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Siegfried Matthus (geb. 1934)
Affektiver Grundgestus

Responso. Konzert für Orchester (1977)

I Ostinato – II Notturno – III Adagio – IV Ciacona

"Responso' entstand, als ich mich aus bestimmten Zwängen der kompositorischen Material- und Methodenästhetik befreien mußte, um wieder Musik mit nachvollziehbarem Ausdrucksgehalt zu komponieren. Die zahlreichen Zitatmodelle haben ihre dramaturgische Bedeutung mehr in der, den jeweiligen Satz bestimmenden, dramaturgischen Konzeption, als in ihrem semantischen Eigenwert. Nur das einzige wirkliche Zitat aus Bachs Matthäus-Passion '… und ging hinaus und weinete bitterlich' hat über das Adagio hinaus zentrale inhaltliche Bedeutung. Ich wünsche mir, daß 'Responso' nicht spekulativ gehört, sondern der affektive Grundgestus der einzelnen Sätze sinnenhaft nachempfunden wird."

Siegfried Matthus

Siegfried Matthus wurde am 13. April 1934 im ostpreußischen Mallenuppen geboren und studierte Komposition bei Rudolf Wagner-Régeny und Hanns Eisler. Er ist einer der erfolgreichsten Tonsetzer der ehemaligen DDR und hat sich besonders als Opernkomponist profiliert. Matthus komponierte 'Responso' (lat., 'Ich antworte'), ein viersätziges Konzert für Orchester, im Auftrag der Dresdner Staatskapelle, die das Werk am 27. Oktober 1977 unter Herbert Blomstedt uraufführte. 'Responso' steckt voll vielfältig verknüpfter musikgeschichtlicher Bezüge und Verweise. Der erste Satz, ein impulsiv gestisches 'Ostinato' mit schnellem Grundtempo, ist

aus dem Anfang von Strawinskijs 'Le Sacre du Printemps' abgeleitet. Der schroff akzentuierten Heterogenität des ersten Abschnitts tritt ein gedämpft kantabler Piano-Teil gegenüber. Über einem durchlaufenden Rhythmus wird eine Steigerung gebaut. Die eruptive Anfangswelt kehrt wieder, zerbirst in einem Ausbruch, 'wie ein Aufschrei'. Der desolate Abschluß wirkt theatralisch. Der zweite Satz, 'Notturno', ist ein schattenhaftes Elfenspuk-Scherzo in A-B-C-A-Form. Den Rahmen bildet ein Sommernachtstraum-Allegro. Vieles blitzt auf: Mendelssohn, Weber, Brahms, Verdi usw, in einer Strawinskij nachempfundenen Sprache verknüpft. Das 'Adagio' ist der zentrale Satz, der sich ambitioniert auf Mahler (Finale der neunten Symphonie) bezieht, versucht, von dessen sentimentalem Überschwang eine Brücke zum inneren Gleichgewicht der Bach-Zeit zu schlagen. Die kontrapunktische Fusion der zwei Welten löst sich am Höhepunkt in das oben genannte Bach-Zitat. Das Finale ist eine am Brahmsschen Modell (Finale der Vierten Symphonie) orientierte 'Ciacona' über einen neuntaktigen Baß in zwanzig Variationen, im extrovertierten, kontrastbedürftigen Duktus ganz Kind seiner Zeit.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Berliner Festwochen, 1997]