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Einojuhani Rautavaaras Oper

"Aleksis Kivi"

Die Uraufführung von Einojuhani Rautavaaras Oper "Aleksis Kivi" war die Hauptattraktion der Opernfestspiele 1997 im finnischen Savonlinna. Rautavaara, einer der führenden finnischen Symphoniker nach Sibelius, hat sich als besonders im Klangmalerischen ausnehmend begabter Komponist in den letzten Jahren vor allem als Opernkomponist betätigt. Die Libretti zu seinen Opern verfertigt Rautavaara seit langem selbst. Rautavaaras erste Oper war um 1960, in einer sehr experimentierfreudigen Zeit, entstanden. In den siebziger Jahren schrieb er zwei mythische Musikdramen, deren Aktion hauptsächlich von Chorgesang getragen wurde. Die umfangreichen Opern, die seinen weitreichenden Ruf als Musikdramatiker begründeten, entstanden in den achtziger und neunziger Jahren: "Thomas", "Vincent" (über das Schicksal Vincent van Goghs) und "Das Sonnenhaus" – allesamt Werke, die auch außerhalb Finnlands beträchtlichen Erfolg hatten. Nach dem "Sonnenhaus" war die Fernsehoper "Das Geschenk der Magi" entstanden, der nun als weiteres Bühnenwerk "Aleksis Kivi" folgte, ein Portrait des großen finnischen Nationaldichters. Auch in diesem neuen Werk zeichnet Einojuhani Rautavara selbst für das Libretto verantwortlich, freilich unter umfassender Verwendung authentischer Texte. Rautavaara schreibt über seinen "Aleksis Kivi":

"Die Idee, eine Oper über das Leben Aleksis Kivis zu schreiben, wurde zuerst von Jorma Hynninen an mich herangetragen, und gemeinsam arbeiteten wir daran. Bei der Erörterung des Librettos, was Stil und Profil betrifft, erschien es mir nur als natürlich, so weit wie möglich Kivis eigene Texte zu verwenden. Kivi war letztlich vor allem ein Dramatiker, und Auszüge aus seinen Bühnenwerken erwiesen sich als ideale Vorlage für verschiedene Situationen der Handlung. Das Stück "Leo ja Liina" (Leo und Liina) ist oft als eine Reflexion der Beziehung zwischen Kivi und seiner Gönnerin Charlotta angesehen worden – in Wirklichkeit oder in seiner Vorstellung, oder vielleicht nur in Wunschträumen. Das ungestüm grobe, nihilistische Trinkerlied fand ich in "Olviretki Schleusingeniin" (Die Bierfahrt nach Schleusingen), und Stoff für den Dialog in "Canzio" (einer Tragödie nach den Vorbildern Schillers und Shakespeares), während die Nostalgie des herrschaftlichen Hauses dem Stück "Karkurit" (Die Flüchtlinge) entnommen ist. Aus "Nummisuutarit" (Die Heideschuster) entstammen die unvergleichlichen Bohèmien-Charaktere Mikko Vilkastus und Onkel Sakeri. Auch aus den Heideschustern entlehnt sind der Spielmann Teemu und der Schneider Antres. Ich hatte etwas gezögert bei der Heranziehung der berühmtesten, Allgemeingut gewordenen Gedichte, die von anderen Komponisten bereits vertont wurden. Aber auch diese Gedichte mußten in der Oper vorkommen, vor allem diejenigen, die uns Finnen am vertrautesten sind.

Kivis unversöhnlicher Widersacher Professor August Ahlqvist war auch ein angesehener Dichter, der unter dem Namen A. Oksanen schrieb. Fast alle Zeilen in seiner ziemlich umfangreichen Rolle sind authentischer Ahlqvist – Ausschnitte aus seinen ätzenden Kritiken, lange, kulturpolitische Tendenzdichtung und melancholische Lyrik. Ich wollte ihn nicht als ausschließlichen Bösewicht darstellen. Vielmehr wollte ich diesen Mann unbeugsamer Prinzipien, den untröstlichen Idealisten und frustrierten Künstler verständlich werden lassen, der seinen eigenen Weg nur mühevoll ging und auch innere Zerstörung erlitt.

Aleksis Kivi, der Mensch und der Schriftsteller, schien mir in sich drei verschiedene Ebenen zu umschließen: den Aufbruch einer finnischen Intelligenz und Identität; die zeitgenössische dörfliche Szenerie mit ihrer gebräuchlichen Folklore und Volksmusik; und die Einsamkeit der wilden und düsteren Wälder und ihrer mythischen Gestalten, geboren aus unterbewußten Archetypen. Alle drei Aspekte mußte ich in die Oper einweben. Davon wurden musikalische Lösungen im Einzelnen bestimmt, insbesondere die Form betreffend. Die volkstümliche Geige und Klarinette waren natürliche Bestandteile des Dorflebens und der Volksmusik, und sie sind auch in die Bühnenhandlung einbezogen. Dadurch wurde ich selbst zur Wiederbegegnung mit meiner Jugend angeregt, indem ich für das Trinklied auf mein Opus 1, die Suite "Pelimannit" (Spielleute) von 1952 zurückgriff.

Die wilde und mythische Welt der Wälder verlangt nach einer völlig anderen Klangwelt, die in einer andersartigen Realität wurzelt, in der Welt des Unterbewußtseins. Deshalb nahm ich einen Synthesizer hinzu, um den Orchesterklang anzureichern. Ich übertrug ihm eine verfremdende Funktion, vergleichbar derjenigen, die er in meinen früheren Opern "Vincent" und "Das Sonnenhaus" bereits hatte. Allerdings empfand ich, daß das Orchester ein kleines sein sollte, weshalb ich mich für ein Streichorchester mit zwei Klarinetten und zwei Schlagzeugern entschied.

Kivis Tragödie äußerte sich als Depression, die von ignoranter Feindseligkeit ausgelöst wurde und sich allmählich zu einer Schizophrenie hin entwickelte. Die dämonische Personifizierung dieser Verfolgung war August Ahlqvist. Es erschien angebracht, dem Professor in der Oper eine Sprechrolle zuzuteilen: der Charakter, der gegen die Muse, den Genius der Nation opponiert, ist folglich unmusikalisch und prosaisch. Er singt nicht. Oft sieht man ihn, wie er den altersschwachen Dichter Johan Ludvig Runeberg in einem Rollstuhl durch die Gegend schiebt – wie Ahlqvist auch in Wirklichkeit Runebergsche, reaktionäre ästhetische Anschauungen propagierte, die Kivi und dem finnischen Ethos feindlich gegenüberstanden. Obwohl er ein großer Dichter war, ist demzufolge hier auch Runeberg zu einer Sprechrolle verdammt.

Die Rolle Kivis selbst ist eine zwiegespaltene, indem der junge, optimistische, offenherzige Alexis absinkt zu einem düsteren Alkoholiker voller Verzweiflung. Während der Halluzination des Epilogs begegnet er seinem jugendlichen Selbst wieder und singt mit sich selbst ein Duett über den großen Traum seines Lebens, eine "Insel des Glücks".

Soviel zu gestisch bedeutsamen Lösungen, die die Form bestimmen. Wie sieht es mit der konkreten musikalischen Substanz aus? Die Form von "Seitsemän Veljestä" (Die sieben Brüder) beispielsweise, die Gebärde dieses Buchs, ist diejenige eines Entwicklungsromans. Das jedoch macht ein Buch noch lange nicht zu einem bedeutenden Kunstwerk, und die Literatur kennt viele Geschichten über eine innere Entwicklung. Aleksis Kivis Stil, seine Botschaft und die Art, wie er sie zum Ausdruck bringt, sind die Substanz des Werks. Ich weiß aus Erfahrung, daß meine Musik oft von außermusikalischen Stimulantien inspiriert wurde: ein Wort, ein Gefühl, eine Stimmung, ein Bild. In diesem Fall, wo es sich um einen Dichter dreht, war es natürlich das Wort. Das funktioniert jedoch nicht automatisch, bedarf hingegen einer bestimmten Assoziation, einer gemeinsamen Wellenlänge, einer Affinität. Kivis Stil, seine sehr archaische Qualität, vor allem aber der innewohnende Tonfall der besonderen Botschaft waren für mich immer wie eine vertraute Melodie, möglicherweise aufgrund unseres gemeinsamen genetischen Erbes, unseres Finnentums. Und wenn sich das an manchen Stellen der Oper auf den Zuhörer überträgt, ist meine Sendung vollbracht."

Soweit Einojuhani Rautavaara zu Entstehung und Form seiner Oper.

Rautavaaras Oper "Aleksis Kivi" gliedert sich in einen Prolog, drei Akte und einen Epilog. Dabei ist der Prolog mit dem ersten Akt ebenso ohne Pause verbunden wie der dritte Akt mit dem Epilog. Pausen finden sich nur zwischen den Akten. Prolog und erster Akt bilden den längsten Abschnitt.

Der Prolog zeigt Aleksis Kivi am verdüsterten Ende seines tragischen Lebenswegs. Er wird aufgesucht von der Verkörperung seines Unglücks, von Professor August Ahlqvist, der ihn belehrt über die "schändlich falsche Auffassung, die in unserer aufkeimenden Literatur die Oberhand gewinnt". Die Szene verwandelt sich dann zu heiterer Gestimmtheit: zur langjährigen Zufluchtsstätte des Schriftstellers, dem Landhaus in Fanjunkars. Es treten seine Gönnerin Charlotta Lönnqvist – eine Frau, die deutlich älter ist als er – und ihre Schülerin und Assistentin Hilda auf, zusammen mit dem jungen Alexis Stenvall (alias Aleksis Kivi). Auf die Bitten der Damen hin liest ihnen Alexis ein Gedicht vor, das er über ein Eichhörnchen verfaßt hat. Die junge und fröhliche Hilda ist realistisch genug, um zu erfassen, daß dieses Eichhörnchen allzu alleine ist in dieser Welt. Es besitzt keine Familie und findet keinen Lebenssinn. Obwohl Charlotta stets die Leute verstehen möchte, die eine andere Art von Leben führen wollen, bittet Hilda sie daraufhin um die Erlaubnis, ein anderes Gedicht von Alexis zu lesen: ein schwelgerisches Loblied auf Heim und Eheglück. Die drei erhalten Gesellschaft von einer Gruppe von Anhängern, die gekommen sind, um dem jungen Schriftsteller zu gratulieren: Sein Schauspiel "Nummisuutarit" (Die Heideschuster) hat einen wichtigen Preis gewonnen. Diese glühenden Verfechter der Jungfinnischen politischen Bewegung preisen ihn nun als die Hoffnung Finnlands und sein Werk als den Grundstein finnischer Literatur. Aber von seiner Estrade herab kritisiert Ahlqvist den "ehrenwerten Studenten" für seine billige Ästhetik. Die Menschen sollten, so seine Ansicht, nicht einfach so beschrieben werden, wie sie sind: Man muß ihnen Ideale geben! Denn Runeberg sagte: "Dichtung stellt die wahre Wirklichkeit dar, die besser ist als die bestehende." Der Streit endet mit drohenden Worten des Professors. Er geht ab. Eingeschüchtert von seiner Autorität, stehlen sich die Glückwünschenden davon. Charlotta bittet sie vergeblich, zu bleiben.

Hilda und Alexis sind alleine. Die entschlossene junge Hilda hat sich entschieden, Klarheit zwischen ihnen zu fordern. Unfähig zu entscheiden, weit weg in der Welt seiner Träume, kann sich der Dichter nicht entschließen. Da kommt Charlotta zurück und vervollständigt das schmerzvolle Dreiecks-Drama. Sie befiehlt Hilda, nach Hause zu gehen, und versucht alles, um Alexis zurechtzurücken. Er aber sieht den großen Altersunterschied und fürchtet, sich zu verlieben: "… ich denke, es wäre das Beste auch für uns, einander 'Lebewohl!' zu sagen… bevor es zu spät ist…" Sein sorgenfreies Leben in Fanjunkars war für Alexis ein Elfenbeinturm, ein Künstlerparadies, abgekoppelt von der Alltagswelt. Charlotta bleibt allein zurück.

Sie hören jetzt die 1995-96 komponierte Oper "Aleksis Kivi" von Einojuhani Rautavaara in einem Mitschnitt der Uraufführung vom 8. Juli 1997 in der Retretti-Grotte zu Savonlinna während der Savonlinna-Opernfestspiele. Zunächst senden wir den Prolog und ersten Akt. Nach einer Pause mit weiteren Erläuterungen folgen dann der zweite und dritte Akt mit Epilog. Die Rollen und ihre Darsteller sind:

 

Aleksis Kivi, der finnische Nationaldichter Jorma Hynninen

Der junge Alexis Hans Lydman

Charlotta Lönnqvist Eeva-Liisa Saarinen

Hilda Riika Hakola

Johan Ludvig Runeberg, Sprechrolle Marcus Groth

August Ahlqvist, Sprechrolle Lasse Pöysti

Onkel Sakeri Jaakko Hietikko

Mikko Vilkastus Lasse Virtanen

sowieso sieben Jungfinnen:

Siivo Peter Nordman

Junki Marko Salo

Kristo Hannu Forsberg

Krasse Lassi Virtanen

Olvi Petri Lindroos

Kuku Jere Erkkila

Vanha Pakana Jaakko Hietikko

Es spielt das Classic Stars Orchestra unter Leitung von Markus Lehtinen.

RAUTAVAARA: "ALEKSIS KIVI", PROLOG und ERSTER AKT. (ca. 45'oo")

 

 

Sie hörten den Prolog und ersten Akt aus der Oper "Aleksis Kivi" von Einojuhani Rautavaara in einem Mitschnitt der Uraufführung vom 8. Juli 1997 in Savonlinna. Über den Protagonisten seiner Oper hat Rautavaara folgende Einführung verfaßt:

"Aleksis Kivi ist Finnlands Nationaldichter. Er ist der erste bemerkenswerte Autor von Schauspielen, Gedichten und Erzählungen, der in der finnischen Sprache schrieb. Kivi starb 1872 im Alter von nur 38 Jahren. Die verkrüppelnde Wirkung der zahlreichen Enttäuschungen, die er während jener 38 Jahre erlitt, spiegelt sich darin, daß es mir logisch erschien, zwei Darsteller auf die Bühne zu bringen: den "jungen" Alexis – voll Optimismus und Hoffnung – und den "alten" Kivi – deprimiert, von jeglicher Hoffnung verlassen. Angesichts der Diagnose des Psychiaters Kalle Achté erscheint es richtig und symbolisch für beide, daß sie im Epilog gleichzeitig erscheinen. Denn folgt man Achtés Diagnose, so führte Kivis Depression letztlich einen Fall klassischer Schizophrenie herbei, die Auflösung, Zerteilung und Zerstörung des Verstands.

Der einzige Sohn des ländlichen Schneiders Stenvall (alias Kivi) aus Nurmijärvi, der in der Lage war, die Schule zu besuchen und sogar abzuschließen, war Alexis (alias Aleksis)… Kivi studierte nie an der Universität mit der Aussicht, irgendeinen Berufsabschluß oder Status zu erwerben. Stattdessen betrachtete er sich als freier Künstler. Er war sich seiner Fähigkeiten so sicher, daß er Anspruch darauf erhob, dazu bestimmt zu sein, ein "neuer Runeberg" zu werden. Das wurde er jedoch glücklicherweise nicht. Er wurde der eine und einzige Aleksis Kivi. Johan Ludvig Runeberg war zu jener Zeit ein alternder, vielgepriesener Schriftsteller, aber sogar er hatte für seinen Lebensunterhalt als Lehrer aufkommen müssen. Kivi hingegen hatte keine Möglichkeit, sich als finnischer Schriftsteller in einer finnischsprachigen Kultur , die noch in keiner Weise existierte, über Wasser zu halten. Nichtsdestoweniger genoß er sieben Jahre lang den Schutz Charlotta Lönnqvists. Diese altjüngferliche Dame, die ungefähr zwanzig Jahre älter als er war, gilt als "die wichtigste und zugleich ärmste Mäzenin der finnischen Literatur". Es geschah weitgehend dank ihrer Zuwendungen, daß Kivi drei abendfüllende Schauspiele, vier Einakter, zwei Gedichtsammlungen und einen großen Roman vollenden konnte. Seine Werke wurden zunächst günstig und enthusiastisch aufgenommen, besonders unter den Mitgliedern der Jungfinnischen Partei. Um ihren Platz unter den Nationen der Welt einnehmen zu können, war es für Finnland notwendig, eine eigene schriftlich fixierte Sprache und Literatur zu schaffen. Der große Runeberg – der auf schwedisch schrieb – war so weit gegangen, zu behaupten, das Finnische sei "nicht eine glaubwürdige Sprache oder kulturelle Grundlage". Johan Wilhelm Snellman dachte da anders und rief einen Nationalpreis für Literatur ins Leben, der Aleksis Kivi für sein Schauspiel "Nummisuutarit" (Die Heideschuster) zuerkannt wurde, und dies pikanterweise in Konkurrenz zu Runebergs "Kungarna på Salamis" (Die Könige zu Salamis). Die bitteren Anmerkungen Fredrika Runebergs – der Frau des Dichters – in ihren Memoiren geben unzweifelhaft die verletzten Gefühle dieses Prinzen der Dichtkunst wieder. Runeberg stimmte völlig mit den vernichtenden Kritiken über Kivis Werke überein, die Professor August Ahlqvist verfaßte – obwohl er, da Kivis Werke auf finnisch geschrieben waren, diese überhaupt nicht lesen konnte…

August Ahlqvist ist in die Geschichte vor allem eingegangen als der Mann, der indirekt Kivi umbrachte, indem die Depression – die, wie Achté herausfand, zur Schizophrenie führte – zurückging auf die vernichtenden Kritiken über den Roman "Die sieben Brüder". Die Sicht, die sich in diesen Kritiken kundtat, wurde begleitet von den Anwürfen des Politikers Agathon Meurman, nach dessen Ansicht Kivi "die Presse benutzt, um seinen erdichteten Mist unters Volk zu bringen". Ahlqvist war besessen von der idealistischen Ästhetik Runebergs, derzufolge das Volk nicht so geschildert werden sollte, wie es ist, sondern so, wie es sein sollte. Den Menschen sollten Ideale vermittelt werden. Kivis Realismus schien der gleichen Richtung anzugehören wie die neuere französische Literatur, in der "deprimierenden Obszönität, die Abscheu erzeugt". Hier in Finnland mußte solches schon bei der Geburt zertreten werden. Als Akademiemitglied und Philosoph sagt Oiva Ketonen, daß die ablehnende, verächtliche Haltung Ahlqvists und Meurmans als eine generelle Ablehnung all dessen angesehen werden kann, was echt finnisch ist – als Ablehnung einer nationalen Identität, die frei von der schwedischen Zivilisation ist, geboren aus den gewachsenen Gefühlen der finnischen Bauern und aus der finnischen Realität, die Kivi mit modernen künstlerischen Mitteln in seinem Werk errichtet hatte. Ahlqvist war der uneheliche Sohn der Dienstmagd Maria Ahlqvist mit dem späteren Kanzler der Universität von Helsinki. Der pathologische Anteil von Ahlqvists Haß gegen Kivi wird vor diesem Hintergrund verständlicher. Er war strikt, gewissenhaft und ehrlich, schonungslos sich selbst wie anderen gegenüber. Er hatte den Aufstieg vom armen Bauern zu einem Mann in kultureller Frontstellung nur dank seiner gnadenlosen Selbstdisziplin geschafft, und deswegen warf er Kivi vor, daß er den unverbesserlichen Bauern auf ein Podest stelle und seine jämmerlichen Possen verherrliche. Ein noch triftigerer Grund für Kivis Zusammenbruch war wohl die Tatsache, daß keiner seiner vormaligen Förderer und Gönner den Mut aufbrachte, ihm öffentlich beizustehen. Obwohl der Ästhetikprofessor Fredrik Cygnæus "Die sieben Brüder" für ein bedeutendes Werk hielt, wagte sogar er es nicht, seine Meinung vernehmlicher zu äußern als sein Verleger, die Finnische Literatur-Gesellschaft. Und auch die Herren aus der Jungfinnischen Partei halfen ihm nicht, denn in ihren Augen hatte Kivi versagt in der ihm zugedachten politischen Rolle.

Wie der Literaturgelehrte Kai Laitinen schreibt, waren Aleksis Kivis Werke zur Zeit ihrer Entstehung Offenbarungen von einzigartiger Qualität. Ihre Unabhängigkeit und Originalität sind umso auffallender vor dem Hintergrund der Zeit. Das Aufzeigen der zeitgenössischen Normen und geschmacklichen Gewohnheiten sollte sich als fatal für das Privatleben des früheren Studenten Alexis Stenvall erweisen. Dabei ist es diese äußerste Originalität, die dem Schriftsteller Aleksis Kivi den Status eines vielgeliebten Klassikers und des finnischen Nationaldichters eingebracht hat."

Soweit die Ausführungen des Komponisten zur tatsächlichen Bedeutung der Zentralfigur seiner Oper "Aleksis Kivi".

Nun einige wenige Worte zum Komponisten selbst:

Einojuhani Rautavaara komponiert in einem pluralistischen, Elemente der Musikgeschichte einschmelzenden und stets neu legierenden Stil von sehr persönlichem Charakter. Nach dem Ausbrechen aus den nordisch-russischen Ausdruckstraditionen und der Erfahrung der Begrenzungen der seriellen Methoden fand er zunächst zu einem satt wohlklingenden, neoromantisch schwärmerischen Ton von diesseitiger Virtuosität, den er mit Hilfe der erworbenen Techniken bändigte und allmählich in ein vielschichtig mystisch orientiertes Formspiel wechselnder und sich verwandelnder Klangteppiche von vielfältig schillernder Farbenpracht einband. In der Oper, der Chor- und Orchestermusik ist er heute einer von Finnlands führenden und erfolgreichsten Komponisten. Aufnahmen von Cantus Arcticus, einem Konzert für Vögel und Orchester in raffiniert aufbereiteter Einfachheit, und der siebenten Symphonie 'Angel of Light' avancierten gar weltweit zu Bestsellern.

Geboren am 9. Oktober 1928 in Helsinki, kam Rautavaara mit siebzehn Jahren verhältnismäßig spät zur Musik, obwohl der Vater Opernsänger war und viele weitere Verwandte den Sängerberuf ausübten. Die Kriegswirren verhinderten eine kontinuierliche Ausbildung. Beide Eltern verlor er früh, aber da hatte er die Entscheidung, Komponist zu werden, längst getroffen. Ab 1950 studierte Rautavaara Musikwissenschaft an der Universität von Helsinki und Komposition an der Sibelius-Akademie bei Aarre Merikanto. Rautavaaras erste gültige Werke, darunter die folkloristische Pelimannit-Suite, die unverhofft wieder Eingang fand in das Trinklied im dritten Akt des "Aleksis Kivi", standen unter dem Einfluß Bartóks. Sibelius ließ ihm ein Stipendium der Koussevitzky-Foundation in New York zukommen. Er studierte1955-56 an der Juilliard School bei Vincent Persichetti und belegte in Tanglewood Kurse bei Aaron Copland und Roger Sessions. Danach ging Rautavaara nach Ascona zu Wladimir Vogel, wo er mit gestrenger Pedanterie in den seriellen Techniken unterwiesen wurde. Die Folgen der Auseinandersetzung mit der Serialität sind an den ersten vier Sinfonien abzulesen, die zwischen 1956 und 1963 entstanden. "Meine Vierte war das erste serielle Werk in Finnland. Danach sah ich: Ich kann nicht weitergehen auf diesem Weg. Das war alles, was drin war." Allerdings wandte sich Rautavaara nicht gegen die seriellen Techniken: "Die sind doch Hilfsmittel. Ich habe immer wieder Zwölftonserien benutzt. Heute verwende ich sie sogar wieder sehr viel, zum Beispiel in 'Aleksis Kivi', jedoch als Aspekt einer Fusion der Mittel." 1976 wurde er, der seit zehn Jahren Vorlesungen in Musiktheorie hielt, zum Kompositionsprofessor an der Sibelius-Akademie ernannt, wo er bis 1990 lehrte. Das Signum von Rautavaaras Handschrift seit den siebziger Jahren ist Synthese.

Zurück zu seiner jüngsten Oper, dem 1995-96 entstandenen "Aleksis Kivi":

Der zweite Akt ist von eher drastischem Zuschnitt und recht knapp gehalten. Der reife Kivi, verbittert vom Leben, steht da, den Hut in der Hand, und erbittet Ahlqvists Unterstützung für die Veröffentlichung seiner Bücher. Ahlqvist überfliegt still die Manuskripte und verläßt schließlich den Raum. Der entmutigte Kivi versteckt sich vor der Gruppe von Jungfinnen, früherer Förderer, die Ahlqvists verächtlichen Blick bemerken und, unüberhörbar für Kivi, damit beginnen, seine Werke in Fetzen zu reißen. Dieser Möchtegern-Schreiber von "Räubergeschichten" könnte unmöglich eingeladen werden, höhnen sie, um am Kopf eines Tisches bei einem vaterländischen Fest zu sitzen – er würde unter den Tisch rutschen… Sie gehen ab. Kivi hat alles zufällig mitangehört und fühlt den starken Bedarf nach einem Halt, aber er besitzt keinen Pfennig mehr. Ahlqvist läßt eine Münze auf den Boden fallen und Kivi eilt nach draußen. Ahlqvists Monolog enthüllt seine asketische, kompromißlose Lebenseinstellung. Er kann sie nicht tolerieren, diese "Beschmutzer der Sprache und Moral des Volks". Sie müssen vernichtet werden.

Zu Beginn des dritten Akts betritt Kivi das leere Foyer des Theaters. Er trinkt und versinkt in Gedanken, bis die mythischen Gestalten seines Unterbewußtseins vor ihm in schreckenerregenden Halluzinationen erscheinen. Er fällt in schweren Schlaf, und der ganze dritte Akt findet halb in der wirklichen Welt, halb in der Welt seiner Visionen statt. Ahlqvist erscheint, wie er den altersschwachen Runeberg im Rollstuhl vor sich herschiebt, und indem sich das Publikum dem Buffettisch nähert, verlagert sich die Szene in eine Taverne. Charaktere aus Kivis "Heideschuster"-Schauspiel tauchen auf, möglicherweise von der Bühne, möglicherweise aus der Imagination, darunter ein Geiger und ein Flötist, die die Leute zu einem wilden Tanz anspornen. Kivi selbst dirigiert ein Trinklied. Wieder ist es Charlotta, die versucht, Kivi aus seinen Halluzinationen zu retten, aber es ist zu spät. Ahlqvist, nun als leibhaftiger Teufel mit Hörnern auf seinem Kopf, dazu die Studenten mit ihren falschen Lobliedern und Runeberg persönlich mit all seinen Ehren, sie alle fallen letztlich über ihn her in einem Strudel von Anklage, Verfolgung, Hohn und Wahnsinn. Der Epilog spielt im Irrenhaus. Kivi begegnet seinem jugendlichen Selbst wieder und besingt mit ihm die "Insel des Glücks", einen Traum von Frieden und Schönheit. Der Irrenarzt – eine weitere Variante Ahlqvists – begleitet Charlotta herein. Das letzte Lied erzählt bereits vom Reich des Todes, wo Frieden und Schönheit ewig regieren.

Hören Sie jetzt noch den zweiten und dritten Akt mit Epilog aus Einojuhani Rautavaaras Oper "Aleksis Kivi" im Mitschnitt der Uraufführung vom 8. Juli 1997 in Savonlinna.

RAUTAVAARA: "ALEKSIS KIVI", 2. AKT; 3. AKT und EPILOG (ca. 55'00")

Manuskript für Bayerischer Rundfunk, 4. Programm

Redaktion: Susanne Schmerda

Sendung: 4.9.1997, 18:05 Uhr

Christoph Schlüren, 9/’97