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Camille Saint-Saëns

Musik wider die Unbilden der alltäglichen Welt

Cellokonzert Nr.1 a-moll op. 33

I well know that Saint-Saëns is not one of the Olympians: but à chaque saint sa chandelle.

John Foulds, 1934 in 'Music Today'

Kommt die Rede auf Camille Saint-Saëns, so streiten die Gelehrten bestenfalls, oder sie sind sich in ihrer relativen Geringschätzung einig. Das Publikum hingegen genießt. Es ist ähnlich wie bei Rachmaninow – die Musik ist meisterlich und mit Geschmack und Raffinesse gesetzt, sie wirkt unmittelbar und bietet den Ausführenden in der idiomatischen Schreibe spielerische Freuden. Es klingt rundum gut und stimmt in sich. Schwierig wird es für den, der diese Musik in Beziehung zu den sie in ihrer Zeit umgebenden Strömungen betrachten will. Denn sie genügt tatsächlich sich selbst. Sie bricht nicht rastlos zu neuen Ufern auf, hält aber auch nicht heldenhaft an dekadierenden Idealen fest. Sie hält sich an ihr eigenes Maß, das sich ihr Autor in seiner Jugend im unersättlichen Studium der klassischen Meisterwerke erworben hat.

Camille Saint-Saëns war ein Wunderkind allererster Kategorie. Schon als Dreieinhalbjähriger schrieb er seine erste Komposition auf. Er entwickelte sich zu einem glänzenden, hochkultivierten, stilsicheren Pianisten und gelangte als Organist an der Église de la Madeleine mit seinen Improvisationen zu Weltruhm. Überliefert ist Franz Liszts Ausruf: "Saint-Saëns ist der beste Organist der Welt!" Doch Saint-Saëns war nicht nur ein universeller Musiker, er war überhaupt ein universeller Geist, der sich auch als Astronom, Dichter, Philosoph, Archäologe und Biologe auf der Höhe seiner Zeit bewegte und teilweise beachtliches Ansehen genoß. Bis ins hohe Alter blieb er ungebrochen tätig und war immerzu auf Reisen, ein unentwegt produktiver Mensch und bewegter Geist. Hinter all dieser schöpferischen Aktivität wird der Mensch Saint-Saëns nahezu zu einem ballastfreien Idealisten, als dessen Eigenschaften man immer wieder Aufrichtigkeit, rechtes Maß, Fleiß und Uneigennützigkeit bewundern kann. Jene menschlichen Schwächen, die gerade auch die ganz großen Genien in oft verheerenden Ausmaßen offerieren, wird man an ihm vergeblich suchen. Er mag sie gekannt und mit ihnen gerungen haben. Er hat sie nicht gelebt.

Saint-Saëns’ Kunst hat etwas in durchaus positiver Weise Unpersönliches. Und daß seine Kompositionen nicht nur ausgezeichnet gearbeitet sind, sondern in den stärkeren Momenten sehr inspiriert sein können, steht nicht in Widerspruch zu einer wichtigen Dimension seiner Musik: Sie hat etwas Kunstgewerbliches an sich, das auch über die Zeit hinweg seinen feinsinnigen Reiz und luziden Charme bewahren konnte. Sie ist im besten Sinne Gebrauchsmusik für den Konzertsaal, und neben sechs, sieben anderen seiner Schöpfungen für das konzertante Repertoire ist das erste Cellokonzert ein exzellentes Beispiel solcher Kunst, die im besten Sinne unterhält. Sie ergötzt – sofern sie mit adäquatem Format dargeboten wird und nicht in leerer Virtuosenattitüde untergeht – beim Zuhören und verletzt nicht beim Abschweifen.

Saint-Saëns galt in seinen frühen Jahren als neutönerischer Revolutionär, in seinen späten Jahren hingegen als aus der Mode gekommener Reaktionär. Aber haben ihn Moden interessiert? Wohl kaum, und sucht man in seinem langen Komponistenleben nach einer vielleicht in Phasen dingfest zu machenden stilistischen Entwicklung, so gerät man in Verlegenheit. Sicher, er wurde effektiver – das aber schon recht früh. Sicher, er hat immer nach geschmackssicherer Verfeinerung gestrebt – aber eigentlich war ihm die von Anfang an gegeben. Wie ein Mendelssohn, Bizet oder Enescu beherrschte er schon sehr früh das Handwerk in souveräner und sinnlich leuchtender Weise. Und schon bald tat er einfach, was ihm vorschwebte, und behielt diese Haltung ohne merkliches Schwanken und Suchen bei, auch wenn er als Höhepunkt seines Schaffens die 'Orgel-Symphonie' op. 78 von 1886 ansah: "Hier habe ich alles gegeben, was ich geben konnte… So etwas wie dieses Werk werde ich nie wieder schreiben." Die 'Orgel-Symphonie' läutete keine neue Phase ein. Sie krönte auch keine bestimmte Phase. Sie krönt vielmehr ein Lebenswerk, das zu jeder Zeit auf den Abwurf einer solchen Gipfelleistung abgestimmt war. Saint-Saëns strebte nicht nach Neuem, sondern nach Vollkommenheit in seiner eigenen Welt.

 

Wie eigentümlich nun ist Saint-Saëns’ Welt? Sie hat seit jeher die Klassiker inhaliert, und vor allem vieles aus Beethovens Sprache ist Saint-Saëns zur zweiten Natur geworden (was gerade die 'Orgel-Symphonie' offenkundig bezeugt). Es ging Saint-Saëns nicht so sehr um den persönlichen Ausdruck, und das Übertragen von subjektiven Gefühlszuständen auf den Hörer, das Süchtig-machen desselben hätte er vehement abgelehnt. Er suchte sicher die Balance der in sich selbst im Hörer wachrufbaren musikalischen Welt, die das heile, unversehrte Gegenbild zu den Unbilden der alltäglich realen Welt darstellt – einer Welt zur Erbauung und Gesundung des Geistes: "Ich bin Klassizist, von frühester Kindheit an aufgewachsen im Geiste Mozarts und Haydns." Camille Saint-Saëns war ein grandios begabter, formbewußter Eklektizist mit originellen Zügen, hierin ähnlich ausgerichtet wie später der Schwede Wilhelm Stenhammar oder der Russe Alexander Glasunow.

Konzert für Violoncello und Orchester
a-moll op. 33 (1872)

Saint-Saëns’ erstes Konzert für Violoncello und Orchester in a-moll op. 33 wurde am 19. Januar 1873 von dem Cellisten Auguste Tolbècque in Paris aus der Taufe gehoben. Es entstand zur gleichen Zeit wie die erste Cellosonate (auch das zweite Cellokonzert und die zweite Cellosonate sollten, etwas dreißig Jahre später, wieder ein solches Paar bilden). Das Konzert bezieht sich auf die klassische dreisätzige Formanlage, doch sind hier die drei Sätze zu einem einzigen Satzdrama zusammengezogen, was auch hinsichtlich der Wiederverwendung von thematischem Material aus dem ersten Satz neue Möglichkeiten eröffnet. So können verschiedene Formteile verschränkte Anwendung im Finale finden. Das triolische Hauptthema des einleitenden 'Allegro non troppo' kehrt nach dem 'Allegretto con moto'-Mittelsatz, einem stilisiert einherstelzenden Intermezzo mit Menuett-Charakter, wieder und leitet über in die eigene Welt des Finales, die 'Un peu moins vite' mit fast Tango-artiger Emphase anhebt. Eine Art zwischengeschalteter, marschartiger Codetta des Orchester-Tutti in F-Dur, die im ersten Satz die Wiederaufnahme des Hauptthemas herbeiführt, kommt gegen Ende des Finales 'Molto allegro' (diesmal nach dem Hauptthema des ersten Satzes) wieder und bereitet den launigen A-Dur-Schlußteil vor, der zugleich mit der Aufhellung ein neues Thema einführt. Das Konzert ist äußerst dankbar für den Solisten und enthält zugleich sehr reizvolle, typisch symphonisch gearbeitete modulierende Abschnitte wie die Durchführung des ersten Satzes, wo mit aufs Feinste abgestufter und kalkulierter Instrumentationskunst ein Maximum an Farben und Reflexen aus einem motivisch knapp und exakt gezogenen, harmonisch stringent umrissenen Spielraum gewonnen wird. Ähnliche Stringenz und thematische Logik im begleitenden Orchester halten im letzten Satz das Geschehen zusammen und verleihen ihm relative Dichte, wenn dem Solisten in exaltiertem Figurenwerk Gelegenheit gegeben wird, sein Können zu demonstrieren. So kann dieses Können nicht zu leerem Können verkommen, sondern wird integriert in einen sinnfälligen musikalischen Werdegang, der die konventionellen Bedürfnisse, die mit der Konzertform assoziiert sind, unter dem Signet einer originären, neuen Form, die auf dem Überlieferten rekurriert, zusammenfaßt zur durchlebten Ganzheit: Musik "zum Gebrauch", und vom Feinsten. Wie ein perfekt geschliffener Brillant.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Münchner Philharmoniker, 1998]