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Leos Janácek

Katja Kabanowa

Wenn ich den Sinn der Dinge erfasse, so beherrsche ich sie. Ich gehe daher der Idee des 'Kontrapunktes' nach. Wer würde wohl unter dem altertümlichen Namen eine Flut eingezwängter, unnachgiebiger Elemente suchen? Eine Flut gefesselten Sturmes und Blitzes, Nebelgeschwader mit durchdringendem Sonnenstrahl, Lachen und Weinen auf einem einzigen Antlitz?

Barbara und Kudrjasch im blassen Vollmond und die Inbrunst der Katja mit Boris im ersehnten Schatten? Ist das echtes Lachen?...

So wie es sicher ist, daß die Grundlage des sogenannten Kontrapunktes ein gleichzeitiges Zusammentreffen der Gefühlskontraste ist, so läßt sich auch das gleichzeitige Tosen verschiedener Akkorde sowie der Anschlag der geglätteten Flächen zweier verschiedener Tonarten ertragen... falls sie im ursächlichen Verhältnis von Erregung gegenüber Frieden, Spannung gegenüber Entspannung, Fröhlichkeit dem Ernst gegenüber stehen."

Leos Janácek in 'Bürgermeister Smolík', einem Feuilleton aus den Lidové noviny vom 18. März 1923.

Leos Janáceks 'Katja Kabanowa' entstand 1919-21 und wurde Janáceks überwältigendster Bühnenerfolg nach der 'Jenufa'. Ihre Entstehung fiel in die Zeit beginnender internationaler Anerkennung seines Schaffens. Zur Uraufführung kam sie am 23. November 1921 in Brünn, und der Prager Première folgte noch 1922 die deutsche Erstaufführung in Köln mit deutschem Text von Max Brod, der wie kein anderer Janáceks Kunst im deutschsprachigen Raum zu Verständnis und Verbreitung verhalf.

Die 'Katja Kabanowa' basiert auf der Tragödie 'Burya' ('Der Sturm' oder 'Das Unwetter') des russischen Dramatikers Aleksandr Nikolajewitsch Ostrowskij (1823-86). Nach 1860 war 'Burya' für einige Zeit das erfolgreichste russische Bühnenwerk und wurde an allen dortigen Theatern gespielt. 1864 schrieb Tschaikowskij, davon angeregt, die Ouverture 'Der Sturm', und wenig später komponierte Vladimir Kasperow eine Oper gleichen Titels, die es über regionale Wertschätzung nicht hinausbrachte. Janácek kam 1918 mit dem Sujet in der tschechischen Übersetzung von Vincenc Cervinka in Berührung, die Grundlage seines Librettos wurde. Er arbeitete die Vorlage zielstrebig um, ersetzte Umständlichkeiten und langatmige Nebenschauplätze durch psychologische Stringenz, untrügliches Timing und dichte Einfachheit, kürzte somit die fünf Akte auf zwei zusammen, die jeweils in zwei Aufzüge unterteilt sind, und verringerte den personellen Umfang, um die Profile der beteiligten Charaktere umso markanter herauszuschälen bzw. zurechtzukombinieren. Janácek rückte vom Titel der dramatischen Vorlage ab: "Nicht dieses Naturphänomen ist der Hauptschwerpunkt der Handlung. Trägerin des psychologisch interessanten Werdegangs ist die Katerina..." (31. März 1921 an Cervinka). Zudem änderte er den Namen der Protagonistin Katerina zu Katja, um unerwünschte Assoziationen mit Kaiserin Katharina II. auszuschließen.

Katjas Schicksal ist konsequente Leitlinie, seelisches Rückgrat der ganzen Handlung. Alle Episoden kreisen um ihre Befindlichkeit, deren Umstände und Zuspitzung, alles treibt zielsicher dem unvermeidlichen, immer wieder seine Schatten vorauswerfenden Ende zu. Katjas Selbstmord ist Schrecken und Erfüllung, Angst und Unerschrockenheit in einem. Das ganze eineinhalbstündige Werk ist eine archaische Verherrlichung des Unabwendbaren, Schicksalhaften und zugleich die subtilste Analyse menschlicher Schwächen, übelst üblicher Gewöhnlichkeiten, eine alles verstehende und bloßlegende Fallstudie, ein Schaustück von unvermeidlicher Vermeidbarkeit: Die 'Katja Kabanowa' ist ein Paradoxon - dramatisch, (tiefen-)psychologisch, und musikalisch.

Oft, vor allem in den - häufigen - erregten oder überzeichneten Partien, ist es die "Sprachmelodie", mit der die Akteure ihr Innenleben in einer intuitiven Direktheit preisgeben, die sich jeglicher Analyse verschließt. Dieses vom affekthaft sprechenden Tonfall abgeleitete Melos führt zu extremer Eigenständigkeit kontrastierender Charakterzeichnung, verzichtet aber zwangsweise auf melodische Signifikanz. Den melodischen Halt in Form von für Janácek so typischen, knappen, vitalen, einprägsam faßlichen Motiven geben diesem Spiel der enttarnten Seelen stets die instrumentalen Stimmen aus dem (eigentlich begleitenden) Orchester. Wer begleitet hier wen? Das kann keine musikalisch motivierte Fragestellung mehr sein.

 

Ganz entschieden hieße es: "Drama mit Musik", in unzweifelhafter Rangfolge. Aber ohne die "Musik" wäre es nicht tragfähig, ja keineswegs interessant. Wenn Schönheit aufscheint, die meist eine herbstliche, nostalgische, vergängliche Komponente trägt bei Janácek, so ist ihm Antonín Dvorák besonders nahe - ohne jede stilistische Scheu bekennt er sich zu den gemeinsamen Wurzeln mit dem geliebten Vorbild.

Die Rahmenbedingungen der 'Katja Kabanowa' sind "unsentimentale". Sie sind unbarmherzig und heimatlos. Anfang und Ende bildet der mächtige Strom, der in seiner ewigen Bewegtheit von nichts zu bewegen ist - die Wolga. Was ist schon ein Einzelschicksal? So gut wie nichts? Nein, alles! Für den Einfühlenden, Mitleidenden hat es alleinige Bedeutung. Diesem widersprüchlichen Grundempfinden, der potentiellen Schizophrenie in jedem entspringt die Verselbständigung dessen, was man "Schicksal" nennt, die gemeinsame Flamme von Todesangst und Urvertrauen, und der wahre Künstler versteht es, seinen alltäglichen Verstrickungen im Schaffen zu entgehen, als Wissender die einander nicht kennenden Stimmen des Unwissens suggestiv zieleinig aufbegehren zu lassen. Wovon spricht das Paukenmotiv, das am Anfang der Oper insistiert, das Ende des ersten Akts markiert und am Schluß wiederkehrt? Wenn der Freidenker Kudrjasch im Gewitter von der Freude der kleinen Kreatur an dem, was die Menschen als Strafgericht wahrzunehmen glauben, fabuliert, wieso nimmt gerade er hier das Dies Irae-Motiv vorweg, mit dem sich die grausame Kabanicha, Katjas von Eifersucht aufgestachelte Schwiegermutter, bei den Nachbarn "für die Mühe" bedankt, die Leiche der Verwunschenen aus der Wolga gezogen zu haben?

In der 'Katja Kabanowa' herrscht Realismus und nicht mehr romantischer Geist. Die "Guten" sind fahrlässig oder schwach, die "Schlechten" überleben und haben auch bewundernswerte Züge. Die Personen, desgleichen die musikalischen Motive schillern in individualistischer Ambivalenz. Aber Janácek hat nicht nur - Dostojewskij gleich unausweichlich detektivischem Wahrheitsdrang folgend - die Oper der Werterelativität der verschiedenen Wirklichkeiten seiner Individuen zugänglich gemacht wie keiner vor ihm. Er hat über die Synthese musikalischer und psychologischer Handlungsführung so unbestritten persönlich wie allgemeingültig, so raffiniert wie unmittelbar verfügt, und dies ist einer der Hauptgründe dafür, daß er heute als einer der überragenden Opernkomponisten des Jahrhunderts gilt. Die Wahrheit ist paradox, und sie läßt es zu, daß die gleiche Person unablässig und unüberhörbar ihren (mährischen) Wurzeln verbunden bleibt und ihr Schaffen zugleich unumschränkt universalistischen Geist atmet.

Vorliegende Neuaufnahme der 'Katja Kabanowa' referiert erstmals auf der 1992 bei Universal Edition, Wien erschienenen kritisch revidierten Neuausgabe der Partitur, herausgegeben von Sir Charles Mackerras, der hiermit als ausgewiesener Kenner von Janáceks Musik auch in der Praxis die Vorreiterrolle für einen neuen, durchschaubareren Abschnitt in der Rezeptionsgeschichte dieser Oper übernimmt. In zahlreichen Fällen ist Janáceks letzter Wille die Ausführung des Notentextes betreffend nicht eindeutig dokumentiert. In einigen Werken (z. B. im ersten Streichquartett) kann das zu dramatischen Unterschieden gleichberechtigter Lesarten führen, die die formale Physiognomie erheblich beeinflussen. Nicht so in der 'Katja Kabanowa', aber auch hier ist in vielen Fällen der persönliche Entscheidungsspielraum der Interpreten weiter als auf trittsicherer definiertem musikalischen Terrain, und birgt somit auch größeres Irrtumspotential. In den meisten Fällen jedoch ist die richtige Auslegung unklar notierter Situationen in der Eindeutigkeit des kompositorischen Zusammenhangs impliziert.

Christoph Schlüren

[Einführungstext zu Supraphon CD (Mackerras-Aufnahme), 1997]