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Mark-Anthony Turnage

"Kai" für Solo-Cello und Ensemble (1989-90)
Musik für den Menschen von der Straße

"Ich bin streng katholisch erzogen worden. Deshalb habe ich gewisse Aversionen gegen katholische Dinge. Und daher fasziniert mich körperliche Kunst wie diejenige Francis Bacons."

Geboren 1960 in Essex, kam Mark-Anthony Turnage als Kind via Schallplatte mit klassischer Musik in Berührung. Die ersten Erfahrungen mit zeitgenössischer Musik, vor allem von Stockhausen, eröffneten ihm eine neue Klangsinnlichkeit, und sein Interesse richtete sich fast ausschließlich auf die künstlerischen und menschlichen Werte unserer Zeit. Er studierte am Londoner Royal College of Music bei Oliver Knussen und John Lambert und setzte seine Studien in Tanglewood bei Gunther Schuller und Hans Werner Henze fort. Zunehmend orientierte Turnage sich an der sozialen Basis, am "Menschen von der Straße" mit seinen Nöten und Freuden, was seinem Schaffen starke Komponenten alltäglich realistischen und sentimentalen Ursprungs zufließen ließ. Seinem Ausdrucksbedarf besonders zuträgliche Quellen fand er im Jazz: "Seit 1978 war ich besessen von Jazz-Musik. Plötzlich fand ich heraus, daß diese Weltklasse-Leute – Thelonious Monk, John Coltrane, Miles Davis –, die aus der Musikgeschichte ausgeklammert wurden, in den fünfziger Jahren Sachen gemacht hatten, die interessanter waren als zum Beispiel Boulez’ 'Pli selon pli'."

Seinen Durchbruch hatte Turnage 1988 bei der ersten Münchner Musiktheater-Biennale mit der Oper 'Greek' nach Steven Berkoff, bis heute der erfolgreichsten Oper, die dieses Forum hervorgebracht hat. In 'Greek' traf Turnages körperhafte, auch von Rockklängen beeinflußte Tonsprache in zündender Weise den Nerv der Zeit: "Musik vergangener Zeiten interessiert mich kaum. Was hat sie mit mir zu tun? Was mich musikalisch beschäftigt, ist das Überleben des Individuums." Eine besonders ergiebige Phase schöpferischer Entwicklung verbrachte Turnage 1989-92 als Composer in Association des City of Birmingham Symphony Orchestra. Über das Verfertigen von Auftragswerken hinaus brachte er sich auch persönlich in organisatorische und didaktische Angelegenheiten ein und pflegte intensive Kontakte zu den Musikern, denen er die Stücke geradezu "auf den Leib" schrieb. Die 1989 entstandenen 'Three Screaming Popes' für Orchester sollten sich unter Simon Rattles Leitung als besonders erfolgreiches Tourneestück erweisen. Großes Aufsehen erregte Turnage zuletzt mit dem siebzigminütigen Werk 'Blood on the Floor', geschrieben für die Jazzmusiker John Scofield (Gitarre), Peter Erskine (Schlagzeug) und Martin Robertson (Saxophon), und das Ensemble Modern. Immer wieder wurde hervorgehoben, daß seine Fusion von zeitgenössischer E-Musik-Sprache mit Jazz und anderen Stilidiomen "von der Straße" mit dem beliebigen "Crossover" unserer Tage nichts zu tun hat.

 

 

Requiem für einen Cellisten

"'Kai' entstand im Andenken an Kai Scheffler – erster Cellist und eines der zentralen Mitglieder des Ensemble Modern in Frankfurt – nach dessen tragisch frühem Tod 1989. Ich kannte ihn erst kurze Zeit (er spielte die Uraufführung meiner Oper 'Greek' in München im Juni ’88 mit), und sowohl sein Spiel als seine Persönlichkeit hinterließen einen tiefen Eindruck in mir. Die Nachricht von seinem Tod erreichte mich, als ich gerade an einer Arie mit dem Titel 'Sleep on' arbeitete, aus meiner jetzt zurückgezogenen Oper 'Mingus', und ich beschloß, diese Musik zu einem kurzen, Requiem-artigen Satz zu erweitern, der jetzt den langsamen Schlußabschnitt von 'Kai' bildet.

Den Kern der Besetzung bildet ein Jazz-Ensemble, mit zwei Saxophonen, Baßgitarre und Schlagzeug, wobei das Solocello fast ausschließlich lyrisch eingesetzt ist und seine weiten, trauererfüllten Bögen über der manchmal aggressiven, klaustrophobischen Begleitung spannt. Die ganze Komposition hat einen sehr persönlichen Charakter. Natürlich ist das Cello kein richtiges Jazzinstrument, doch stehen ihm Jazzelemente nicht schlecht an. Das Stück enthält eine Reihe von Anspielungen an Charlie Parker und ist wohl auch ein wenig vom Stil der Mingus-Band beeinflußt, wobei Mingus wesentlich chaotischer und unkontrollierter ist als ich.

'Kai' wurde für die Birmingham Contemporary Music Group und Simon Rattle während meiner dreijährigen Bindung an das City of Birmingham Symphony Orchestra geschrieben. Die Uraufführung fand am 18. Dezember 1990 in Birmingham statt. Ich bin besonders dankbar für die Möglichkeit, die ich dadurch erhielt, eng mit den Musikern des Orchesters zusammenzuarbeiten, in diesem Fall vor allem mit Ulrich Heinen."

Mark-Anthony Turnage, 1998

'Kai' besteht aus vier ineinander übergehenden Teilen in der Folge langsam–schnell–schnell–langsam. Die schnelleren Mittelteile sind durch eine kurze Solokadenz des Cellos verbunden. Danach schweigt der Cellist bis zum Beginn des ausgedehnten langsamen vierten Teils. Der erste schnelle Abschnitt wird unterbrochen von einer Reminiszenz an den langsamen ersten Teil, und im vierten Teil wird abschließend nach einer Generalpause der Anfang des Stücks mit seinem kummervollen Charakter wieder aufgegriffen. Die langsamen Teile referieren naturgemäß mehr auf den harmonisch sentimentalen, die schnellen auf den vital swingenden Aspekten des Jazz. In der vorzüglich gearbeiteten, sparsam ausgehörten Einfachheit ist 'Kai' auch dem mit zeitgenössischer Musik ungeübten Hörer unmittelbar zugänglich.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Salzburger Festspiele, 1998]