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Hans Werner Henze

(geb. 1926)
Sinfonia N. 9

Anna Seghers’ 1942 erschienener Roman "Das siebte Kreuz" erzählt die Geschichte einer Flucht. Sieben Häftlinge flüchten aus einem Konzentrationslager und werden zum Tod am Kreuz verurteilt. Sechs von ihnen scheitern, einer aber kann fliehen und das für ihn bestimmte siebte Kreuz bleibt leer. Er rettet sich auf ein Schiff, das ihn außer Landes bringt.

Die sieben Texte zu Hans Werner Henzes siebter Symphonie wollen Würdigung sein und Erinnerung. Sie beziehen sich allesamt auf Anna Seghers’ Roman und auf das, wovon dieser Roman handelt, ohne ihn doch wortwörtlich zu zitieren.

Es beginnt mit der Flucht und mit der Angst des Flüchtlings. Wir hören seinen rasenden Herzschlag, der ihn fast umbringt. Wir hören von seinem Wunsch, sich zu verwandeln in einen Baum, in Laub, in eine Handvoll Erde, um nur nicht den Schergen, die vor nicht allzu langer Zeit noch seine Nachbarn waren, in die Hände zu fallen.

Für die Träume des Erschöpften tut sich bereits das Schattenreich auf, in dem wohl kein Leben, aber auch kein Schmerz mehr ist und kein lebendiger Leib, der sich vor Schmerzen fürchten muß. Denn die Verfolger sind gründliche Leute, sie morden nicht nur, sie foltern auch und schreiben darüber ein mit einem Aktenzeichen versehenes Protokoll.

Sieben Platanen werden gefällt und sieben aus Platanen errichtete Kreuze warten auf die Flüchtlinge. Eines war für den Artisten Belloni vorgesehen, der eigentlich Anton Meier heißt. Belloni flüchtet sich auf das Dach eines Hotels. Ihn trifft ein Schuß, und er, der Träumer und Artist, rollt das Dach hinab, öffnet seine Arme und fliegt.

Im Dom sucht der Flüchtling Zuflucht. Er läßt sich einschließen und verschafft sich so "eine Gnadenfrist, die er fast mit Rettung verwechselt" (Anna Seghers). Doch es ist kalt im Dom, das Gotteshaus wärmt den Flüchtenden nicht, und zwischen Säulen, Grabplatten und Steinfiguren fällt er ins Fieber und ruft nach dem Gekreuzigten, der ihm nicht antworten kann. Stattdessen hört er das Flüstern der Toten, deren einziges Thema der Staub ist und die Verwesung.

Der Flüchtling entkommt den Toten – ebenso, wie er seinen Verfolgern entkommt. Rettung findet er auf einem holländischen Schiff, das ihn den Rhein hinab und in Freiheit bringt. Der große Strom, der für so viele vaterländische Gesänge gut war, darf nun einen einzigen Menschen retten – vor seinem Vaterland. Doch damit ist auch ein Stück dessen gerettet, was wir unter 'Heimat' verstehen.

 

Das siebte Kreuz
"Meine neunte Symphonie befaßt sich mit der deutschen Heimat – so, wie sie sich mir dargestellt hat, als ich ein junger Mensch war, während des Krieges und schon zuvor. Sie entstand in Jahren intensiven Umgangs mit dem Thema und war auch bezüglich der künstlerischen Anstrengung das Extremste, was ich je erlebt habe. Was in dieser Symphonie geschieht, ist eine Apotheose des Schrecklichen und Schmerzlichen. Sie ist eine Summa summarum meines Schaffens, eine Abrechnung mit einer willkürlichen, unberechenbaren, uns überfallenden Welt. Statt die Freude, schönen Götterfunken zu besingen, sind in meiner Neunten den ganzen Abend Menschen damit beschäftigt, die immer noch nicht vergangene Welt des Grauens und der Verfolgung zu evozieren, die weiterhin ihre Schatten wirft. Eine deutsche Wirklichkeit, ist diese Symphonie aber vor allem Ausdruck der allergrößten Verehrung für die Leute, die Widerstand geleistet haben in der Zeit des nazifaschistischen Terrors und die für die Freiheit der Gedanken ihr Leben gegeben haben."

Hans Werner Henze im April 1997
Hans Werner Henze hat seine Sinfonia N. 9 an Ostern 1997 vollendet. Noch 1986 konnte der eminente Henze-Kenner Peter Petersen zum abreißenden Schluß des ersten Satzes der siebten Symphonie berechtigt feststellen: "Eine Katastrophe wird nicht komponiert, allenfalls anvisiert. Die Katastrophen, die dem Zeitgenossen Henze hier im Sinn gewesen sein mögen, gestatten wohl kaum eine ästhetische Umsetzung." Versuchte er, dem Existentiellen Ausdruck zu verleihen, so blieben bei Henze Intellekt und Emotion in sich beharrende, sich nicht vereinigende Parallelstränge, einander anziehend und abstoßend, den Hörer in Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, Zerrissenheit, Qual, schillernde Opulenz zwingend. Henze läßt die schöpferische Energie kaum auf direktem Weg sich auswirken. Erst muß sie durch das Dickicht der verletzten, verletzlichen Seele strömen, muß die Widerstände überfluten, brechen, das Glatte, Geläufige ausräumen. So sind seine Partituren oft hochkompliziert, tendieren zum Überladenen, wo es dann an Sauerstoff mangeln kann – der die Geister rief, ist kaum mehr in der Lage, sie zu bändigen, und sie treiben es aufs Tollste mit ihm. Aber das Schlimmste, die Katastrophe, Leben Zerstörendes in Töne bannen? Henze mußte dem immer wieder ausweichen. Doch er hat sich konsequent weiterentwickelt, hat es mit wachsendem Abstand zu den schrecklichen Ereignissen seiner Jugend zunehmend verstanden, das damals Erlebte künstlerisch zu artikulieren, den Schrecken unverstellt zu ritualisieren. Fraglos geschah solches in den neun instrumentalen Geistlichen Konzerten, die er 1990-92 komponierte und unter dem Titel "Requiem" zusammenfaßte. Die Neunte Symphonie führt in einem neuen Anlauf über das im Requiem umschlossene Schreckliche hinaus (das Requiem kann im nachhinein als ein für sich gültiger Zyklus von neun Präludien zur neunten Symphonie angesehen werden).

Text und Musik der siebensätzigen Neunten basieren auf Anna Seghers’ in der Zeit des Nationalsozialismus spielendem Roman "Das siebte Kreuz". Alle sieben Sätze werden vom Chor im Ich-Ton gesungen.

I Die Flucht

Der erste Satz, "Die Flucht", versetzt sich in den Flüchtenden, der "von Hunden und der SS gehetzt wird und irgendwo in einem Feld im Matsch liegt, in Reichweite der Schergen. Er hat den Tod zu erwarten. Und da ertönt Musik aus der Dorfkneipe: 'Gestern noch bin ich bei ihnen gesessen'." (Henze) Das Grundtempo ist Viertel=76. Der ganze Satz ist von kurzen, sich jagenden, mehr oder weniger schreckbesetzten Abschnitten durchsetzt und vermittelt eine rastlose, nicht zur Besinnung findende Gestimmtheit. Die untergründige Sehnsucht nach Ruhe und Frieden ist panischem Wechsel unterworfen. Die Stimmungen vergehen so schnell, daß sie kaum entstehen können. Der Beginn, pianissimo, 'in größter Erregung', mit geräuschhaft schnellem Streicherstaccato, steigert sich rasch zum fortissimo: ein Mensch in Todesangst. Gärendes Pianissimo gebiert atemlose, fast gesprochene Satzfetzen: "Nur weiter… Luft… keine Luft… ich habe Angst…", die in mehreren dynamischen Wellen in einem "Nein!"-Schrei gipfeln. Eine zweite Entwicklung endet in verzerrten Sinnen: "Ein Blatt macht mich blind." Meno mosso kommt "Musik! Ich höre Musik. Auch in der Hölle spielt die Musik." Aber das Wort 'Musik' wird gesprochen, erst in Verbindung mit der Hölle wird es auch gesungen: die Musik aus der Dorfkneipe. Wieder Tempo primo, bestimmen scharfe dynamische Kontraste das Bild: subito fortissimo "Ein Lichtstrahl!", pianissimo "Sie schlagen mich tot…". Das erregte Orchestertreiben bei "Ich verblute!" läßt auf das Näherkommen der Verfolger schließen. "Ich träume die Träume des Baumes": Der Verfolgte überantwortet sich der Natur, quasi senza espressione. 'Feierlich' soll der ruhelose Schlußabschnitt sein – die Musik im Widerstand zur Erkenntnis: "Mein Rascheln verrät mich… Ich träume nicht mehr." Das Herz schlägt "…wie eine Trommel so laut": In vierfachem Forte reißt der Herzschlag ab.

 

 

II Bei den Toten
Der zweite Satz, "Bei den Toten", ein Adagio, ist ein Epilog zum ersten, innerer Widerhall des Furchtbaren, erzählend, eine fast spröde Klage: "Dann bin ich hinübergegangen…". Die einzelnen Sinneinheiten sind durch subtile Tempounterschiede gegeneinander abgehoben. Kein Trost von nirgendwo. "…mein Haar fiel wie Asche vom Kopf". Mesto erhebt sich eine Geigenkantilene. Agonie und ohnmächtiges Aufbäumen. Musik im Grenzland zwischen Lamento, Mistero und Decadimento. Am Ende fernes Wehklagen, das in Unhörbarkeit versinkt.

III Bericht der Verfolger
Es folgt der "Bericht der Verfolger", ein kurzer, schneller, erbarmungsloser Marsch. Unsensibler, abgehackter 'Gesang', keine melodische Entwicklung, gnadenlose, primitive, unmenschliche Ausstrahlung. Willkürlich, wirr und bizarr in der Konsequenz. Ein Bruchstück Unmenschensprache. Zu den Schlaginstrumenten merkt Henze in der Partitur an: "…sollte so stark wie möglich an die (von einem Laien getippten) Geräusche einer (Polizei-) Büroschreibmaschine erinnern". Der Rapport endet in brutalem, vierfachem Forte.

IV Die Platane spricht
I Im vierten Satz, "Die Platane spricht", einem weiteren Adagio, stellen die Streicher piano, dolcissimo die Atmosphäre bereit. Den singenden Baum repräsentieren die Frauenstimmen, die Schergen, die zum Abholzen kommen, werden von den Männerstimmen dargestellt. 'Leicht und spielerisch', flirrend besingt die Platane ihre Herrlichkeit. Stolz und Freiheit als Naturausdruck. Die tondichterischen Mittel sind mit feinstem Gespür für dem Text innewohnende Stimmungswerte eingesetzt. Da, plötzlich: "Ich höre Schritte…", und es heißt: "Wir haben die Äxte, die Sägen geholt." Noch hat die Platane Raum für ein viertaktiges 'Maestoso'. 'Vorwärts' drängen die Unbarmherzigen: "Wir haben den Glanz der Sterne, die Farbe des Morgens vom Himmel gerissen." Nun hält der Widerstand der Platane nur noch zwei Takte an: "Verbrannt haben wir die Wüste, vertrieben das Meer und erschlagen den Wind…" 'Wild' rufen die Besessenen: "Ein Messer aus Eisen!" Die Platane ächzt, wankt und fällt. Sie weiß: "Die Sterne sind Staub." Sie ist geopfert – "Wir haben ihren Schatten gekreuzigt. Wir haben den Himmel zersägt." Das Ende, 'meno mosso', ist trostlos, verdurstet.

V Der Sturz
Der Artist Belloni besingt im Wechsel von geträumter Erlösung und drastischer Schilderung sein eigenes Ende im fünften Satz, "Der Sturz" (Viertel=82): Luftig, tänzerisch, 'spielerisch, leggiero', schwingt er sich 'con eleganza' aus dem Unausweichlichen hinaus, zugleich von Unruhe und nackter Not begleitet: "Den Himmel habe ich ausgemessen". Stolz und Angst gehen Hand in Hand: "Ich bin Belloni, Artist, dem Galgen entkommen, mir schlägt das Herz bis zum Hals…" (più mosso). Das "Geheul der Sirenen" macht ihn zittern. Noch ist er nicht entdeckt, in einer instrumentalen Episode durchmessen sich Hilflosigkeit und Weite, er fällt aus der Zeit heraus. Der Traum kehrt wieder (tempo primo, Anfangsmotiv) und zerbricht abrupt. Belloni ist entdeckt, wird von einem Schuß getroffen und entrinnt den Verfolgern, indem er freiwillig vom Dach in den Tod stürzt. Man hat ihn nicht gefaßt:"…ich, Belloni, der verwundete Adler, öffne die Schwingen und fliege noch einmal über mein einziges Land". Ein 'gran canto' der Streicher besingt in großer Steigerung den Freien im Geist, den Unbeugsamen, der die Todesangst überwand.

VI Die Nacht im Dom

Der ritualistisch aufgebaute vorletzte Satz, "Die Nacht im Dom", ist eine schwarze Vision, eine sinnenschwirrende Schreckensliturgie. "Die Musik befindet sich fast ununterbrochen in entsetzlicher Aufregung. Zwölf Chorsolisten gehen auf die gegenüberliegende Seite, um von der Balkonade aus den Gesang der Märtyrer, der Heiligen darzustellen." (Henze) Der Satz gliedert sich in sechs klar getrennte Abschnitte. Zunächst sind da die Toten, begleitet von einer Orgel, die 'hohl und dürftig' klingen soll, um dann in zackig schroffen Fortissimo-Einschüben die eisige Fratze zu zeigen. Es beginnt flüsternd – "Der Tod ist taub", bleibt unerbittlich – "Der Tod ist schwarz" und endet hoffnungslos. Der Flüchtende stemmt sich der Totenwelt entgegen, sein Ton verändert sich fortwährend, mächtig wölbt sich die Finsternis über ihm in vierfachem Forte. Heillose Zerrissenheit. Nun besingen die Heiligen, 'meno mosso, immer äußerst leise' die ekstatischen Freuden der Folter, des Schmerzes, durchbrochen vom vollen Werk der Orgel. 'Lebhaft bewegt' gerät der Flüchtende (Männerstimmen mit Begleitung der tiefen Streicher) in den Fieberwahn und ruft den Gekreuzigten an, der stumm bleibt. Schließlich flüstert er nur noch in Panik: "…ich höre die Hunde bellen". Die Heiligen loben den Herrn ('ekstatisch aber leicht'), der Flüchtende steht dagegen mit seinem Zweifel, seiner Verzweiflung. Kollision unDie gewaltig kontrastierende Doppelchörigkeit schöpft den Spannungsrahmen voll aus bis zum geschrieenen, schwarzen Höhepunkt: "Gib Antwort! Antwort!" Stattdessen Ermattung – "Ich höre dich nicht", und die Heiligen verheißen: "Denn alles ist Gottes Werk und alles ist gut getan." Den Flüchtenden verlassen die Kräfte, er versinkt im Desaster. Der Chor bleibt flüsternd allein zurück, stammelt: "Meine Augen sind voller Schmutz. Mein Mund ist voller Getier. Mein Gesicht wird ausgelöscht sein." Opfer der schwarzen Gewalt. Das aufgewühlte, beschließende 'Klagelied' des Orchesters wächst vom Pianissimo zum dreifachen Forte an und reißt ab.

VII Die Rettung
Im siebten Satz, "Die Rettung", Andante cantabile, kehrt ein nicht mehr erwartetes Wohlbefinden ein, wenngleich ein relatives, ermattetes, resignativ verklärendes, bei erlösender Dämmerung Zuflucht suchendes: "Das ist das 'Prinzip Hoffnung'. Da kommt ein Boot, 'mit sieben Segeln und fünfzig Kanonen', und fährt mit dem Flüchtenden davon." (Henze) Die Himmel der neuen Tage sind mit Wolken bedeckt. Der Satz ist homophon, meist vierstimmig, von homogenem Gruppenklang (Hörner, Tuben etc.) getragen: "Ruhig ging der Strom…" Und die Erinnerung kommt aus der Ferne wieder: "…und niemand zeigte ein Zittern…als hätte niemals der Himmel gebrannt…". Das schneidende An- und Abschwellen des Schlußklangs hält die Erinnerung wach: überstanden, nicht überwunden.

Christoph Schlüren

Einführungstext zur EMI CD (Ersteinspielung)

für gemischten Chor und Orchester
(1996-97) in 7 Sätzen
Dichtung von Hans-Ulrich Treichel

Auftragswerk des Berliner Philharmonischen Orchesters und der Berliner Festwochen

Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet