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Interview mit Hans Werner Henze

zur 9. Symphonie

Herr Henze, soll Ihre Neunte den Gipfel Ihres Schaffens darstellen?

Hans Werner Henze: Sie ist nicht unbedingt das Schlußwort meines sinfonischen Schaffens, aber sicher das wichtigste und aussagereichste Stück, das ich geschrieben habe. Auch was die künstlerische Anstrengung angeht, ist diese Sinfonie das Extremste, was ich bisher gemacht habe: das waren viele, viele Jahre intensiver Beschäftigung. Ich habe das gerade erst hinter mir und bin jetzt in so einem schwarzen Loch der Erschöpfung.

Gleichzeitig mit der Sinfonie ist die Oper "Venus und Adonis" entstanden. Ich habe mich immer wieder für eine Weile der "Venus" zugewendet und bin dann intensiv zur Sinfonie zurückgekehrt, denn was in der Sinfonie geschieht, ist so furchtbar, daß ein kleiner Ausflug ins Mythische und Erotische die beste Balance war.

Sie sind 1926 geboren, waren also 1937 — in dem Jahr, in dem Anna Seghers’ Roman spielt — elf Jahre alt. Ist Ihr Interesse an dem Stoff auch biographisch geleitet?

Unbedingt. Die Neunte befaßt sich mit der deutschen Heimat, so, wie sie sich mir als jungem Menschen dargestellt hat. Es geht um meine Jugenderinnerung und -erfahrung, auch um das für mich schwer annehmbare Verhalten meines Vaters, um meine Schwierigkeiten mit Deutschland. Vor allem aber ist die Sinfonie Ausdruck meiner höchsten Verehrung für die Menschen, die in der Hitlerzeit Widerstand geleistet haben.

Es scheint mir, daß jetzt, zum Ende des Jahrtausends — auch historisch —, der Augenblick kommt, wo man nicht genug über diese Zeit sprechen kann, um die Leute daran zu erinnern, daß ein Rückfall in den Faschismus das Ende unserer Zivilisation mit sich bringen würde. So ernsthaft ist es ja zu sehen. Jeder Widerständler handelte auf seine eigene Weise, kam auf seine Weise zu der Einsicht, daß Widerstand zu leisten sei. Der schwäbische Tischler, der die Bombe im Hofbräukeller legte — eine einsame Entscheidung, er gehörte keiner Organisation an. Es war für ihn eine heilige Pflicht, das zu tun. So jemand ist ein wahrer Patriot, in meinen Augen.

Wie stellen Sie den krassen Realismus des Romans mit sinfonischen Mitteln dar?

Die sehr subtile und vorsichtige Dichtung von Anna Seghers regt dazu an, mit musikalischen Mitteln jemanden darzustellen, der von Hunden und der SS gehetzt wird und irgendwo zwischen Rhein und Main in einem Rübenfeld im Matsch liegt, wo die Hunde ihn erreichen. Seghers’ Werk ist unglaublich, sie hat wunderbare Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen — Licht, Wolken, Dämmerung… Da liegt er also und wartet auf seinen Tod, und dann hört man Musik aus der Dorfkneipe: "Gestern noch hat er bei ihnen gesessen".

Sie haben konkrete Bilder als Ausgangspunkt für Ihre Imagination genommen. Wie genau hält sich Ihr Librettist Hans-Ulrich Treichel im Gesangstext an die Romanvorlage?

Er nimmt sich Freiheiten, geht über den Realismus hinaus. Zwischen Seghers’ und Treichels Text ergibt sich ein Freiraum für die Musik. Fangen wir doch einfach von vorne an. Das Werk hat, dem Romantitel "Das siebte Kreuz" entsprechend, sieben Sätze. Nummer 1 heißt "Die Flucht". Am Ende müssen wir annehmen, daß sie den Entflohenen gefunden haben, die Hunde und die Schergen, und daß sie ihn jetzt totschlagen. Das muß ich alles darstellen mit der Musik.

Dann kommt etwas, was bei Anna Seghers nicht vorkommt: Der Übergang, im Ich-Ton — es ist übrigens alles im Ich-Ton, vom großen Chor im Ich-Ton gesungen — in den Hades, die Welt der Toten. Es wird einfach nur beschrieben, wie dieser Übergang vonstatten gegangen ist und wie dann all’ diese Toten fürchterlich schreien.

Warum der Chor?

Es geht mir um die Identifikation aller mit der betreffenden Person. Jeder kennt doch Zustände von Verfolgtwerden, sei’s auf größere oder kleinere Art, das gehört sozusagen zum seelischen Haushalt. Danach kommt eine Sache, die mich entsetzlich beschäftigt hat. Da gibt es einen Zirkusakrobaten, der auch aus dem KZ entflohen ist, auch ein Kommunist — Belloni mit Namen.

Er wird von einer Kostümschneiderin versteckt. Dann wird er verraten. Als sie kommen, um ihn zu holen, flieht er über das Dach, wird angeschossen und rutscht hinunter bis zur Dachrinne. Und dann — breitet er seine Flügel aus und fliegt über sein Heimatland, während er selbst auf die Straße knallt.

Wie ist das in Musik gesetzt?

Es ist ein Tanzlied, ein Akrobatenlied, so ein bißchen zirkushaft. Man sieht den Akrobaten gewissermaßen — hoffe ich jedenfalls. Und er beschreibt uns — "Ich, Belloni" —, was ihm passiert, was vorgeht, fast wie im Film. Vor Frankfurt fliegt er dann auf den Taunus zu, über den Zusammenfluß von Main und Rhein hinweg. Ich kenne ja die Gegend sehr gut, war viele Jahre dort am Theater engagiert. Ich bin einmal, im Sommer 1946, mit meiner Mutter von Darmstadt nach Wiesbaden gefahren — mit einer Fähre, die Brücken waren noch nicht wiedererrichtet. Ganz romantisch sah das aus, im hohen Gras — reines 19. Jahrhundert…

Und das sieht Belloni jetzt von oben?

Ja, und es endet ganz triumphal, mit einer Art Gloriole. Ich hatte keine andere Antwort.

Die Unvereinbarkeit zwischen der entsetzlichen Realität…

… eine andere gibt’s gar nicht!

… also der äußeren Realität und einer anderen, die viele vielleicht als Traumwelt oder Fluchtwelt bezeichnen würden, prägt Ihr ganzes Schaffen…

Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht so viel darüber nachgedacht. – Ich erzähle Ihnen noch einen Satz, der heißt "Die Platane singt". Es werden ja aus einer Platane sieben Kreuze gemacht, und diese Platane kommt bei mir zu Wort (das steht nicht bei Seghers) und besingt ihre eigene Schönheit. Und langsam wird dieser Gesang von Frauenstimmen durch Männerstimmen — das sind die Schergen mit den Sägen und Äxten, die den Baum fällen wollen — verdrängt. Auch "nett", das musikalisch zu "machen", nicht?

Dann der vorletzte Satz: Der Flüchtende blutet furchtbar an einer Hand und rettet sich über Nacht in den Mainzer Dom, wo er sich einschließen läßt. Es ist November, er erfriert dort fast und blutet immer weiter. Und die Heiligen sprechen und die Toten in ihren Gräbern. Und dann sieht er den Kreuzesmann da hängen, wie ihm das Blut aus der Seite rinnt. Er versucht mit ihm ein Gespräch, bekommt aber keine Antwort. Das ist ein fürchterlicher Satz. Dabei gehen zwölf Chorsolisten auf die gegenüberliegende Seite des Saals, auf die Balkonade, und stellen von dort den Gesang der Märtyrer, der Heiligen und Toten dar. Und am Schluß loben sie die Freuden der Folter, des Schmerzes…

Das hat keinen ironischen Beigeschmack?

Nein. Alles kommt von Gott. Alles ist wohlgetan.

Wie endet die Sinfonie?

Der letzte Satz heißt "Die Rettung". Es ist dem Fliehenden gelungen, ans Rheinufer zu kommen, an der Ecke, wo der Rhein in den Main mündet. Dort sollte er sich "einfinden", als habe er schon immer gewußt, daß er das hätte sollen. Dann kommt ein holländisches Boot und trägt ihn in die Freiheit. Der ganze Schluß ist ein Adagio, sehr homophon gesetzt, chorisch meistens vierstimmig, und das Gedicht ist ein bißchen einer Hölderlinschen Hymne nachgeahmt: "Der Main", auch vom Rhythmus her. Und es wird die Landschaft beschrieben: Wie der Strom vorbeizieht, die Felder, die Apfelbäume blühen noch einmal — es scheint, daß alles nochmal gut wird. Es ist im ganzen Stück das einzige Mal, daß menschliches Wohlbefinden zur Sprache kommt.

Interview: Christoph Schlüren

[Beitrag für das Musikmagazin Rondo, 1997]