< RARE MUSIC STARTSEITE

Transzendierte Trauer

Bohuslav Martinu (1890-1959) – Památnik Lidicim
Mahnmal für Lidice, 1943, Adagio

Am 10. Juni 1942 machten deutsche Truppen, in einem Akt maßlosen Vergeltungswahns nach der Ermordung des Reichsprotektors Reinhard Heydrich, das kleine böhmische Dorf Lidice unweit von Kladno in einem Massaker dem Erdboden gleich. Lidice wurde zum Symbol nationalsozialistischen Kriegsterrors. Die tschechoslowakische Exilregierung in London bat Bohuslav Martinu, den in die USA emigrierten, prominentesten lebenden tschechischen Komponisten, um eine Mahnmal-Komposition. Doch kam Martinu aufgrund der Arbeit an seiner ersten Symphonie über eine erste Skizze zum Lidice-Mahnmal (die ihn nicht zufriedenstellte) im August 1942 nicht hinaus. Er beschäftigte sich erst ein Jahr später wieder damit, nachdem er auch seine zweite Symphonie komponiert hatte. Martinu schrieb das 'Mahnmal für Lidice' innerhalb weniger Tage im August 1943 an seinem Ferienort Darien in Connecticut nieder. Das ca. 8-9minütige Werk, eine Art freier Choralmeditation, wurde am 2. Oktober 1943 von den New Yorker Philharmonikern unter Artur Rodzinski in New York uraufgeführt.

Martinu konzipierte 'Lidice' nicht als Programmusik, sondern unter rein musikalischen Gesichtspunkten. Es sollte der langsame Mittelsatz eines orchestralen Triptychons sein, für welches er den Titel RAF (Royal Air Force) vorgesehen hatte. Dieser Plan blieb jedoch unausgeführt, 'Lidice' als isoliertes Tongedicht bestehen. Der Charakter der 'Lidice'-Komposition ist derjenige abgeklärter, den ursprünglichen Anlaß transzendierender Trauer.

 

'Lidice' steht in c-moll, einem c-moll, das freilich gleich mit cis-moll kollidiert. Der Schluß hellt sich nach C-Dur auf. Strukturell bedeutsam ist der Wechsel akkordischer Säulen mit kleinen, polyphon geschlossenen Phrasen, der den Anfang prägt und später die hymnische, schicksalhafte Wirkung unterstützt. Die gesamte Melodik zielt anfangs abwärts, im introvertierten Gestus von Bekümmernis. Die eine Quart umfassende, mehrfach wiederkehrende melodische Hauptzelle des Choralgewebes erscheint erstmals in Flöten und Oboen (d-g-f-d). Wichtig sind auch einfache, akkordisch gestützte Wechselnoten im Sekundabstand. Martinus tief im Diatonischen wurzelnde Klangsprache, sein tschechischer Tonfall sind unverkennbar. Das Aufblühen des orchestralen Tuttis geht im bewegteren 'Andante moderato'-Tempo vonstatten, den Höhepunkt der Entwicklung, zugleich Rückkehr ins 'Adagio', markiert die dramatisch aufwärtsgestemmte große Septime. In dem folgenden Subdominant-Klang ertönt marcato ein Quasi-Zitat des Hauptthemas von Beethovens fünfter Symphonie.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Berliner Festwochen, 1997]