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Kaija Saariaho: Solar (1993)

Farbengarten abstrahierter Klanglust

Die Komponisten der Heininen-Schule sind kaum durch gemeinsame stilistische Merkmale verbunden, jedoch verband sie ein ästhetischer Konsens, den vor allem die 1952 geborene Kaija Saariaho weiter aufrecht erhielt. Sie setzte ihre Studien in Freiburg bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough fort, und mit wachsendem Interesse an elektronischer und computergenerierter Musik begab sie sich ins Pariser IRCAM-Studio. Verfeinert zubereitete Klänge, träumerische Atmosphären im Wechsel mit dichtem, metallisch gefärbtem Aufruhr, und allmähliche Veränderung der Strukturen und Klangzusammensetzungen ohne offensichtlich modulierende Momente sind typisch für ihre imaginativ-kühle Klangdiktion. Das Ballett 'Maa' (Erde), die Orchesterwerke 'Verblendungen', 'Du Cristal' und '...à la fumée', die Ensemblewerke 'Lichtbogen', 'Io' und 'Solar' und viel Kammer- und Vokalmusik, häufig unter Verwendung von Live-Elektronik begründeten seit ihrem Durchbruch in den achtziger Jahren ihren Ruf als eine führende Komponistin ihrer Generation. Kaija Saariaho lebt in Paris.

Kaija Saariaho über 'Solar' für Flöte, Oboe, Klarinette, Trompete, 2 Schlagzeuger, Harfe, 2 Keyboards mit Live-Elektronik, Violine, Viola und Kontrabaß, 1993 in Auftrag gegeben von der Kulturhauptstadt Europas Antwerpen und im selben Jahr komponiert:

'Solar' gründet auf der Idee einer immer anwesenden harmonischen Struktur, die nach allen Seiten ausstrahlt und die Harmonie immer wieder zurückzwingt in ihre ursprüngliche Form, als hätte diese den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen. Diese Idee gab dem Stück den Namen.

Der 'solaren' Harmonie stellt sich dann ein ganz anderes harmonisches Prinzip entgegen, das mehr in Gegensätzlichkeiten gründet.

 

 

Das musikalische Material in 'Solar' ist freiwillig begrenzt. Die gleichen Ideen kommen wieder, in anderer Orchestration und vor allem in anderen Tempi; dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Solar. Gegen Ende des Stücks werden die musikalischen Elemente - Tonhöhe, Harmonie, Rhythmus,Tempo, Orchestrierung - in rasch wechselnden Extremen benutzt."

'Solar' ist auf die Auseinandersetzung (kollidierend, sich befruchtend und aneinander vorbeistrebend) von spektralharmonischer Statik (stabilisierender Aspekt) und gleitenden Soundscapes (destabilisierender Aspekt) gebaut. Die sich vielfach überlappenden und oft neutralisierenden melodischen Ansätze und die zu diesen in einem sehr abstrakten Verhältnis stehenden rhythmischen Unterspülungen haben dekorativ-ornamentalen Sinn. Wenn im letzten Drittel die Geige eine der Gesamthaltung entsprechend passive (absteigende und molto espressivo, dolce bezeichnete) Melodie intoniert, so ist das schon eine Sensation in diesem Farbengarten abstrahierter Klanglust. Der Hörer mag in einem Prozeß des unvorhersehbar Vorhersehbaren (immer wieder die gleichen Phänomene in immer wieder anderer Zusammensetzung) fernab dynamisch erfahrbarer Gestaltwerdung ins Traumreich kalkulierter Zufälle abheben. Auch wenn sich schon vorher öfter das Gefühl einer nahenden Schlußbildung eingestellt haben mag, der tatsächliche Schluß kommt unerwartet.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzerthaus Wien, 1996]