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Der finnische Symphoniker Kalevi Aho

Zerbrochene Form und Grenzerweiterung

Obwohl ich als Kind lange Zeit autodidaktisch komponierte, wollte ich zuerst d alten Formen beherrschen, bevor ich mich ungehinder

ue Wege begeben würde. Vielleicht rührt auch von diesen praktischen Erfahrungen ein Bedarf nach Fusion her, der das Polystilistische so reizvoll für mich macht – das ist mag ein postmodernistischer Aspekt sein, obwohl mein Komponieren zugleich eine aktive Kritik der Postmoderne ist. Aber ich denke, daß ein Komponist fähig sein sollte, jederlei Musik zu schreiben, in allen erdenklichen Stilarten. Ich jedenfalls werde auch weiterhin versuchen, die Stile zu 'verheiraten', oder besser: unablässig meine persönlichen Grenzen zu erweitern."

Kalevi Aho darf heute als Finnlands führender Symphoniker gelten. Er und der in Kaustinen lebende, fünf Jahre ältere Pehr Henrik Nordgren sind es, die in dem musikalischen kleinen Land seit dem Verstummen Joonas Kokkonens am fruchtbarsten und originellsten die von Jean Sibelius so grandios aufgerissene symphonische Perspektive erweitern. Nordgren und Aho sind sehr unterschiedliche Gestalten. Nordgrens Zugang zur Form ist ein fast ausschließlich unbewußter, intuitiver; außer seiner Ersten und Dritten muten seine Symphonien wie gewaltige Improvisationen an. Seine Sprache hat etwas Unbehauenes und bei aller Genialität und Eigenheit ist die technische Ausführung, hinsichtlich Harmonik, Instrumentation und zusammenhängender Formung, oftmals diskutabel – Nordgrens ständige Suche nach der existenziellen Urerfahrung, seine rauhe Verweigerung gegen balancierende Raffinesse und Kalkül injizieren geradezu die ständig wiederkehrende Möglichkeit des Scheiterns. Aho mag nicht immer sofort so unverkennbar scheinen, in seiner tonsetzerischen Flexibilität und souveränen Verfügung über die Mittel, derer er zur Durchführung seiner Visionen bedarf, sind chamäleonartige Bildungen mit eingeschlossen. Doch sein Personalstil, der auf den Klippen der ewigen Paradoxie, zwischen unerbittlichem Ernst und ungezügelter Kapriziosität, haust, ist nicht weniger persönlich und durchaus unverwechselbar. Nordgren und Aho gemeinsam ist die narrative Haltung, das Erzählen nicht-gegenständlicher Geschichten, das mythische Element, die immer untergründig vorhandene Dunkelheit und Melancholie, Signum des Nordens. Dabei hat sich Aho erfolgreich bemüht, eine schwerelosere Sprache zu entwickeln, die darüber nichts an dramatischer Schlagkraft einbüßt. Wer je seine dem organisierten Irrsinn verfallene Zweite Kammersymphonie mit dem Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas zu hören bekam, weiß, welche Abgründigkeit, tief verwurzelte Kraft, Explosivität und expressive Dichte in Ahos Musik verborgen liegen.

Außer auf symphonischem ist Aho auch auf kammermusikalischem Gebiet einer der interessantesten, einfallsreichsten und technisch beschlagensten Komponisten unserer Zeit, ein Meister anti-scholastischer Durchführungs-Psychologie. Diese Meisterschaft schlägt sich vielleicht am brillantesten in seinen Opern nieder, sicher (in merkwürdigem schöpferischen Widerspiel zu Nordgrens gleichfalls zeitloser Tschechow-Kammeroper 'Der schwarze Mönch' und dessen Terrorismus-Drama 'Alex') den eigentlichen Gipfelleistungen des neueren finnischen Musiktheaters. Über die schwarz-rot-goldnen Grenzen ist die Kunde von Ahos verwegen überbordender Opernbesessenheit noch nicht gedrungen, und nachdem man 1996 zur Uraufführung seiner überwältigenden Tier-ist-Mensch-Apotheose des Miesen, Maroden und Geschmacklosen, der 1985-87 komponierten Oper 'Aus dem Leben der Insekten' – das gefundene Fressen für eine adäquate Greenaway-Inszenierung! –, wenigstens dreißig Repräsenten deutscher Opernhäuser einzuladen versucht hatte, erschien nicht einer. Kommen wird diese Oper irgendwann auch hierzulande, und Erfolg wird sie haben. Aber auch der Symphoniker Kalevi Aho ist bei unseren Orchestern und Dirigenten noch eine unerschlossene Nummer. Zum Glück widmet sich das schwedische Speziallabel BIS mit großer Hingabe seinem Aho-Zyklus, der auf die Komplettierung zumindest des orchestralen und kammermusikalischen Schaffens hin angelegt ist und bislang sieben CDs umfaßt. Die Einspielungen entstehen allesamt in Lahti, wo Aho (ähnlich Nordgren in Kokkola) schon seit langem Composer-in-residence ist – ein Brauch, der inzwischen (auch das ist typisch für das stets in Expansion befindliche finnische Musikleben) von einem Großteil der finnischen Orchester übernommen wurde. Hoch lebe der Hofkomponist der Jahrtausendwende!

Kalevi Aho wurde am 9. März 1949 im südfinnischen Forssa geboren. Seine musikalische Leidenschaft wurde "von meinem Musiklehrer entfacht, der ein Mandolinenorchester gründete, in dem ich als Neunjähriger anfing. Zugleich begann ich auch mit dem Geigenspiel, worin er mich jahrelang kostenlos unterrichtete. Seit ich musiziere, komponiere ich auch. Das war für mich sofort eine natürliche Ausdrucksweise. Zehn Jahre alt, komponierte ich zunächst einstimmige Melodien und stellte mir dann die zweite Stimme dazu vor. So entstanden zweistimmige Sachen, undsofort. Als ich fünfzehn Jahre alt war, bekam ich auch ein Klavier und begann zu spielen. Wohl durch das Geigenspiel bedingt, war mein Komponieren seit jeher sehr linear orientiert, melodisch weit gespannt, auch hatte ich immer schon eine starke Neigung zum Polyphonischen. Am Anfang bewunderte ich vor allem die großen romantischen Symphoniker – Favoriten waren zum Beispiel Tschaikowskijs Violinkonzert, Brahms’ Vierte und Sibelius’ Vierte Symphonie. Dann kamen allmählich die neueren Meister dazu." Während der Schulzeit schrieb Aho einige Streichquartette und Solo-Violinsonaten, ein kleines Orchesterwerk usw. – alles ohne Anleitung: "Ich entwickelte für mich selbst meine Tonsprache, durchs Hören." Nach dem Abitur war er unsicher, ob er ein genuiner Komponist sein könne, und begann – parallel zur Ausbildung an der Sibelius-Akademie – ein Mathematik-Studium. Doch schon im ersten Studienjahr, als Zwanzigjähriger, schrieb er das Werk, das ihm den Durchbruch vor einem größeren Fachpublikum sichern sollte: seine Erste Symphonie, "und da verstand ich, daß ich das mit der Mathematik sein lassen konnte". Sein Lehrer war Einojuhani Rautavaara, zu dessen symphonischem Werk Aho später eine lesenswerte Einführung verfaßte, die als Paperback von Fazer, dem Verleger beider Komponisten (in Deutschland vertreten durch Boosey & Hawkes), erhältlich ist. "Rautavaara war ein sehr guter Lehrer. Er ließ mir freie Hand und förderte das, was ich zu sagen hatte. Seine Kritik setzte von meiner Warte aus an, nicht von seiner, indem er versuchte, zu verstehen, was ich ausdrücken wollte. Auch mein anderer Lehrer, Boris Blacher in Berlin, hatte diese Eigenschaft. Zudem verstanden es beide ausgezeichnet, das Technische zu vermitteln. Ich habe mir meine Lehrer nicht ausgesucht. Es war glücklicher Zufall."

Als Symphoniker ging Aho sofort weiter. Schon in der Ersten Symphonie ist der Hang zum Polystilistischen stark ausgeprägt, quasi-barock im 3. Satz. 1970-73 entstanden die Symphonien Nr. 2-4: "Die Erste ist pluralistisch – stilistisch ist alles möglich –, dabei im Material sehr konzentriert, alles beruht auf einer Melodie. Wichtig ist schon hier das psychologische Drama und die narrative Idee vom Komponieren: das imaginative Programm, ohne konkrete Handlung. Dieses Programm ist sozusagen jedem Hörer beliebig überlassen. Die Zweite Symphonie ist noch konzentrierter, eine Tripelfuge in medias.Die Dritte beginnt wie ein Violinkonzert, wurde aber unwillkürlich zur Symphonie mit beherrschender Violine in den Ecksätzen. Noch vor der Dritten beendete ich meine Vierte in drei Sätzen, eine Dreiviertelstunde lang. Mein ganzes Lebensgefühl ist eingeflossen in dieses opus ultimum eines jungen Komponisten. Als ich fertig war, war ich bereit für den Tod, der dann aber nicht kam. Das Werk ist sicher auch geprägt von der gespannten, einmaligen Atmosphäre des damaligen Westberlin. Zu jener Zeit war übrigens Gustav Mahler für mich von höchster Bedeutung. Heute denke ich, daß er als Komponist ein bißchen zu narzißtisch war. Noch deutlicher wirkten sich meine Berlin-Eindrücke in der Fünftenaus, meinem kompliziertesten Werk. Hier ist es nicht nur die Polyphonie verschiedener Stimmen, sondern die Polyphonie verschiedener Musiken divergierender Herkunft, die sich übereinandertürmt. Das Material war für mich selbst kaum mehr zu kontrollieren und okkupierte mich zwei Jahre lang. Danach hatte ich das Gefühl, als Komponmist gäbe es nun keine unüberwindlichen Hindernisse mehr für mich. In dieser Symphonie war für mich, um mit Mahler zu sprechen, nicht nur 'die ganze Welt enthalten', nein, sie wird gesprengt! Es endet in einem organisierten Chaos, welches auch so klingen soll: in einer Apotheose der Tragödie unserer Zivilisation."

In der auch sehr komplexen Sechsten Symphonie (1979-80) wollte Aho "die virtuosen Möglichkeiten des Orchesters und seine individuellen Kräfte erforschen. Es endete in einer rechten Überforderung, egal für welches Orchester: Es ist höllisch für die Streicher, fast jede Stimme ist schwieriger als die großen Violinkonzerte! Als Geiger wußte ich zwar, was für das Instrument möglich ist; ich habe alle Fingersätze und Bogenstriche bei der Niederschrift im Kopf, aber es wäre vielleicht besser gewesen, die Ausführungsvorschläge gleich mit zu notieren. Im Kopfsatz ereignet sich eine Katastrophe. Das kommt bei mir ja öfter vor. Aber ich habe keine katastrophischen Ideologien. Es gibt einfach so ungeheure Spannungen, etwas muß dabei passieren, und die Struktur zerbricht daran." Mithin: eine 'zerbrechende Form' auch in der Sechsten, vielleicht 'modernsten' Symphonie Ahos. Danach hatte er "die Gewißheit, Symphonien schreiben zu können. Ich hätte 'in Produktion gehen' können, vielleicht nicht gerade wie Miaskowskij, aber… nun, es war ein Endpunkt" – der mit einem Violinkonzert aufgefangen wurde, das zu den dankbarsten und fesselndsten Beiträgen fürs Repertoire in der zweiten Jahrhunderthälfte zählen dürfte. Durchaus in manchem – auch der Organisation des Tonmaterials – von der Zweiten Wiener Schule befruchtet, ist es eine schöne, kompakte und vitale Ergänzung zu den neueren Schlachtrössern von Berg, Bartók, Prokofjew und Schostakowitsch, ausgezeichnet zudem durch vortreffliche Balance zwischen Solist und Orchester, was heute sehr selten ist und meist zu zahmer Ausdrucksweise führt – nicht so bei Aho, dessen Siebente Symphonie gegen Ende der achtziger Jahre die symphonische Pause beschloß. Sie entstand "durch Zufall. Sie ist die symphonische Essenz meiner Oper 'Aus dem Leben der Insekten', die zu lange ungespielt liegenblieb. Die Siebente ist nicht narrativ, und der Hörer muß das zugrundeliegende Programm nicht kennen. Die sechs Sätze haben überhaupt nichts Gemeinsames, sondern ergänzen sich durch ihre Verschiedenheit. Die Kontraste werden von Satz zu Satz gigantischer und grotesker. Zum Schluß wird die Stimmung aber menschlicher, der wahre Hintergrund der Satire entblößt sich im vieldimensionalen Kontext."

Die Idee zur 1993 entstandenen Achten Symphonie überkam Aho in der Einsamkeit des lappischen Eismeers, wo er sich zur Zeit der Mitternachtssonne aufhielt: "Eine Reise zum Licht, das nicht endet, sozusagen zum 'ewigen Licht'. Es wurde eine Reise durch die Innenwelt, die in vielem einer Lebensreise gleichen mag. Die Form ist ungewöhnlich, mit drei Scherzi, durchbrochen durch drei Orgel-Interludien, das Ganze gerahmt von Introduktion und Coda. In der Einleitung sind die wesentlichen Materialien enthalten. In der Symphonie sind viele kritische psychologische Situationen präsent, die nicht in die Katastrophe führen, sondern überwunden werden. Die Uraufführung war mein größter Erfolg, die Menschen haben sogar geweint." Und das bei einem Werk, dessen thematischer Kern ganz unprätentiös das 'Hänschen klein'-Thema ist (der eher seltene Fall eines Zitats bei Aho). Nach der Solo-Orgel in der Achten ist der Protagonist der Neunten eine Posaune: "Es ist kein Konzert, sondern eine Symphonie mit obligatem Solisten – eine Rolle ähnlich dem Altsaxophon in der Dritten Symphonie von Anders Eliasson. Es ist mein gelungenster Versuch in 'naturhaft' polystilistischer Fusion. Entscheidend ist die Verwirklichung der Schlußsteigerung, was auf der CD nicht wirklich rüberkommt. Die Idee der kugelförmigen Zeit, wie Bernd Alois Zimmermann sie proklamierte, ist die Basis für die Form und überhaupt für die Dramaturgie: ein Ineinander von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Am Anfang des 2. Satzes steht die Vorstellung einer Musik vom Ende der Zeiten, jedenfalls was die menschliche Existenz betrifft – alles ist vorbei. Doch dann durchdringen sich die Zeitebenen wiederum, und im Finale sind wir wieder in der Gegenwart."

Die 10. Symphonie entstand 1996 "in der Art einer Verehrung des großen romantischen symphonischen Erbes. Sie ist monumental und enthält eine Beschwörung von Bruckners Neunter Symphonie." Und nunmehr steht, zur Einweihung der neuen, hölzernen Konzerthalle in Lahti am 9. März 2000, die Elfte Symphonie Kalevi Ahos für sechs Schlagzeuger und Orchester zur Uraufführung an, die vom schwedischen Kroumata-Ensemble zusammen mit der Sinfonia Lahti unter Chefdirigent Osmo Vänskä bestritten wird. "Besonderes Augenmerk lag hier auf Rhythmik und Klangfarbe, so die hypnotischen Rhythmen im 2. Satz, der über 11-12 Minuten ein einziges Crescendo bildet." Der letzte Satz ist über einen liegenden Streicherakkord komponiert (g-d-a-e-Flageoletts), durchgehend pianissimo und zerbrechlich, mit Bläsersolisten und Schlagzeug rund ums Publikum verteilt. "Zum Schluß entfernen sich die Schlagzeuger und spielen im Weggehen, und das Orchester bleibt alleine, der Quintenakkord verklingt." Und man dürfte wieder einmal erfahren, wie Kalevi Aho ein Leben lang damit beschäftigt ist, die Menschen zu beschenken, indem er seine persönlichen Grenzen erweitert.

Christoph Schlüren

(erweiterte Fassung eines Portraits
für die Zeitschrift 'Klassik heute")