das unverwüstlich ist, weiter bestehen; dieses wird doch von
dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt.
Der Einfall wird zu einer Sonate, oder einem Konzert: das ist bereits
ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zur zweiten Transkription
ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig
Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, auch dieser
kann er mag noch so frei sich gebärden niemals
das Original aus der Welt schaffen. Denn das musikalische Kunstwerk
besteht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen,
ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit."
Und Busoni ging noch weiter. Mit Widmung an den eminenten Kontrapunktisten
Wilhelm Middelschulte, einen der "Gotiker von Chicago",
schrieb er 1910 seine 'Fantasia contrappuntistica', in der er versucht,
für die unvollendete letzte Fuge in Bachs 'Kunst der Fuge'
die Ergänzung zu finden. Wie andere schon vor ihm, entdeckt
er das entscheidende Hauptsubjekt, das sich zwanglos mit den vorhandenen
Themen verarbeiten läßt, und macht ein Stück echten
Busoni aus dem Ganzen: Einem zehnminütigen 'Preludio corale'
folgen drei Fugen; daraufhin wird über ein Intermezzo, drei
Variationen und eine Cadenza die Fuga IV, der Kern des Gesamtgeflechts,
angesteuert, die in einen Choral übergeht, der in eine Stretta
mündet. In diesem mehr als halbstündigen Werk, das in
Fassungen für Klavier, 2 Klaviere und Orgel vorliegt, vollzieht
der Musiker Busoni die Fusion von geistvollem Kontrapunkt und virtuoser
Brillanz. Eduard Erdmann, der vielen als der großartigste
Bach-Spieler seiner Zeit in Erinnerung ist, schließt seinen
Aufsatz 'Moderne Klaviermusik' mit einer klarsichtigen Empfehlung:
"Zum Schluß Busoni. Er vertritt gewissermaßen den
internationalen Künstlertypus. In unserer Zeit ist er der geistvollste
Komponist im abgrenzenden Sinne des Wortes. Nicht in der
schöpferischen Erfindungskraft liegt bei ihm der Schwerpunkt,
aber in seiner schaffenden Intelligenz, seinem psychischen Sonderleben,
seiner klangkombinatorischen Phantasie. Sein stärkstes gibt
Busoni in katholischer Mystik, spukhafter Phantastik, resignierender
Stille. Er schenkte uns wohl das bedeutendste Werk der modernen
Klavierliteratur: die Fantasia contrappuntistica. Dieses Werk muß
man kennen
In Busoni verbindet sich die artistisch-koloristische
mit der im engeren Sinne expressionistischen Richtung zu einem neuen,
lebendigen Ganzen."
Hören Sie nun Christopher ORiley mit der Fuga IV aus
der 'Fantasia contrappuntistica'.
Fuga IV aus 'Fantasia contrappuntistica' (1910);
Christopher ORiley (Klavier);
Centaur/Disco-Center CD CRC 2036;
1911 verkündete der bedeutende Berliner Komponist Heinz Tiessen:
"Das Ziel der Kunst ist Klassizität
Aufgabe der
Zukunft ist es, die sich noch als Selbstzweck aufdrängenden
Errungenschaften der Neuromantik für die Gestaltung einer neuen,
modernen Klassizität zu gewinnen
Es gibt keine Rückkehr,
immer nur einen neuen Weg zur neuen Klassizität."
Mit seinem Brief an Paul Bekker, veröffentlicht in der 'Frankfurter
Zeitung' am 20. Januar 1920, wurde Ferruccio Busoni zur Identifikationsfigur
derjenigen, die Klassizität anstrebten im Gegensatz zu rückschauendem
Klassizismus oder rigid-atonaler Modernität.
"Auch die Erscheinung von einzelnen in der Karikatur mündenden
Experimenten ist eine ständige Begleitung der Evolutionen:
bizarre Nachäffung hervorspringender Gesten jener, die etwas
gelten; Trotz oder Rebellion, Satire oder Narrheit. In den letzten
15 Jahren ist derartiges wieder dichter aufgetreten; es fällt
umso stärker auf nach dem Stillstand der achtziger Jahre, der
in der Kunstgeschichte recht vereinzelt dasteht (und leider gerade
mit meiner eigenen Jugend zusammenfiel). Aber das Allgemeinwerden
der Übertreibung womit heute bereits der Anfänger
debütiert weist auf die Beendigung eines solchen Abschnittes;
und der nächste Schritt, den der Widerspruch fördernd
herbeiführen muß, ist der, der zur neuen Klassizität
lenkt.
Unter einer "jungen Klassizität" verstehe ich die
Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener
Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen."
Schon in dem 1908 komponierten, mehr als siebzig Minuten dauernden
Klavierkonzert op. 39, das vielfach als "monströs"
abgelehnt wurde, hat Busoni über weite Strecken zu einer Gangart
gefunden, die auf der Linie dieser Klassizität lag. Aus dem
dritten Satz, 'Pezzo serioso' betitelt, der sich in eine Introduction
und drei Teile gliedert, hören wir einen Abschnitt des mittleren
Teils. Garrick Ohlsson wird begleitet vom Cleveland Orchestra unter
Christoph von Dohnànyi.
Ausschnitt aus dem dritten Satz, 'Pezzo serioso', des Klavierkonzerts
op. 39 (1908): Ende von prima pars und Hälfte von altera pars;
Garrick Ohlsson (Klavier), Cleveland Orchestra, Christoph von Dohnányi;
Telarc/in-akustik CD 80207;
Hört man viele von Busonis Werken, so stellt man fest, daß
sie verschiedenartigsten Orten zugehören, verschiedenartigste
Welten betreffen. Busoni war als Interpret zu involviert, um ungestört
einen einheitlichen Personalstil entfalten zu können. Das freilich
hatte er wohl auch gar nicht im Sinn, und seine Musik krankt darum
noch lange nicht am "Kapellmeistermusik"-Syndrom. Er strebte
nach einer "Einheit der Musik", wie er sie mit der "jungen
Klassizität" gefordert hat. Nach einer Einheit, in der
alle Elemente ihren Platz haben. Auch die ironische Distanz. Auch
der Zweifel. Dieses Forum einer weitaufgefächerten Schar der
vorhandenen Mittel sollte Eingang in sein Hauptwerk, die nach seinem
frühen Tod von seinem Schüler Philipp Jarnach vollendete
Oper 'Doktor Faust' finden, die ihn seit 1914, also die letzten
zehn Jahre seines Lebens, beschäftigte. Hier sieht er die Möglichkeit,
all das zu verwirklichen, was ihm vorschwebt.
"Was für meinen Entschluß entscheidend in die Waagschale
fällt, ist der Umstand, daß die Oper alle Mittel und
alle Formen, die sonst in der Musik einzeln zur Anwendung kommen,
vereint in sich birgt, sie gestattet und sie fordert. Sie gibt Gelegenheit,
sie insgesamt oder gruppenweise anzubringen. Von den einfachen Lied-,
Marsch- und Tanzweisen bis zu dem kunstreichsten Kontrapunkt, vom
Gesang zum Orchester, vom "Weltlichen" zum "Geistlichen"
reicht und noch weiter das Gebiet der Oper; der ungemessene
Raum, über den sie verfügt, befähigt sie, jede Gattung
und Art aufzunehmen, jede Stimmung zu reflektieren."
Doch auch in seinen großen Instrumentalkonzerten geht Busoni
solche Wege, wenngleich unter symphonischerem Blickwinkel, weniger
spielerisch, wie in der Blockhaftigkeit des Klavierkonzerts. Dem
Geist des Theatralischen noch näher steht das hochvirtuose
Violinkonzert op. 35a, das schon 1897 entstanden ist. Und wenn dann
ein Virtuose zur Verfügung steht, der diesen durch nichts zu
bremsenden Elan zu verkörpern versteht, ist diese Musik elementar
und mitreißend. So wie bei Joseph Szigeti, der nun mit der
Little Orchestra Society unter Thomas Scherman mit dem Schlußsatz
zu hören ist: Allegro impetuoso Alla marcia Più
stretto Quasi presto Più presto.
Finale aus dem Violinkonzert op. 35a (1897);
Joseph Szigeti (Violine), The Little Orchestra Society, Thomas Scherman;
CBS/Sony CD MPK 52537;
Sendemanuskript für BR4; Produktion: 1.10.97;
Erstsendung: 6.10.1997, 23:oo-24:oo, "Montagsthema"
Christoph Schlüren, 10/97
|