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Arne Nordheim

Nordische Melancholie – "Nachruf" für Streichorchester (1956-57/75)

"Fast nie treffe ich Leute, die meine Musik unmittelbar in ihrer Tiefe verstehen, die Motivation dahinter erahnen. Ich bin sehr alleine. Ich bewege mich auf sehr unsicherem Boden im Leben. Ich weiß, daß bestimmte Dinge passieren werden, aber ich weiß nie, wann. Und es passiert. Ich bin katastrophal, eine Mischung aus Poetischem und Katastrophe. Das Poetische war immer da, auch schon in meinem Streichquartett [1956], und das hat sich auch nicht geändert. Auch in Magma [1988] ist mein Streichquartett präsent, aber das Katastrophische ebenso. 'Ich bin kein Komponist. Ich bin eine rufende Stimme.' So sagte Allan Pettersson. Er hatte es absolut verstanden. Meiner Musik kann man nicht einfach vertrauen. Da ist Zerstörerisches, Gefährliches, das plötzlich zuschlägt. Es ist wie im wirklichen Leben: Wir werden von den Nachrichten überrascht. Nachruf stammt noch aus einer Zeit, als meine musikalische Welt eine heilere war."

Arne Nordheim, Oslo, 14.10.1995

"Als 23-24jähriger schrieb ich mein Streichquartett, vielleicht mein erstes vollgültiges Werk. Ich komponierte sehr unbefangen. Ich mag das Stück immer noch sehr, in der originalen Fassung. Später habe ich es für Streichorchester arrangiert. Es war eine Wiederbegegnung mit meiner Jugendwelt, weswegen ich es 'Rendezvous' nannte. Als Teil meiner Jugend birgt es viele Assoziationen. Es klingt ein bißchen nach Sibelius. Es ist recht schwermütig, aber nicht so sehr wie Sibelius. Der letzte Satz daraus, der Nachruf, ist die Rückkehr zur Melancholie des Beginns nach einem lebendigeren Intermezzo."

Das 1957 vollendete Streichquartett gliederte sich in drei Sätze: I. Lento quasi una improvisazione, II. Intermezzo und III. Epitaffio. 1975 übertrug Nordheim zunächst den langsamen letzten Satz für Streichorchester. Da er mittlerweile, 1963, ein eigenständiges Werk für Orchester und Tonband mit dem Titel Epitaffio komponiert hatte, konnte er den ursprünglichen Titel nicht wiederverwenden und benannte den Satz in Nachruf um. Erst 1987 richtete Nordheim, auf eine Anfrage des Norwegian Chamber Orchestra hin, auch die ersten zwei Sätze für Streichorchester ein, versah das Ganze mit dem Titel Rendezvous, mit den Sätzen I. Praeambulum quasi una fantasia, II. Intermezzo und III. Nachruf. Rendezvous wird seither häufig gespielt, doch hatte sich inzwischen Nachruf als vom ursprünglichen Kontext unabhängiger Beitrag zur Streichorchesterliteratur durchgesetzt.

In den sechziger Jahren profilierte sich Nordheim als Norwegens führender Avantgardist, und machte seinen Weg als heute international bekanntester lebender Komponist seines Landes. Vor allem seit den achtziger Jahren wurden die lyrischen, kantablen Elemente, wie sie seine Jugendwerke prägten, in seinem Schaffen wieder dominierender, nunmehr in Durchdringung mit den jüngeren technischen und klanglichen Errungenschaften und getragen von einem unberechenbaren Explorationsgeist, zum Beispiel in Werken wie der Rilke-Kantate Wirklicher Wald oder Magma für Orchester.

Der junge Arne Nordheim hatte bei Bjarne Brustad, einem norwegischen Schüler Béla Bartóks, studiert. "Ich wollte damals unbedingt bei Brustad studieren. Es war fast eine Mode, zu ihm zu gehen. Dabei war Brustad kein allzu interessanter Komponist. Seine Musik hatte einen gewissen natürlichen Fluß, und seine erste Symphonie ist ein schönes Werk. Er war übrigens gar nicht zufrieden mit meinen Sachen. Ich kannte Bartóks letzte drei Quartette ganz gut. Mein Quartett war vor allem von Bartók beeinflußt.

Ich weiß nicht, was Brustad von meinem Quartett erwartete. Ich war ein wahnsinnig begeisterter Künstler und glaubte an das Nordische in der Musik, wie bei Sibelius, dessen vierte Symphonie mir am meisten bedeutet. Aber auch Gustav Mahler war eine ganz große Inspiration, dabei war es in den Fünfzigern nicht zeitgemäß, Mahler zu lieben: er galt als schmalzig, banal und sentimental. In den Theoriestunden am Konservatorium wollte man seinen Namen überhaupt nicht nennen. Brustad fand meinen Geschmack schlecht. Ich war durchdrungen vom 'nordischen Ton' und dem Lied von der Erde. Und Nachruf hat im langsamen Streichersatz etwas Mahlersches, wie am Ende seiner neunten Symphonie..."

Konstante Kollision zweier Welten

Neben der sehr breiten Metronomisierung Viertel = circa 46 trägt Nachruf die Vortragsanweisung 'Mit innigster Empfindung'. Das Stück steht in C. Der ganze Anfang ist beherrscht von der Quinte c-g in Violoncelli und Kontrabässen. Darüber entsteht, geboren aus dem widersprechenden as, eine mit zwei aufwärtsgerichteten Septimsprüngen weitausschwingende Melodie der Bratschen, die in ihrem sehnenden Gestus immer wieder von den Basistönen g und c angezogen wird, im introvertierten Modus zur Unterquintregion hinstrebt. Die ersten Geigen nehmen die Bratschenmelodie nochmals auf. Vor allem die phrygischen Tonstufen des und as treten immer wieder als charakteristisch reibende Kleinsekund-Dissonanzen dem Grundklang entgegen, das Spiel mit der Erwartung ihrer Auflösung schafft Spannung. Da verstummt der Grundklang, as bleibt übrig. Sehr exponiert stellt sich dem die Septime g entgegen, und die nun folgenden kraftvollen, aufsteigenden Quartfortschreitungen — die Bartók-naheste Passage —, leiten die zentrale, polyphon belebte Phase ein. Die prästabilierte Harmonie ist ausgesetzt, über den emporsteigenden Quartschritten der Celli und Bässe tendiert sie im weit aufgefächerten Stimmengeflecht nach e, zum Höhepunkt des dynamisch durchweg zurückgehaltenen Stücks, das nie über Piano hinauswächst (die zugrundegelegte Dynamik ist Pianississimo). Die tiefen Stimmen bestimmen auch die Rückmodulation. Die verhaltene Schlußphase ist von der konstanten Kollision zweier opponierender Welten, der Grundquinte c-g und der melodisch direkt benachbarten Quinte des-as, geprägt. Der Gegensatz bleibt unaufgelöst: in hoher Lage behauptet sich das as gegen den Grundklang, verebbt mit ihm im Nichts.

"Nachruf bezieht sich auf keine Person oder Situation aus dem Leben. Warum auch? Der Titel drückt bestimmte Empfindungen, löst Assoziationen aus, die für jeden andere sind. Und als Finale eines dreisätzigen Werks ist es ein Nachruf auf das Vorangegangene."

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Salzburger Festspiele, 1997]