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Peteris Vasks

2. Streichquartett "Sommergesänge" – Unmittelbarkeit des Ausdrucks

"Ich habe keine Wahl. Jede meiner Kompositionen ist eine erste und letzte. Mit Maximum - an Konzentration und Expressivität. Du magst meine Musik gut oder schlecht finden, das ist eine andere Sache. Aber ich muß sagen können: 'Besser habe ich es nicht gekonnt. Ich habe alles gegeben'."

Peteris Vasks, 1995

Als Sohn eines baptistischen Pfarrers in der russifizierten Lettischen SSR war Peteris Vasks, auch weil er sich bis zur Auflösung des Sowjetreichs seine politische Unschuld bewahrte, von der Obrigkeit als nicht bemerkenswerte, kaum lebenswerte Person angesehen. Dies sorgte für eine umso stärkere und nachhaltigere Identifikation mit dem Leid und nicht versiegenden Freiheitswillen seiner lettischen Landsleute, die offiziell nicht einmal ihre eigene Sprache sprechen durften. So wurden in seiner Heimat viele Werke, auch solche, die gar nicht dahingehend intendiert waren, als Ausdruck nationaler Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen, ungebrochenen Stolzes auf innerliche Unabhängigkeit verstanden. Titel wie 'Botschaft', 'Lauda', 'Stimmen' (mit dem Schlußsatz 'Stimme des Gewissens'), 'Musica dolorosa', 'Den entflogenen Vögeln' oder 'Landschaften der verbrannten Erde' fügen sich solchen Deutungen, und auch der atmosphärische und dramatische Gehalt entspricht dem gewachsenen Pathos inneren Widerstands gegen die Unterdrücker. Am meisten aber drückt sich das in a-cappella-Chorwerken wie 'Zemgale' und noch mehr dem 1993, nach Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit, entstandenen 'Litene' (das sich auf die lettische Paralleltragödie zu Katyn bezieht) aus. In diesen Werken sehr gegenständlichen Schreckensnachvollzugs ist zudem der Einfluß der polnischen Avantgarde am evidentesten: Vor allem Lutoslawski hat in Vasks' tonsetzerischem Bewußtsein und künstlerischen Gewissen verbindliche Spuren hinterlassen. Auf der anderen Seite findet sich auch eine monotonale Dimension, die offenkundig auf Arvo Pärt verweist, ohne je dessen emotionale Distanz zu teilen. Im Gegenteil: Vasks will so unmittelbar wie möglich seelische Pein und Freude an der Existenz

 

ausdrücken, wobei die Gedanken, die klanglichen Resultate von großer Einfachheit und suggestivem Gefühlsüberschwang bestimmt sind. Peteris Vasks ist ein naiver Komponist, insofern, als diese Naivität bewußt gewählt ist, gleich einem 'naiven' Maler, der auch die anderen Kommunikationsebenen kennt, aber sich aus Gründen unverstellter Mitteilsamkeit für den direkteren, weniger artifiziellen Weg mit allen Vorzügen und Nachteilen entschieden hat, um sozusagen mit Uhrmacherwerkzeug an lebensgroßen Skulpturen zu feilen.

Streichquartett Nr. 2 'Sommergesänge'

Vasks' zweites Streichquartett, das den Titel 'Sommergesänge' trägt, wurde zwischen Dezember 1983 und Sommer 1984 komponiert und gliedert sich in drei Sätze: 'Erblühen', 'Vögel' und 'Elegie'.

"Der erste Teil umfaßt zwei Abschnitte - eine Einleitung, die aus der Stille anhebt und in sie zurück verschwindet, und eine stetige Entwicklung bis zum hymnischen Höhepunkt, auf einem Quartmotiv. Der zweite Teil ist komplizierter - häufigere Wechsel der Charaktere, ausgedehntere Crescendi, expressive Kulminationen. Die vorherrschende Stimmung - die Lobpreisung der Natur - grün und voller Leben. Der dritte Teil - Elegie. Nach dem Unisono des ganzen Quartetts: ausdrucksvoll klagender Gesang in hohen Registern. Eine meditative Episode folgt - Bratschensolo, dann kanonische Gesänge der Geigen. Unerwartet kehrt der expressive Abschnitt wieder. Nach dem Höhepunkt kehrt allmählich Frieden ein. Die Stimmen der davonziehenden Vögel tönen immer ferner und verschwinden." Der ganze Schlußsatz ist metrisch sehr frei notiert, der Moment maximaler Spannung reißt mit einem verzweifelten Aufwärtscrescendo ab, das eine Folge rituell gleichförmiger Abwärts-Crescendi nach sich zieht - zur Besinnung kommend.

Christoph Schlüren