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Interpretationen im Vergleich

Robert Schumann

1

1. Satz Anfang Tt. 1-102

Philharmonia Orchestra, Riccardo Muti (1977/78)

EMI CD 767319-2 (LC 06646)

CD 2, Track 2, 0'00-1'41 (Dauer: 1'41)

Zeitlebens lagen die zwei Seelen in Robert Schumanns Brust im Widerstreit und beflügelten ihn ebenso zu unglaublichen Leistungen wie sie ihn in tiefste Depression drängten: 'Florestan' und 'Eusebius', denen der junge Schumann bald das eine, bald das andere seiner Werke zuschrieb. Später wurde Schumann mit dieser symbolischen Projektion seiner gespaltenen Innenwelt zurückhaltender. An die Stelle des spielerischen Zugs trat zusehends der verhängnisvolle. Davon ist in der 'Rheinischen' Symphonie, die nur etwas mehr als drei Jahre vor dem Verzweiflungssprung in den Rhein entstand, vordergründig nichts zu spüren. Die heroische, optimistische Seite überwiegt im ersten und mehr noch im letzten Satz eindeutig das Grüblerische, nach innen Gekehrte, Selbstgefährdende. Die gärende Unruhe ist viel gebändigter als in den zwei vorangegangenen Symphonien. Es ist ein wenig, als hätte Schumann mit dieser Musik sich selbst Halt geben wollen. Und doch, wenn man den Kopfsatz anhört, so kann man feststellen, daß es auch hier der Widerstreit zweier innerer Wesen ist, auf dem das Hörerlebnis beruht. Das ist ein grundlegend anderes Prinzip als bei Beethoven, wo es die Welten zweier Themen sind, die bewußt in Konflikt miteinander gebracht werden.

Die 'Rheinische' Symphonie entstand in der unglaublich kurzen Zeitspanne von einem Monat, zwischen dem 7. November und dem 9. Dezember 1850 unmittelbar anschließend an das Cellokonzert. Es war eine letzte sehr glückliche Phase in Schumanns Leben. Er war am 2. September von Dresden nach Düsseldorf übergesiedelt, wo er als Nachfolger Ferdinand Hillers die Leitung des 'Gesangs-Musikvereins' übernahm und zunächst freudigster Zustimmung begegnete. Die fieberhafte Niederschrift ist typisch und entsprach durchaus seinem Ideal, denn, so Schumann: "Ich kann nicht begreifen, daß etwas Besonderes daran sei, wenn man eine Symphonie in einem Monat komponiert. In derselben Zeit hat Händel ein ganzes Oratorium geschaffen. Wer überhaupt was machen kann, muß es auch schnell machen können, und je schneller, desto besser. Der Gedankenfluß und Ideengang ist wahrer und natürlicher, als bei langer Reflexion." Die 'Rheinische' Symphonie op. 97 in Es-Dur, der Tonart von Beethovens 'Eroica', ist eigentlich Schumanns letzter Beitrag zur Symphonik, dem nur noch ein Jahr später die Revision der eigentlichen Zweiten, der d-moll-Symphonie folgte, welche daraufhin als Vierte gezählt wurde. Nimmt man noch die verworfene frühe 'Zwickauer Symphonie' hinzu, so ist die 'Rheinische' tatsächlich nicht seine Dritte, sondern seine Fünfte Symphonie. Sie umfaßt auffallenderweise nicht vier, sondern fünf Sätze sehr unterschiedlichen Charakters, die motivisch eng miteinander verwandt sind, mit Ausnahme des intermezzohaft eingeschobenen dritten Satzes. Die melodische Urzelle oder das Kernintervall der Symphonie ist die Quarte, die – auf- beziehungsweise absteigend – den ersten, zweiten und vierten Satz eröffnet sowie in melodisch ausgefüllter Form das Finale. Der Titel 'Rheinische' stammt nicht von Schumann, der programmatische Zusätze nicht schätzte, da sie die Vorstellung des Hörers auf Abwege leiten. Doch bezeichnete er sie als ein Werk, welches "hier und da ein Stück Leben widerspiegelt" und sprach davon, daß in ihr "volkstümliche Elemente vorwalten".

Robert Schumann ist als Orchesterkomponist bis heute bei Publikum, Theoretikern und Musikern, insbesondere Dirigenten, umstritten. Grund dafür ist seine Instrumentation, die oft als monochrom, eintönig, dick und unidiomatisch angesehen wird und tatsächlich häufig, vor allem in den massiver orchestrierten Ecksätzen der Symphonien, ernstliche Balanceprobleme aufwirft. Diese Probleme sind allerdings bis auf wenige Passagen mit strukturierender Bewußtheit und Einfühlungswillen von Seiten der Dirigenten ohne Änderung der Instrumentation lösbar. Die Vorwürfe sind nicht völlig von der Hand zu weisen, wenngleich die 'Rheinische' Symphonie von solchen Schwierigkeiten nur im ersten Satz mit seiner sehr kompakten Klangwelt betroffen ist, und auch da hinsichtlich der Balance nur wenigen Fällen. Am auffallendsten ist da wohl die triumphale Wiederkehr des Hauptthemas kurz nach dem Anfang, im Anschluß an die Ausweichung ins dunkle g-moll, wo sich zum Thema eine Imitation gesellt, die oft kaum oder gar nicht hörbar ist. So auch in der Aufnahme eingangs dieser Sendung unter Riccardo Muti, die im übrigen auf hohem musikantischen Niveau und mit erlesener Klangkultur als typisch für den Mainstream heutiger Schumann-Aufführung anzusehen ist. In der folgenden, sehr schnellen Live-Aufnahme des Radio-Symphonieorchesters Stuttgart unter Carl Schuricht vom 15. September 1960 ist nicht nur diese Imitation viel deutlicher. Schurichts Auffassung ist straff, drängend, energiegeladen, oft fast asketisch im Klang, doch mit inniger Empfindung. Er läßt die Kontraste stark ausspielen und ist nun, abermals mit dem Beginn, zu hören.

2

1. Satz Anfang Tt. 1-133

Radio-Symphonieorchester Stuttgart, Carl Schuricht; live, Stuttgart, 15.9.1960

Archiphon CD 1 (LC 07730)

Track 1, 0'03-1'57 (Dauer: 1'54)

Der erste Satz der 'Rheinischen' Symphonie, mit der Charakterangabe 'Lebhaft', lebt in seiner rhythmischen Energie stark vom Widerspiel zwischen dem in ganzen Takten pulsierenden Dreiviertelmetrum und dem quer dazu zweitaktig aufbegehrenden Hauptthema. Diese widerstrebende Energie ist nicht weniger in dem breiten Tempo zu erfahren, welches Sergiu Celibidache 1988 im Konzert mit den Münchner Philharmonikern anschlug. Was hier besonders auffällt, ist die durchweg gesangliche Phrasierung und der ungeachtet des breiten Zeitmaßes federnde, fließende Rhythmus. Die Imitation beim zweiten Auftritt des Hauptthemas ist, auch dank einer hochoktavierten Klarinette, vom ersten Moment an gestochen klar. Die Überleitung zum lyrischen Seitenthema in g-moll ist weitdisponiert, dasselbe im Charakter sehr inwärts gewendet.

3

1. Satz Anfang Tt. 1-133

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 1, 0'00-2'27 (Dauer: 2'27)

Mit dem mit ungefähr fünfzig Musikern kleinbesetzten Orchestre Révolutionnaire et Romantique auf Originalinstrumenten unter John Eliot Gardiner meint man, eine andere Musik zu hören. Im Booklet formulierte Gardiner seine Zielsetzung, "nach mehr als einem Jahrhundert der Fehlurteile und relativen Vernachlässigung Schumanns großen Werken zu ihrem Recht zu verhelfen" und "die falsche Patina spätromantischen Orchesterklangs zu entfernen". Seine Darstellung ist kleingliedrig, zierlich verspielt bis präzise knallend mit absichtlich früher abreißenden Noten, im Forte vom scharfen Blech dominiert. Die Akzente kommen sehr gleichförmig, der Klang ist von silbrig schlanker Grazie. Die leisen Passagen könnten tragfähiger sein, die Hauptthema-Imitation ist weitgehend verdeckt.

4

1. Satz Anfang Tt. 1-133

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner (1997)

DG Archiv Prod. CD 457591-2 (LC 0113)

CD 3, Track 4, 0'00-1'58 (Dauer: 1'58)

Eine Sensation, wenn auch nicht unbedingt wünschenswerter Art, ist die Aufnahme des Royal Philharmonic Orchestra unter dem für seine furiosen Beethoven-Deutungen legendären René Leibowitz 1960 in London. Die drahtige Auslegung, die die Struktur, das Satzgerüst um jeden Preis zu Gehör bringen möchte, darüber den Klang oft zur Nebensache macht und im Forte stählern brilliert, weckt Neugierde. Für Leibowitz ist Phrasierung weitgehend gleichbedeutend mit Deutlichkeit, Klangbalance mit Durchsichtigkeit, und es gelingt ihm sozusagen, Unmögliches möglich zu machen. Doch wenn es anders klingt als sonst, so liegt das auch daran, daß er gleich in den ersten Takten zwei Trompeteneinwürfe hinzukomponiert, die grell in den Vordergrund gezogen sind. Das ist kein Scherz.

5

1. Satz Anfang Tt. 1-101

Royal Philharmonic Orchestra, René Leibowitz (London, 1960)

Chesky CD 96 (Vertrieb: in-akustik, LC 6891)

Track 2, 0'00-1'32 (Dauer: 1'32)

Schumann hat am Ende der Exposition des machtvollen Kopfsatzes seiner 'Rheinischen' entgegen der Gepflogenheit keine Wiederholungszeichen gesetzt, was bei der ausgedehnten Vorführung zumal des Hauptthemas sicher eine treffsichere Entscheidung war. Die Durchführung bringt nun, wie üblich bei ihm, keine motivische Zerlegungsarbeit nach dem Vorbild Beethovens, sondern reiht Episoden des vorgestellten Themenmaterials als Erfüllungsgehilfen des sogkräftigen harmonischen Plans aneinander. Die für Schumann typische Verschränkung der tradierten Formabschnitte wird hier so weit getrieben, daß eine Scheinreprise in der Haupttonart, wo das Thema in den Hörnern erscheint, vor der eigentlichen Reprise eintritt. Letztere trotzdem eindeutig als Ziel der Entwicklung erlebbar zu machen, ist den Qualitäten des Dirigenten überantwortet. Wie gut dies Dimitri Mitropoulos 1947 mit dem Minneapolis Symphony Orchestra geglückt ist, kann man angesichts der nivellierenden Klangqualität kaum beurteilen. Doch seine feurig-impulsive Gestaltung, sein Instinkt fürs Melodische und den Phrasenzusammenhang, sein unwiderstehlicher Vorwärtsdrang ziehen nach wie vor in Bann. In dem folgenden Ausschnitt, der mit der Exposition des Seitenthemas beginnt, ist das nicht effekthascherisch benutzte Rubato, das Spiel mit wechselnden Tempi zur Verdeutlichung der Charaktere hervorstechend. Er staut zum Schluß der Exposition das Tempo, um die Durchführungsenergie umso klarer, sehr transparent und mit großer Dramatik zu entfesseln.

6

1. Satz, Tt. 95-427

Minneapolis Symphony Orchestra, Dimitri Mitropoulos (1947)

Grammofono CD AB 78750 (Original: RCA, LC 0316)

Track 1, 1'34-6'57 (Dauer: 5'23)

Piero Coppola besorgte bereits 1933 in Paris eine Aufnahme der 'Rheinischen', die mit einer Gesamtdauer von weniger als 26 Minuten bis heute die geschwindeste geblieben ist. Das Bedürfnis nach straffen Zeitmaßen hing wohl auch mit den Bedingungen der Schellackplatte zusammen. Das Ergebnis ist sehr flüssig, meist durchsichtig, recht leichtgewichtig und oberflächlich. Es folgt ein Ausschnitt mit der Rückleitung zur Reprise, die hier nicht überzeugend vorbereitet wird.

7

1. Satz, Tt. 337-427

Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire, Piero Coppola (Paris, 1933)

Dante-LYS CD 502 (Vertrieb: Musikwelt, LC 3722)

Track 5, 4'32-5'49 (Dauer: 1'17)

René Leibowitz können wir uns mit derselben Passage, der Rückleitung zur Reprise im Kopfsatz der 'Rheinischen' Symphonie, aus bereits erwähnten Gründen nicht entgehen lassen. Diesmal erlaubt er sich, die vier Hörner in den ersten vier Takten der Scheinreprise mit Dämpfern spielen zu lassen – wie übrigens auch Toscanini, bei dem sie aber nicht so schneidend klingen. Vielleicht war diese Retusche damals gebräuchlich, um eine Art Fernwirkung hervorzubringen, die allerdings besser auf natürlichem Wege erzielt wird. Außerdem gibt’s, wie schon zu Satzbeginn, am Anfang der Reprise die neukomponierten Trompetensignale. Auch in der Coda dieses Satzes, die ihn wie viele andere zum Beschleunigen verführt, prägt Leibowitz seine Veränderungen emphatisch und unüberhörbar dem Hörer auf. Seine Attitüde möchte der 'Rheinischen' eine durchaus revolutionäre Dimension abgewinnen. Auch sonst erregt er spätestens in der Coda einiges Aufsehen, so mit einer plötzlichen Rückung in ein beschleunigtes Tempo und – last not least – einem peppigen Crescendo auf dem Schlußakkord. Na dann…

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1. Satz, Tt. 337-585 (Schluß)

Royal Philharmonic Orchestra, René Leibowitz (London, 1960)

Chesky CD 96 (Vertrieb: in-akustik, LC 6891)

Track 2, 5'16-9'11 (Dauer: 3'55)

 

 

 

2. Satz ‚Scherzo. Sehr mäßig‘

An zweiter Stelle steht in Schumanns 'Rheinischer' Symphonie ein Scherzo in C-Dur im Dreivierteltakt mit der Tempoangabe 'Sehr mäßig'. Es vereint den gemütlichen Charakter eines Ländlers mit der harmonischen Beweglichkeit eines Menuetts. Die Form gliedert sich in den ersten Abschnitt mit dem unbeschwert fließenden Thema, welches als Anklang an das Wogen des Rheins interpretiert wurde, ein darauffolgendes Trio in a-moll, Durchführung, Reprise des ersten Abschnitts sowie eine kurze Coda. Doch so einfach ist das nicht, indem zum Beispiel die für das Trio charakteristischen Sechzehntel-Begleitfiguren schon im ersten Abschnitt die Herrschaft übernehmen und sich so die Formteile verschränken. Der Höhepunkt des Satzes wird mit einer von einer dreifachen Imitation gekrönten Steigerung in der Reprise des Hauptteils erreicht. Herbert von Karajan konnte 1971 in diesem Satz die samtene Klangkultur seiner Berliner Philharmoniker in feinsten Abschattierungen bewundernswert zur Geltung bringen, in duftiger, artifizieller Stilisierung.

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2. Satz Anfang Tt. 1-38 (Wiederholung)

Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1971)

DG CD 429672-2 (LC 0173)

CD 2, Track 2, 0'00-2'21 (Dauer: 2'21)

Mehr noch an das ruhige Dahinfließen des Rheins möchte man in Otto Klemperers extrem behäbiger Aufnahme mit dem New Philharmonia Orchestra von 1966 glauben. Er braucht mehr als eine halbe Minute länger als Celibidache, der auch nicht zu den Eiligen gehört, jedoch gegenüber Klemperer geradezu schwerelos musizieren läßt. Allerdings liegt der späte Klemperer nicht völlig daneben, wenn man die Vorschrift 'Sehr mäßig' ganz ernst nimmt. Was bei ihm lähmend wirkt, ist vor allem die sehr pauschale Phrasierung, die Betonungen zu wenig hervorhebt und Auflösungen zu handfest beläßt. Die natürliche Folge ist ein gravitätischer Eindruck mit Zug ins Monumentale, welches diesem Satz kaum ansteht.

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2. Satz Anfang Tt. 1-40 (erstes Mal)

New Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer (London, 1966)

EMI CD 763613-2 (LC 06646)

Track 2, 0'00-2'36 (Dauer: 2'36)

Nichts könnte zu Klemperers flügellahm schreitender Aufführung einen heftigeren Gegensatz bilden als die 1947-er Aufnahme des Scherzos unter dem genialen Feuerkopf Dimitri Mitropoulos. Die Tempoangabe 'Sehr mäßig' bitten wir dabei vorübergehend zu vergessen. Mitropoulos macht aus dem gemütlich-gemütvollen Schreittanz einen wilden Ritt, wenigstens ein Allegro vivace, zumal im Sechzehntelgetümmel des Mittelteils.

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2. Satz Anfang Tt. 1-38 (Wiederholung)

Minneapolis Symphony Orchestra, Dimitri Mitropoulos (1947)

Grammofono CD AB 78750 (LC 0316)

Track 2, 0'00-1'38 (Dauer: 1'38)

Carl Schuricht schlägt ein weit gemesseneres Grundtempo an als Mitropoulos, erweist sich jedoch alsbald als höchst wagemutiger, suggestiver Rubato-Gestalter, und mit dem Auftreten der Sechzehntelfiguren sprengt er die Fesseln des lieblichen Charakters und gibt Schumann so einen stark Mendelssohnschen, irrlichternd virtuosen Anstrich. Insgesamt gelingt ihm eine unnachahmlich lebendige, auch im fast Bizarren durchweg fesselnde Darstellung. Dank der unbändigen musikalischen Überzeugung, die bei Schuricht hinter seinem ganzen Tun stand, wirken seine Tempomodifikationen fast immer bezwingend. Hören Sie also das komplette Scherzo mit dem Radio-Symphonieorchester Stuttgart unter Carl Schuricht in einem Konzertmitschnitt vom 15. September 1960.

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2. Satz komplett

Radio-Symphonieorchester Stuttgart, Carl Schuricht; live, Stuttgart, 15.9.1960

Archiphon CD 1 (LC 07730)

Track 2, komplett ab 0'09 (Dauer: 5'39)

Nach dieser fulminanten, sehr eigenwilligen Aufführung unter Carl Schuricht lohnt es sich, mit Bruno Walter einen Dirigenten entgegenzusetzen, der für seinen maßvollen, elegant-transparenten und gar nicht draufgängerischen Stil bekannt ist, der zugleich ein hochsensibles Ohr für die modulatorischen Kräfte besaß. In einer Aufnahme vom 4. Februar 1941 sind die New Yorker Philharmoniker unter Walter mit Reprise und Coda des Scherzos zu hören.

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2. Satz Tt. 72-133 (Schluß)

New York Philharmonic, Bruno Walter (1941)

Sony CD SMK 64488 (LC 6868)

Track 2, 4'12-6'45 (Dauer: 2'33)

 

3. Satz ‚Nicht schnell‘

Der dritte Satz der 'Rheinischen' Symphonie steht in As-Dur und ist mit der rätselvollen Vortragsanweisung 'Nicht schnell' versehen. Die einen haben darunter ein munteres Allegretto verstanden, die anderen ein leichtfüßiges Andantino. Dieser Satz hat Intermezzo-Charakter und vermittelt zwischen dem Scherzo und dem nachfolgenden monumental feierlichen, breiten Fugatosatz. Auf ihn trifft die häufig gegen Schumann vorgebrachte Ansicht zu, es handele sich bei seinen Orchesterkompositionen um Übertragungen von Klaviersätzen auf das große Instrumentarium. Doch kann solche Einschätzung dem Stück nichts anhaben, welches aufs Glücklichste und Anmutigste dem Orchester eingeschrieben ist. Es ist eine Genrekomposition in der Art von Schumanns Klavierminiaturen. Die Form ist dreiteilig mit zwei verschwisterten Rahmenabschnitten und einem typisch Schumannschen, ergreifend innigen Mittelteil. Am Schluß folgt eine beruhigende Coda auf schwankendem As-G-Orgelpunkt. Doch auch hier sind die Formteile motivisch überlappend komponiert, indem das mit vier ansteigenden Sechzehnteln auftaktig anhebende Motiv des ersten Teils den Mittelteil mitbestimmt und so für den Gesamtverlauf einheitstiftendes Element wird. Die kammermusikalische Grundhaltung ist in diesem Satz am meisten ausgeprägt. Eine konsequent von allen Traditionen losgelöste Aufführung gaben 1988 die Münchner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache. Natürlich kann man über das extrem ruhige Tempo streiten, die völlige Verkehrung des vertrauten Gegenstands beklagen. Aber die schwebende Phrasierung ohne einen Anflug von Übertreibung, die Fülle lyrischen Verströmens, die wunderbar austarierten räumlichen Verhältnisse der Einsätze, die Kunst des wie von selbst sich ergebenden Übergangs, die bewußte Führung der fragilen Vielstimmigkeit, die tief ausgehörten Modulationen werden manchen Hörer umso mehr zu gewinnen. Nun also mit Celibidache der Beginn des dritten Satzes bis mitten ins Trio hinein.

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3. Satz Anfang Tt. 1-26

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 3, 0'00-3'28 (Dauer: 3'28)

Carl Schurichts Idee vom dritten Satz der 'Rheinischen' und der vagen Tempoangabe 'Nicht schnell' ist völlig anders als diejenige Celibidaches. Er faßt das Stück klanglich radikal kammermusikalisch auf, läßt stellenweise die Sologeige statt der Geigengruppe spielen – so gleich beim ersten Einsatz – und setzt sehr auf die Emphase des auftaktigen Zugs, freilich auf unsentimentale Art. Im Mittelteil zieht er das Tempo entschlossen an. Sein ausgiebiger Rubatogebrauch ist stets sinnvoll und natürlich. Zur Unterstreichung der motivischen Unterschiede erwirkt er den eindringlichen Kontrast zwischen Staccato und Legato. Gelegentliche Retuschen, wie er sie auch im Scherzo öfters vornahm, sind hingegen mit Vorbehalt zu sehen und entbehren der Notwendigkeit. In Schuricht verbindet sich auf einmalige Weise affektiv-feurige Musizierhaltung mit staunenswerter klanglicher Enthaltsamkeit.

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3. Satz Anfang Tt. 1-21

Radio-Symphonieorchester Stuttgart, Carl Schuricht; live, Stuttgart, 15.9.1960

Archiphon CD 1 (LC 07730)

Track 3, 0'04-2'05 (Dauer: 2'01)

So ziemlich das Gegenteil von Schurichts Auffassung offeriert Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern. Dabei dürfen die hoffnungslos überpräsenten, imposant resonierenden Kontrabaß-Pizzicati als eitles Kuriosum verbucht werden. Ansonsten betreibt Karajan Weichzeichnung. Dem Mittelteil erkennt er nur geringe Kontrastwirkung zu, erschließt keine dunklere Region und nimmt es mit dem Piano nicht so genau.

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3. Satz, Tt. 5-21

Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1971)

DG CD 429672-2 (LC 0173)

Track 3, 0'34-2'17 (Dauer: 1'43)

Leonard Bernsteins Zugang zu dieser Musik ist, wenig überraschend, sehr klangverliebt und ausdrucksdurstig. Er liebt das Rubato und die maßlos übertriebenen Ritenuti und schöpft auch unscheinbare Details mit großem Affekt aus. Gefühlsselig, mit großer Geste, schenkte er uns 1984 mit den Wiener Philharmonikern eine spätestromantische Auslegung, die noch über seine auch nicht wenig exaltierte New Yorker Einspielung von 1960 hinausgeht. Von der zähflüssigen Rubato-Nostalgie eines Christian Thielemann allerdings ist er denkbar weit entfernt.

 

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3. Satz Anfang Tt. 1-17

Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein (1984)

DG 453049-2 (LC 0173)

CD 2, Track 3, 0'00-1'56 (Dauer: 1'56)

Wenn Leonard Bernstein auch den miniaturistischen Schumann in Mahler-Nähe stilisiert, so erzielt Arturo Toscanini 1949 mit dem NBC Symphony Orchestra nichts weiter als Deutlichkeit. In den Ecksätzen geht er mit aggressiver Unerbittlichkeit zu Werke, wobei er keine Hemmungen auch bei geschmacklos herausknallenden Retuschen hat. Hier, in der schutzlosen Welt des dritten Satzes aber hat er dem Hörer wenig zu bieten. Trocken, lieblos und ohne Charakterisierungskunst wird selbst dieses kleine Idyll zur Etüde.

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3. Satz Anfang Tt. 1-10

NBC Symphony Orchestra, Arturo Toscanini; live, New York, 12.11.1949

RCA CD 74321 59481 2 (Vertrieb: BMG, LC 0316)

CD 2, Track 3, 0'00-0'47 (Dauer: 0'47)

John Eliot Gardiners zügiges Tempo liegt sehr nahe an dem Toscaninis. Doch ist seine Gestaltung unvergleichlich ambitionierter. Rhetorisch kleingliedrig wird Phrase für Phrase mit viel eigendynamischer Aktivität aufgeladen. Bei Gardiner waltet größere Professionalität und besserer Geschmack als beispielsweise bei Nikolaus Harnoncourt, der als Manierist par excellence viele unbedeutende Höhepunkte hochschaukelt und kaum erträgliche Seufzer-Stilisierung betreibt. Der von Gardiner erstrebte Charakter ist kapriziös, elegant, kleingliedrig, sehr deutlich und durchsichtig, aber eben auch ohne fortführende Spannung, ein zierlicher Reigen überartikulierter Einzelheiten.

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3. Satz, Tt. 1-21

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner (1997)

DG Archiv Prod. CD 457591-2 (LC 0113)

CD 3, Track 6, 0'00-1'45 (Dauer: 1'45)

Dimitri Mitropoulos hat den dritten Satz in Minneapolis geradezu zu einer Rubato-Orgie gemacht, voller Feuer, knisternder Spannung und ansteckend tänzerischer Momente. Der Klang ist, sicher auch aufnahmetechnisch bedingt, sperrig. An den Überleitungen bricht das Kontinuum der Darstellung ein, weshalb man mehr von einer fesselnden Tollkühnheit als von Gelingen sprechen sollte. Mitropoulos’ Zugriff ist mitunter harsch und grob, aber immer erzmusikantisch und von Herzen. Obwohl er eine Menge riskiert, ist der Zergliederungsfaktor weit geringer als bei den heutigen Authentikern. Und die Magie des längst vergangenen Augenblicks ist immens. Das Minneapolis Symphony Orchestra unter Dimitri Mitropoulos spielt den dritten Satz aus Schumanns 'Rheinischer' Symphonie in einer Aufnahme vom 20. Januar 1947.

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3. Satz komplett

Minneapolis Symphony Orchestra, Dimitri Mitropoulos (1947)

Grammofono CD AB 78750 (LC 0316)

Track 3 (Dauer: 4'27)

(Dieses Beispiel entfällt)

Nach dieser frenetischen Wiedergabe unter Mitropoulos ist es aufschlußreich, wie energielos der Schluß dieses Satzes in der Aufnahme des klangschön musizierenden Chamber Orchestra of Europe unter Nikolaus Harnoncourt verebben kann. Am Ende zerfällt es gänzlich.

20a

3. Satz, Tt. 40-54 (Schluß)

Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt (Graz, 1993)

Teldec CD 0630-12674-2 (Vertrieb: Warner Classics, LC 06019)

CD 2, Track 3, 3'47-5'14 (Dauer: 1'27)

Es ist eine weitverbreitete Illusion, ein Werk sei desto leichter in seinem Zusammenhang zu begreifen, je zügiger musiziert wird. Eine zusammenhängende Darstellung kann sich in sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit vollziehen, wobei natürlich das breitere Tempo nur gerechtfertigt ist, wenn die Substanz der Aussage entsprechend ergiebig ist. Den eigentlichen Grund für das extrem breite Tempo Celibidaches in diesem Satz dürfte man in der Coda finden, in der sechstaktigen Fläche, wo Celli und Bässe die Sechzehntelfigur as-g durchhalten. So klar artikuliert und mit dem Klang der höheren Instrumente verbunden zugleich erklingt diese Passage sonst nicht. Außerdem schafft dieser Schluß, im gesamtsymphonischen Kontext begriffen, die Erwartung für den großartigen Zug des kommenden Satzes.

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3. Satz Tt. 35-54 (Schluß)

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 3, 4'41-7'19 (Dauer: 2'39)

 

 

4. Satz ‚Feierlich‘

Den vierten Satz im dunklen es-moll, das eigentliche Zentrum seiner 'Rheinischen' Symphonie, soll Schumann, so sagt die Legende, unter dem Eindruck der Kardinalserhebung des Kölner Erzbischofs Johannes von Geißel "im Charakter der Begleitung einer feierlichen Zeremonie" beabsichtigt haben. Heute weiß man, daß Schumann am betreffenden Tage krank das Bett hütete. So bleibt die Charakterangabe 'Feierlich', die über dem Satz steht, der einzige außermusikalische Hinweis. Dieser Satz hat womöglich unter allen Symphoniesätzen Schumanns am meisten Aufmerksamkeit geweckt, und in der Tat steht er einzigartig da. Offenkundig ist die Schulung an den alten Meistern des Kontrapunkts, insbesondere an Johann Sebastian Bach, und der daraus resultierende archaische Charakter. Die Form umspannt drei Teile, allesamt als Fugato angelegt, wobei die engführende imitatorische Kunst in großen Bögen bis an die Grenzen der Wahrnehmung der gegeneinander artikulierten Stimmen geht. Zugrunde liegt ein choralförmiges Thema, welches den Beginn des ersten und den repriseartigen dritten Teil markiert und im Verlauf des ersten sowie im zweiten Teil in mehreren Phasen durchgeführt wird. Ein zweimaliger Ruf des Bläserchors in der Art einer feierlichen Fanfare leitet in die Coda über. Vielleicht ist es auch die bestürzende Einsicht, welch monumentalen Klangdom Schumann mit überwältigender kontrapunktischer Könnerschaft und Imagination zu errichten vermochte, die diesem Satz so viel Aufmerksamkeit unter den Kommentatoren bescherte. Man hatte ihm so etwas einfach nicht zugetraut.

Wohl niemand hat diesen Klangdom mit solcher weit artikulierter Spannkraft erstehen lassen wie Celibidache mit den Münchner Philharmonikern. Er erreicht äußerste lineare und tonliche Kontinuität in feierlich breitestem Tempo, in einer Breite, mit der sich selbst Karajan nicht versuchte. Die Eintritte und Verläufe sind deutlich ziseliert, die kontrapunktischen Verhältnisse sind jederzeit klar, die Akzente dem Klangstrom angepaßt. Es gelingt, die Spannungsentwicklung durch den ganzen Satz aufleben zu lassen, und mit dem Piano am Beginn der Reprise tut sich eine neuerliche weite Perspektive auf. Die Bläserrufe ertönen wirklich feierlich, nicht grell oder plakativ, und der auskomponierte Nachhall bleibt metrisch klar.

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4. Satz komplett

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 4 (Dauer: 8'06)

Die Münchner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache spielten den vierten Satz, 'Feierlich', aus Robert Schumanns 'Rheinischer' Symphonie. Es geht auch völlig anders. Arturo Toscanini hob 1949 mit dem NBC Symphony Orchestra die perkussiven Aspekte hervor. Jetzt sind plötzlich die Pizzicati der Geigen im Vordergrund, was vielleicht auch an der Aufnahmetechnik liegt, und die Akzente stechen schroff ins Gewebe. Der Satz vibriert von Attacken auf den kontrapunktischen Fluß. Die Klangkultur des Orchesters war offenbar recht dürftig.

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4. Satz Anfang Tt. 1-8

NBC Symphony Orchestra, Arturo Toscanini; live, New York, 12.11.1949

RCA CD 74321 59481 2 (Vertrieb: BMG, LC 0316)

CD 2, Track 4, 0'00-0'38 (Dauer: 0'38)

Eine sachliche, strenge Haltung gegenüber der Struktur vertrat auch George Szell, jedoch geschmeidiger, zudem mit seinem exzellenten, einzigartig kraftvoll und sehnig klingenden Cleveland Orchestra, festgehalten 1960 in prachtvoller Aufnahmequalität. Bei ihm ist das polyphone Gewebe klar durchleuchtet und zielstrebig geführt.

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4. Satz Anfang Tt. 1-23

The Cleveland Orchestra, George Szell (Cleveland, 21.10.1960)

Sony CD MH2K 62349 (LC 6868)

CD 2, Track 4, 0'00-2'05 (Dauer: 2'05)

Kraftvoll, herb, mit knirschender Expressivität und konsequent linearem Verständnis, quasi "einem Pfeil gleich" durchdringt Mitropoulos die drei Teile des vierten Satzes in einem kontinuierlichen, unaufhaltsamen Zug. Wir hören nur einen kurzen Ausschnitt aus dieser von brennender Leidenschaft getragenen Wiedergabe.

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4. Satz, Tt. 8-23

Minneapolis Symphony Orchestra, Dimitri Mitropoulos (1947)

Grammofono CD AB 78750 (LC 0316)

Track 4, 0'40-1'59 (Dauer: 1'19)

Eine Sonderstellung darf auch in diesem Satz Carl Schuricht beanspruchen. Seine Auffassung ist ganz in medias, vom ersten Moment an eindringlichst, direkt und fordernd. Die große Klangaura entfaltet er nicht. Dafür ein umso packenderes Drama. Im zweiten Abschnitt läßt er das Legato der aufstrebenden Achtelfigur von Anfang an entfallen und gewinnt eine schroffe, kontrastscharfe, schneidend konturierte, fast bedrohliche Unmittelbarkeit. Der dritte Abschnitt ist fließender und drängt vorwärts zur Fanfare als Lösung der angesammelten Spannung. Die erste Fanfare kommt noch etwas verhalten, die zweite kraftvoller. Die Coda gestaltet Schuricht ohne Ritenuto. Es folgt der vierte Satz, 'Feierlich', in einem Konzertmitschnitt von 1960 mit dem Radio-Symphonieorchester Stuttgart unter Carl Schuricht.

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4. Satz komplett

Radio-Symphonieorchester Stuttgart, Carl Schuricht; live, Stuttgart, 15.9.1960

Archiphon CD 1 (LC 07730)

Track 4 (Dauer: 4'43)

 

5. Satz ‚Lebhaft‘

Mit dem Radio-Symphonieorchester Stuttgart unter Carl Schuricht hörten sie den 4. Satz, 'Feierlich', aus Robert Schumanns 'Rheinischer' Symphonie. Eine ganz andere, fröhliche, gelassen ausgelassene Welt beschreibt das Finale, welches wie der erste Satz mit 'Lebhaft' bezeichnet ist, unter den beiden jedoch flinkfüßiger und launenhafter daherkommt. In der Exposition zieht Schumann einen ganzen Strauß von Themen und Abwandlungen hervor, der in seiner Vielgestaltigkeit ein hohes Maß an Treffsicherheit und Flexibilität des Ausdrucks von den Musikern einfordert. Noch weniger als im Kopfsatz kommt die introvertierte Seite von Schumanns Wesen zur Aussprache. So bleibt der nachhaltig sich auswirkende Kontrast trotz der großen motivischen Vielfalt relativ gering, was dem Satz Knappheit beschert. Die Klippen für die Ausführenden sind gerade in diesem Satz sehr hoch. So muß der leichte, kurzweilige Tonfall getroffen werden, ohne die innige Empfindung, die bei Schumann immer mit anwesend ist, zu verlieren. Diese Leichtigkeit muß sich im Klang und in der Artikulation niederschlagen. Auch besteht in der ansteckenden Bewegtheit, im scherzenden Spiel mit den rhythmischen Schwerpunkten ständig die Tendenz, die melodische Gestaltung der rhythmischen unterzuordnen. Fast noch schwieriger ist es, dem changierenden Gestaltenreichtum mit ständig umschlagender Einfühlung zu begegnen und dabei nicht den größeren Zusammenhang, die Zugkräfte, in welche die einzelne Phrase eingebunden ist, aus dem Auge zu verlieren.

George Szell bringt seinen nüchternen Struktursinn und die musikantische Verwurzelung ein, und mit seinen souveränen Mitstreitern gelingt ihm die Gratwanderung ziemlich überzeugend. Ein deutliches Innehalten ist seine Konzession an den lyrischen Seitengedanken.

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5. Satz Anfang Tt. 1-65

The Cleveland Orchestra, George Szell (Cleveland, 21.10.1960)

Sony CD MH2K 62349 (LC 6868)

CD 2, Track 5, 0'00-1'09 (Dauer: 1'09)

Dem Originalklangkörper John Eliot Gardiners müßte dieser Satz in seiner wendigen, auf das Herausarbeiten von kleinteiligen Binnenstrukturen angewiesenen Machart eigentlich besonders liegen. Doch ist die Phrasierung erstaunlich flach, es sind nur die Akzente, die vernehmlich hervorstechen. So entstehen lauter kleine Bausteine, die sich voneinander deutlich absetzen, aber nicht einmal in sich geschlossene Gestalt annehmen. Der schlanke Klang ist selbstverständlich von Vorteil, vor allem überall da, wo filigrane Wirkungen am Platze sind. Die hymnischen Aufschwünge hingegen sind auf grelle Farben begrenzt. So ist das Ergebnis bei aller Eleganz und Beweglichkeit kurzatmig und trocken.

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5. Satz Anfang Tt. 1-65

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner (1997)

DG Archiv Prod. CD 457591-2 (LC 0113)

CD 3, Track 8, 0'00-1'05 (Dauer: 1'05)

Etwas schleppend und mit kuriosem Legato beginnt Harnoncourt das Finale. In der Folge ist seine Klangrede die der völligen Zergliederung, der Satz wirkt geradezu notdürftig gebastelt in der unbeholfen querständigen Verkittung der kleinen Episoden. Harnoncourt nimmt die Musik auseinander. Seine Freude an rabiaten Akzenten der Blechbläser kann er aber erst am Ende des Satzes richtig auskosten.

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5. Satz Anfang Tt. 1-65

Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt (Graz, 1993)

Teldec CD 0630-12674-2 (Vertrieb: Warner Classics, LC 06019)

CD 2, Track 5, 0'00-1'11 (Dauer: 1'11)

Sergiu Celibidache gelingt in gemessenem Tempo eine entspannt federnde, subtil balancierte und geistreich scherzende Aufführung. Er ist ein Ökonom der treffsicheren Impulse, schafft Vielgestaltigkeit und wacht zugleich über das Kontinuum. Die Steigerungen sind klar disponiert, im Decrescendo wird die Spannung gehalten, die Akzente zerstören nicht das melodische Kontinuum. Der Klang ist leicht und dabei von großer Farbigkeit und jederzeit verfügbarer Fülle. So sind die Voraussetzungen bestens, um die Forderungen der großen Form zu erfüllen.

Die knappe Durchführung des Finales mündet in ein neues Thema, welches unter Schumann-Kennern als "Durchbruch" verklärt wird. Tatsächlich ist diese himmelstürmende Figur von solch einer jauchzenden Emphase durchdrungen, daß der darauffolgende Eintritt der Reprise davon überschattet werden kann – ein Problem, das sich in anderer Weise schon im ersten Satz stellte. Hier hängt alles von der Fähigkeit des Dirigenten ab, die harmonischen Stationen in ihrem Verhältnis zueinander so bezwingend zu artikulieren, daß das Modulationsziel für den unbefangenen Hörer unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Man achte nun im Folgenden auch genau darauf, wie Celibidache die abrundende Phrasierung der ersten Themengestalt ausführen läßt: Von alleine würde es kein Orchester so spielen, und doch klingt es ganz natürlich.

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5. Satz Anfang Tt. 1-171

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 5, 0'00-3'21 (Dauer: 3'21)

Die Auffassung Carl Schurichts ist betont linear. Er verleiht der Durchführung drängende Impulsivität, wobei der Gestus stets grazil, leicht und beschwingt, dabei aber kraftvoll ist. Dem Repriseeintritt zollt er mit einer Verbreiterung übertriebenen Respekt. Dafür nimmt er die Coda im Tempo, im Gegensatz zur tradierten Manier, die Bewegung anzuhalten, der fast alle Dirigenten bis heute anhängen. Wenn er danach dann doch noch breiter wird und mit Hilfe der Trompeten eine grelle Instrumentationsveränderung vornimmt, so vermag das doch nicht den mitreißenden Gesamteindruck entscheidend zu schmälern. In dem mit 'Schneller' überschriebenen Schluß der Coda zieht er nach und nach das Tempo noch weiter an, was eine verbreitete Maßnahme ist.

In der Coda des Finales rundet sich in hymnischer Weise der symphonische Bogen, indem das Hauptthema des vierten, 'feierlichen' Satzes wiederkehrt und das Finale krönend dem Schluß entgegenführt. Nun also Carl Schuricht mit dem Radio-Symphonieorchester Stuttgart.

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5. Satz Tt. 161-329 (Schluß)

Radio-Symphonieorchester Stuttgart, Carl Schuricht; live, Stuttgart, 15.9.1960

Archiphon CD 1 (LC 07730)

Track 5, 2'34-5'11 (Dauer: 2'37)

Wenigstens ein typisches, wenn auch in der Entstellung nicht allzu krasses Beispiel für die gängige Art, am Beginn der Coda aus dem Wunsch nach einer besonders grandiosen Wirkung die rhythmische Energie des Satzes zu brechen und stehenzubleiben, sei noch vorgeführt. Im übrigen ist Günter Wands Interpretation mit dem Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks nicht sehr zu rühmen, die aufstampfende Phrasierung und das dröhnende Forte – vor allem, wenn die Pauken beteiligt sind – sind wenig attraktive Markenzeichen. Zudem ertrotzt Wand in dem nun zu hörenden Ausschnitt unmittelbar vor dem beschleunigten Schlußteil ein deplaziertes Ritenuto, und der ganze letzte Abschnitt klingt unter ihm besonders grob und polternd – wenngleich man einwenden könnte, daß Harnoncourt da noch viel mehr Lärm zu entfachen versteht.

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5. Satz, Tt. 242-329 (Schluß)

NDR-Sinfonieorchester, Günter Wand (1991)

RCA 09026 61876 2 (Vertrieb: BMG, LC 0316)

Track 9, 4'08-5'40 (Dauer: 1'32)

Es geht auch ohne das ganze konfuse Hin und Her mit dem Tempo, und macht vielleicht sogar am Ende die bessere Wirkung. Die Kontinuität, mit der Celibidache das ganze Geschehen unter ein einendes Tempo faßt, hat ihren suggestiven Aspekt. Bestenfalls klingt die Musik dann wirklich, als könnte sie nicht anders sein. Sie entfaltet sich aus ihren eigenen Kräften. Und sogar das Verhältnis des beschleunigten Abschluß-Tempos zum Vorhergehenden kann im günstigen Fall eine nicht nur plausible, sondern bezwingende Wirkung ausüben. Den Schluß von Robert Schumanns 'Rheinischer' Symphonie spielen die Münchner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache.

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5. Satz, Tt. 242-329 (Schluß)

Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache; live, München, 21.4.1988

EMI CD 556525-2 (LC 06646)

Track 5, 4'45-6'25 (Dauer: 1'40)

Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Attila Csampai);

Produktion: Karlheinz Steinkeller, 9.3.2000;

Erstsendung: 18.3.2000, 20:05 - 22:00, Bayern 2 Radio,

"Interpretationen im Vergleich".

Christoph Schlüren, 3/2000