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Jón Leifs

Streichquartette
Nr. 1 op. 21 "mors et vita" (1939) und
Nr. 3 op. 64 "El Greco" (1965)

An Jón Leifs’ drei Streichquartetten läßt sich gut seine Entwicklung vom frühen Reifestil zum radikalen Spätstil ablesen. Das erste Quartett, 'mors et vita', entstand 1939 während der ersten drei Kriegsmonate in Rehbrücke bei Potsdam. Das einsätzige Werk basiert auf dem alten isländischen tvisöngur, in welchem der arme Bauer Bólu-Hjálmar singt: "Es nahet mein letzter Abend". Fragmente dieses Gesangs durchziehen den langsamen ersten Teil, und am Ende, mit der Verbreiterung des langsamen Schlußteils (più adagio, quasi grave) erklingt der vollständige, trauervolle Gesang. Von diesem Trauerton ist das ganze Quartett geprägt. Es gliedert sich in drei langsame Abschnitte (Adagio), die von zwei schnelleren (Andante con moto) durchsetzt werden. Der erste Andante con moto-Abschnitt wird jäh von einem wilden Presto unterbrochen, dann kehrt das Andante-Tempo wieder. Im zweiten Abschnitt, für den eine allmähliche Beschleunigung vorgeschrieben ist, dringt die schnelle Bewegung aus dem Presto-Teil figurativ in die Andante-Bewegung ein als vorantreibendes Element. Der mittlere langsame Abschnitt beginnt karg und zurückhaltend dissonant, um erst später zu dem für Jón Leifs so typischen, fremdartig schönen akkordischen Leuchten zu finden, das die rahmenden Abschnitte charakterisiert. Jón Leifs’ erstes Quartett wurde erst siebzehn Jahre nach seiner Entstehung 1956 in Reykjavík uraufgeführt.

1948-51 entstand das zweite Streichquartett 'vita et mors', sein umfangreichster Gattungsbeitrag, in welchem Jón Leifs in drei Sätzen (Kindheit, Jugend und plötzlicher Tod, Requiem und Ewigkeit) den frühen Tod seiner 17jährigen Tochter Lif verarbeitete.

Das dritte Streichquartett op. 64 'El Greco' schrieb Jón Leifs 1965 innerhalb kurzer Zeit (Ende August – Anfang September) nieder. Im Frühjahr desselben Jahres hatte er das IGNM-Festival in Madrid besucht und sich an der visionären Kunst des El Greco begeistert, zu der er nun ein klingendes Äquivalent zu schaffen versuchte. Die fünf Sätze des Werks sind sein innerer Widerhall zu fünf Gemälden El Grecos und keine illustrierende Programmusik.. Dabei paßt Leifs’ merkwürdig unwirkliche Klangwelt vortrefflich zu den irreal erhabenen Farben, Formen und Räumen des großen Malers der ausgehenden Renaissance. Der erste Satz, 'Toledo' (Andante con moto, quasi allegretto), bezieht sich in der von fern grollenden Stimmung sicherlich auf das berühmte Bild 'Toledo im Wetterleuchten'. Die anfängliche Tremolo-Unruhe wird allmählich von den für Jón Leifs typischen reinen Dreiklängen, die meist in Ganztonleiter-Intervallen aufeinanderfolgen, abgelöst.

Im zweiten Satz, einer 'Vision von El Grecos Selbstbildnis', identifiziert sich der Komponist in seiner exquisit asketischen und zugleich intensiv resonierenden Klangsprache mit dem bewunderten Maler. Bei absolut kontinuierlichem Grundpuls verwandelt sich das Adagio-Tempo mit einem Mal in ein für Jón Leifs’ isländisches Idiom typisches, gezacktes Scherzando auf rímur-Basis, welches in einem eckigen, 'rigido' auszuführenden Tanz seine Überzeichnung erfährt und ebenso plötzlich wieder in den ursprünglichen Adagio-Fluß zurückfindet. Strahlende Marcati bilden den Schluß. Der knappe, wilde dritte Satz, 'Jesus vertreibt die Geldwechsler aus dem Tempel', knüpft thematisch und klanglich (tremolo) an den Kopfsatz an, wobei von den Musikern auch zwei tutti-Faustschläge gegen die Instrumente gefordert werden. Wie das Einschlagen von Nägeln wirkt der Beginn des vierten Satzes, 'Die Kreuzigung', in der tiefen Mischung von pizzicato-Cello und col legno-Bratsche, zu der in der Höhe das fahle Flageolett der ersten Geige hinzutritt. Der Satz durchschreitet verschiedene Klangstadien (weite Distanz zwischen erster Geige und Cello, leuchtende piano-Akkorde, glissandi mit und ohne tremolo), ist von extremer Innenschau getragen und schließt morendo (ersterbend). Den trotzigen Kontrast dazu bildet der kurze fünfte Satz, 'Die Auferstehung', die in der Wiederaufnahme des Tremolos wie eine Coda zum ganzen Werk wirkt. Der Abschluß ist lakonisch verklärt. Dieses herrliche kammermusikalische Vermächtnis aus Jón Leifs’ später Schaffensphase, in welchem er die Vorzüge seiner orchestralen Schreibweise in frappierender Manier auf die limitierte Besetzung zu übertragen vermochte, gehört in seiner radikalen Eigenart zu den Gipfeln der Streichquartettgattung in der zweiten Jahrhunderthälfte. Jón Leifs selbst bekam es nicht mehr zu hören. Es wurde erst 1969, im Jahr nach seinem Tod, in Reykjavík uraufgeführt. Erst 1994 war es das junge Yggdrasil-Quartett, welches als sein eigenes CD-Debüt sämtliche drei Streichquartette zum ersten Mal einspielte (BIS-CD 691).

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Wien Modern, Konzerthaus Wien 1998]