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Umstrittene Finali und Eselsgeschenke

Mendelssohns Schottische und Bruckners Sechste Symphonie

Gerade erst gastierte er beim NDR-Sinfonieorchester mit Beethovens "Pastorale" und der "Unauslöschlichen", der Vierten von Dänemarks überragendem, hierzulande immer noch fahrlässig unterrepräsentiertem Symphoniker Carl Nielsen – zwei Symphonien mit mehr oder weniger verkapptem Programm. Und nun leitet Herbert Blomstedt, zuletzt Chefdirigent des San Francisco Symphony Orchestra, in neuem Amt und Würden sein Leipziger Gewandhausorchester mit Felix Mendelssohn-Bartholdys Dritter Symphonie, der sogenannten "Schottischen", und der Sechsten Symphonie von Anton Bruckner. Mendelssohns Werk steht in a-moll und endet in A-Dur, übrigens der Stammtonart von Bruckners darauffolgender Sechster. Wer in den Tonarten weiter forscht, wird feststellen, daß auch Mendelssohns andere weltberühmte Symphonie, die "Italienische", in A-Dur steht; und nicht genug damit, wie sich Robert Schumann erinnerte: "Er (Mendelssohn) besitzt das Original der A-Dur-Sinfonie von Beethoven. Auf meine Frage, wer sie ihm geschenkt, sagte er lustig: ´Ein Esel!ª" Ende Juli 1829 berichtete Mendelssohn aus Schottland von einer Besichtigung des Holyrood-Palasts in Edinburgh: "Der Kapelle daneben fehlt nun das Dach, Gras und Efeu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist da alles zerbrochen, morsch, und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heut da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden." Ja, so stellen wir uns die Romantiker vor! Das wehmütige, liedhafte Andante con moto, das den Kopfsatz einleitet und beschließt, jenes verhangen sturmdurchwehte Allegro umrahmt, welches gegen Ende zu einem naturalistisch bewegten Seebild aufbegehrt. Ein Vivace-Scherzo von unvergleichlich sanguinischer, naiv-übermütiger Ursprünglichkeit schließt sich an, sodann ein zauberhaft melancholisches Adagio von edelster Sanglichkeit. Alle Sätze, so Mendelssohns neuartige Forderung, müssen ohne längere Unterbrechung aufeinander folgen, um sich zu einem einzigen Eindruck zu vereinigen. Kriegerisch, energisch nimmt uns das Finale auf eine Vivacissimo-Jagd mit, doch schließt die "Schottische" unerwartet mit einem hymnischen Allegro maestoso assai in dunkel-prächtigem A-Dur. Dieser weitausgreifende Schlußteil ist umstritten geblieben. Manche, wie der feinfühlig-entschlossene Felix Weingartner, haben sich mit unauffälligen Kürzungen beholfen. Otto Klemperer gar sah sich veranlaßt, einen eigenen Schluß im Stil Mendelssohns zu komponieren ("Keine Note in dem von mir ersetzten Schluß ist nicht von Mendelssohn"), der in nicht enden wollender Elegie ausschwingt und die absolut sinnvolle finale Aufhellung leugnet – dies nun wirklich ein "Eselsgeschenk", jedoch in a-moll. Hat es doch auch (gelegentlich…) überzeugende Darbietungen des Originals gegeben.

 

Anton Bruckners Sechste Symphonie, entstanden 1879-81 nach der im Finale gigantisch aufgipfelnden Fünften, stand stets im Schatten der sie umgebenden Symphonien. Selbst ein Bruckner-Exeget wie Georg Tintner sparte nicht mit Kritik: am Finale, dem er manche Banalität und selbstgefällige Wiederholung attestierte. Zu Bruckners Lebzeiten wurden nur die Mittelsätze einmal aufgeführt – das feierliche, introvertiert erhabene Adagio, welches man als eine seiner großartigsten Schöpfungen erkannte, und das knappe, revolutionäre Scherzo mit seiner bizarr fragmentierten Melodik. Der grandiose Kopfsatz hingegen, in seinen polyrhythmischen Überlagerungen neben dem hochkomplizierten fugierten Finale der Fünften Bruckners am schwersten auszuführender Satz, blieb ebenso liegen wie das Finale mit seiner überaus prägnanten Thematik. Erst knapp drei Jahre nach Bruckners Tod dirigierte Gustav Mahler die Uraufführung aller vier Sätze, allerdings in erheblich gekürzter und entstellter Bearbeitung. Es sollte weitere 36 Jahre dauern, bis die Originalfassung zugänglich gemacht wurde.

Anders als in der Vierten, Fünften und Achten Symphonie, wo sich das symphonische Format erst im Finale restlos entfaltet, sind die Schlußsätze der Sechsten und Siebten – wie einst bei den Wiener Klassikern – leichtgewichtiger und bleiben etwas hinter dem gewaltigen Eindruck der ersten zwei Sätze zurück. Die Siebte wurde trotzdem in ihrer unmittelbar sich erschließenden Wirkung sehr populär, die schwierigere Sechste aber blieb – bei aller begeisterten Anerkennung – das Stiefkind unter Bruckners reifen Symphonien und nährte weiter die Rede vom Finalproblem der Romantiker – sei’s nun bei Beethoven, Mendelssohn, Schumann oder eben auch Bruckner. Daß es sich bei dieser hartnäckigen Ansicht lediglich wiederum um "Eselsgeschenke" handelte, ist zu bezweifeln. Der Größe ihrer Werke tuts jedenfalls keinen Abbruch.

Christoph Schlüren