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Peter Michael Hamel

De Visione DeI
Coincidentia oppositorum

"Empfange nun, was ich schon immer auf den verschiedenen Wegen philosophischer Systeme zu fassen mich bemüht habe, was ich aber vorher nicht erreichen konnte, bis ich auf dem Meer bei der Rückfahrt von Byzanz – ich glaube durch ein Geschenk vom Vater des Lichtes, von dem alle gute Gabe kommt – dazu geführt worden bin, das Unbegreifliche auf nicht-begreifliche Weise doch zu umfassen in belehrter Unwissenheit."

Nikolaus Cusanus an den Kardinal Giuliano Cesarini im Schlußwort zu ªDe docta ignorantia´

Seit jeher hat sich Peter Michael Hamel nicht nur als Weltbürger verstanden, sondern auch als solcher betätigt. Zugleich hat ihn immer schon inner- und außerhalb der Musik die Suche nach dem Spirituellen beschäftigt. So ist es auch jedesmal als überkonfessionelle Handlung zu verstehen, wenn Hamel geistliche Musik schreibt, sei diese nun nach dem katholischen Ritus oder unabhängig von tradierten Vorlagen. So konnte es nicht verwundern, wenn das Hosanna seiner 1988-92 als Auftrag zum hundertjährigen Jubiläum der Münchner Philharmoniker komponierten ªMissa´ von einem federnden Samba-Rhythmus getragen wurde, den ihm manche als weltliche Oberflächlichkeit, als Fremdkörper im liturgischen Kontext oder als Weltmusik-Tingeltangel übelnahmen. So erfrischend und unerwartet die Wirkung sein mag: Nichts davon lag in Hamels Absicht. Vielmehr ist dies eine der großherzigen Umarmungsgesten, die Hamel seinen Hörern immer wieder offeriert und wofür er gerne riskiert, als Naiver belächelt zu werden. In der Tat geht es ihm auch um Naivität, um kindliche Freude im Umgang mit den musikalischen Mitteln. Natürlich kennt Hamel auch die anderen Seiten der jüngeren Musikgeschichte, und gewiß besser als die meisten seiner Kritiker. So sind die acht Sätze der ªMissa´ außer seinem Vater seinem Lehrer Günter Bialas, Karl Amadeus Hartmann, Bernd Alois Zimmermann, seinem Mentor Carl Orff, Olivier Messiaen, Morton Feldman und Sergiu Celibidache zugeeignet. Was für ein Spektrum! Hier läßt sich der heterogene künstlerische Horizont ungefähr symbolisch ausmessen, innerhalb dessen Hamels Energien kreisen – das Feld der bewußt affinitiven Schwingungen. In seinen Werken kann man auf den Niederschlag all dieser Vorbilder stoßen, ohne daß es sich um selbstverleugnende Nachahmung handelte. Ähnliches gilt für die Einflüsse fernöstlicher und orientalischer Kunst- und Kultmusik. Von Anverwandlung muß die Rede sein, von Assimilation. Denn Hamel war – auch im Leben – nie einer, der sich aggressiv abgegrenzt, der Trennlinien gezogen hätte. Er neigte stets eher zum Zerfließenden, zur Verschmelzung und Vereinigung der Unterschiede und scheinbaren Gegensätze – sieht man einmal von jenen politisch-gesellschaftlichen Erbschaften ab, mit denen er sich als junger Mann der 68-er-Generation konfrontiert sah. Daß er sich hier ohne zu zögern auf die linke Seite schlug, auf die Seite des sozialen Fortschritts, des Protests und der Enttarnung, ist jedoch nur die eine Seite seines Wesens. Denn der Atheismus revolutionärer Kreise war für ihn ebenso keine Lösung wie eine – ob nun fanatisch oder heuchlerisch – auf Alleinseligmachung des Christentums eingeengte Weltanschauung. Hamel ist ein religiöser Mensch in unkonventionellem, überkonfessionellem Sinne. Da alle Religionen auf Gott gerichtet sind, ist jede von ihnen eine kultische Form der Huldigung des einen Gottes mit vielen Namen. Nicht die Namen, nicht die Erscheinungs- und Verehrungsformen sind wesentlich, sondern das, was dahinter liegt, dessen Abglanz sie ausdrücken. Letztlich hat jeder Mensch Gott in sich selbst zu verwirklichen, und diese Selbstverwirklichung ist zugleich Selbstlosigkeit, indem sie das Trennende aufgibt und Hingabe übt. Hier können die Religionen nur Wegweiser sein, und da die Wege verschieden sind und jeder Einzelne seinen eigenen Weg zurückzulegen hat, sie jedoch alle das gleiche Ziel haben, gibt es kein besser oder schlechter, und einen Anspruch auf alleinige Berechtigung schon gar nicht. Insofern steht Hamel, wie auch sein großer Mentor und Förderer Sergiu Celibidache, den hinduistischen und buddhistischen Religionen mit ihrer grundsätzlichen Toleranz und ihrem Wissen um die Einheit in der Vielfalt näher. Der Teufel ist ja auch nichts anderes als ein göttliches Prinzip.

Für Hamel lag es schon lange nahe, sich irgendwann in größerem Umfang tonschöpferisch auf die am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance stehende humanistische Lichtgestalt Nikolaus Cusanus (Nikolaus von Kues) einzulassen:

"Ein Weltgeistlicher
War Nicolaus Krebs (Chryffs)
Aus Kues.
Geboren 1401
Wurde er kein Ordensmann
Obgleich in späteren Jahren
Stets eine Mönchszelle
In Tegernsee für ihn bereitstand.
Das Erbe seines Vaters
Besteht noch heute
In einer von Nikolaus Cusanus
Begründeten Stiftung fort.
War er ein Reicher
und nur deshalb ein Weltgeistlicher?
Student in Heidelberg,
Bekannt mit Thomas von Kempens
ªDe imitatione Christi´,
Erwarb er in Padua
Den doctor decretorum.
Dann studierte er
Theologie in Köln.
1450 predigte er den Jubiläumsablaß,
1464 starb er in Umbrien.
Der Gegensatz, das Nichtwissen
Und die Mauer:
Dennoch an Gott glauben."

(1992 im Vorwort zur Partitur von ªDe visione Dei´)

Hamel, der als Musiker und Mensch immer die Überwindung, die Versöhnung der Gegensätze als innere Notwendigkeit empfand, die es nach außen zu kommunizieren gilt (so in der Aufhebung der musikalischen Genre- und Stilgrenzen), schildert, wie er auf Cusanus stieß:

"Anfangs fühlte ich mich in einem vermeintlichen Zwiespalt zum damaligen Zeitgeist eines abgeschotteten, säuberlich in Kästchen und Gegensatzpaare aufgeteilten Musiklebens. War das, was da tönend entstand, nun noch tonal oder schon atonal, leicht oder schwer, Jazz oder Avantgarde, Klassik oder Pop, E oder U? Gäbe es womöglich irgendein 'Sowohl-als-auch', eine 'Koinzidenz' der Genres, wie ich sie später mit der international besetzten Improvisationsgruppe ªBetween´ zu verwirklichen suchte? Erst einmal nannten wir unsere Versuche 'Syn', nach 'Sophrosyne', der altgriechischen Tugend der Ausgeglichenheit.

Zu gerne habe ich dann bei Carl Gustav Jung die 'coniunctio oppositorum' aufgegriffen und die absichtsvolle Verknüpfung der Gegensätze auf mein Ansinnen des musikalischen 'Sowohl-als-auch' angewendet.

Erst 1972 bin ich Nikolaus von Kues und seinen Schriften begegnet, ausgerechnet angeregt von Jean Gebsers ªUrsprung und Gegenwart´, worin ein Zitat aus ªDe ludo globi´ enthalten ist, das mir im Zusammenhang mit phänomenologischen Überlegungen wichtig wurde: 'Die verständige Seele ist auch nicht der Zeit unterworfen, sondern geht der Zeit vorher wie das Sehen dem Auge.' Sinnlich erlebbar wurde mir der Zusammenfall der Gegensätze wie in einem Gleichnis für die Paradoxie: Obwohl meine 'konzentrische' Musik für Tasteninstrumente äußerst rasch und geschwind zu realisieren ist, stellt sich beim Spieler und bei manchen Hörern die Erfahrung einer Verlangsamung bis zum scheinbaren Stillstand ein. Die andauernde Repetition stellte hierbei das Prinzip des Kreisels dar, den Nikolaus von Kues als Analogie zu einer 'coincidentia oppositorum' ansah: Befindet ein Kreisel sich in höchster Geschwindigkeit, so scheint er gleichzeitig stillzustehen: das Ineinsfallen von Stillstand und Bewegung. Und so wurde denn das schnellste Stück meiner 'konzentrischen' Phase mit ªSlow Motion´ betitelt, einer Bezeichnung für das langsame Tanzen in Zeitlupe." Wie nun war das Denken des Nikolaus Cusanus beschaffen, ein Denken, das ihm als Philosophen offenbar wesentlich dazu diente, das Denken selbst zu transzendieren? In ªDe docta ignorantia´ schreibt er:

 

"Denn die Wahrheit ist nicht Mehr oder Weniger; sie besteht in einer gewissen Unteilbarkeit und kann von allem, das nicht selbst als Wahres existiert, nicht präzis ermessen werden, ebensowenig wie der Kreis, dessen Sein in einem bestimmten Unteilbaren besteht, vom Nicht-Kreise ermessen werden kann. Die Vernunfterkenntnis also, die nicht Wahrheit ist, wird die Wahrheit niemals so präzis erfassen, daß sie nicht unendlich viel präziser erfaßt werden könnte; sie verhält sich zur Wahrheit wie das Polygon zum Kreis. Je mehr Winkel jenes hat, desto ähnlicher wird es dem Kreise; dennoch wird es ihm niemals gleich, auch wenn man die Winkel ins Unendliche vervielfachte, außer wenn es sich in Identität mit dem Kreise auflöst.

Offenbar können wir über die Wahrheit nichts anderes wissen, als daß sie, wie sie präzis ist, unbegreifbar ist. Denn die Wahrheit, da sie absoluteste Notwendigkeit ist, die nicht mehr und nicht weniger sein kann, als sie ist, bietet sich unserer Vernunfterkenntnis als Möglichkeit dar. Das Wesen der Dinge, das die Wahrheit des Seienden ist, ist also in seiner Reinheit unerreichbar, von allen Philosophen zu erforschen versucht, von keinem, so wie es ist, gefunden; je gründlicher wir in dieser Unwissenheit unterrichtet sind, umso eher werden wir zur Wahrheit selbst gelangen."

Auch hier also 'coincidentia oppositorum', die "belehrte Unwissenheit".

Peter Michael Hamels Werk ªDe visione Dei´ (Die Gottesschau) besteht aus fünf instrumentalen Meditationen über Zitate aus dem siebten Buch von Cusanus’ gleichnamiger Schrift von 1453. Hamel nennt es ein "Kirchenmusiktheater", welches für große Orgel, 8 Blechbläser (1 Horn, 3 Trompeten, 3 Posaunen und 1 Tuba) und 2 Schlagzeuger (Besetzung: 5 verschieden große hängende Becken, großes Tam-Tam, Glockenspiel, große Trommel; 5 verschieden hohe Tom-Toms, Vibraphon, Pauke) gesetzt ist. Das 1992 im Anschluß an die ªMissa´ vollendete Werk wurde am 27. September 1997 in der Mariahilferkirche Graz, Kulturzentrum Bei den Minoriten, vom Ensemble ªszene instrumental Graz´ unter Leitung von Wolfgang Hattinger konzertant uraufgeführt. Als Gastprofessor an der Grazer Musikhochschule war Hamel zu jener Zeit 'composer in residence' der Minoriten. Die szenische Uraufführung fand am 5. Oktober desselben Jahres im Dom zu Brixen (Südtirol) statt.

 

De visione Dei

I

Texte zu allen sieben Sätzen auf lateinisch und deutsch

 

ªDe visione Dei´ ist eigentlich ein Beitrag zur Gattung der 'Sinfonia sacra' – die im 20. Jahrhundert von Komponisten wie Charles-Marie Widor, Vagn Holmboe, Andrzej Panufnik oder Edmund Rubbra mit ausdrücklich so betitelten Werken bedacht wurde –, handelt es sich doch bei Hamels Werk tatsächlich um eine durchgehend symphonisch –das heißt, aus dem Zusammenhang, dem "Zusammenfallen" von Anfang und Ende – entstandene Komposition, deren einzelne Sätze in einer Art kontrastieren, wie sie Sergiu Celibidache als "in der Verschiedenheit einander ergänzend" definierte. Es ist Hamel hier gelungen, eine 'coincidentia oppositorum' seiner "konzentrischen Musik" mit dem symphonischen, also: organisch entwickelnden Formprinzip zu kreieren. Das Konzentrische wird durch die relative Schwerelosigkeit der modalen Tonskalen und deren figurativ-ornamentische, teppichartig sich ausbreitende Projektion suggeriert, in welche die in breiterer Gangart sich bewegenden Themen und Cantus-firmus-Melodien eingewoben werden. Der Übergang vom Figurativen (also eigentlich Begleitenden) zum Thematischen ist gleitend, wobei Hamel Motive aus improvisatorisch realisierten eigenen Werken wie beispielsweise ªOrganum´ einfließen läßt (2. Satz). Auch der Hymnus ªNun bitten wir den heiligen Geist´ im ersten Satz tritt auf völlig natürliche, unprätentiöse Weise ins Vorhandene ein. Das Kontrapunktische ist bei aller "gelehrten" Kunst auf spielerische, ungezwungen sich ergebende Art gearbeitet und wirkt so, als entstünde es just in diesem Moment.

Der erste Satz, ªIm Schweigen der Betrachtung´, enthüllt auch eine Betrachtung über das Quartintervall, jene die natürlichen Schwerkraftbedingungen umkehrende, "auf den Kopf stellende" Tondistanz, die zugleich einen ankündigenden, "männlichen" Charakter in sich trägt. Mit den zwei jeweils am Höhepunkt in Generalpausen mündenden Steigerungen – Anrufungen gleich – und dem verhalten schließenden Nachspiel hat es einen fast Kyrie-artigen Charakter.

In der gezackten Hauptmotivik des zweiten Satzes ªAlles hat der, der Dich sieht´ ist Hamel der fortschrittlichen deutschen Tradition seiner Jugendjahre am nächsten – der schroffen Bekenntnishaftigkeit Karl Amadeus Hartmanns, dem etwas spröden Ethos von Günter Bialas. Die Motivik durchläuft Phasen zentrifugaler Beeinflussung, wo es gewissermaßen zu irrlichternd flackernder Oszillation kommt, zu einem Durcheinandertanzen der Bruchstücke (vergleichbar dem dritten Satz seiner Symphonie ªDie Lichtung´). Der Satzverlauf wird gespeist aus dem unvereinbaren Gegensatz zweier Welten, der dann in einen improvisatorisch überhöhten Zustand transzendiert wird, um zum Schluß in knapper Reminiszenz die Gegensätze noch einmal aufscheinen zu lassen.

Im dritten Satz, ªO Herr´, dem Zentrum und Herzstück des gesamten Werks, ist sozusagen das wissende Nichtwissen, das erfüllte Innehalten vor dem Unaussprechlichen auskomponiert. Die Orgel und als einzig hinzutretendes "menschliches" Instrument das Horn evozieren eine innere Insel der allem äußeren Treiben freudig entsagenden, zauberhaften Ruhe, denn der Herr ist die "Wonne aller Süßigkeit".

Der vierte Satz, ªSo ist der Baum in Dir, mein Gott´, entfaltet aus der Stille ganz gewaltlos die ohne einen Hauch von Anstrengung pulsierenden Vitalkräfte, die Verwebung von Gesangslinie und Ornament folgt den Gesetzen der durch einen stets wiederkehrenden übermäßigen Sekundschritt auffallenden Skala, einer eigentümlichen Mischung aus lydischem und phrygischem Modus, die jedoch keineswegs starr über das ganze Stück festgehalten wird.

Der letzte Satz ªDu, o Gott, bist die Wahrheit´ ist der bei weitem längste, eine intensive, gleichwohl im energetischen Sich-Verströmen niemals forcierte Beschwörung Gottes, der "Natur der Naturen" – ein herrlich pantheistisches Bild, welches übereinstimmt mit der sophistischen Weltsicht des Nikolaus Cusanus, der die Erde nicht mehr als unbewegten Mittelpunkt der Welt annehmen wollte und die auf Aristoteles zurückgehende qualitative Trennung der inneren und äußeren Sphären zurückwies. So simpel hier nun scheinbar die musikalischen Mittel sind, gelingt es Hamel auf wundersame Weise, den Spannungsbogen durch den ganzen, fast halbstündigen Satz zu errichten, immer das Ziel – die Kulmination der potentiellen Energien, danach die Rückkehr zur ursprünglichen Ruhe – vor Augen, um sanftmütig und in vollkommener Balance zu schließen. Eine lebendige Architektur aus scheinbar in sich kreisender Melodik, der mit subtilen Veränderungen und auf der Basis eines kontinuierlich zielbewußten harmonischen Werdegangs jene Dosis an kontrastierender Wirkung zugeführt wird, die sie berechtigt, gerade so lange in der Zeit zu bestehen, wie sie es tut – diese Bewußtheit von den übergeordneten, vom Menschen nicht zu beeinflussenden Kräften im Tonsatz, und das vor allem in der Zusammenarbeit mit dem großen Dirigenten Sergiu Celibidache gereifte kreative Unterscheidungsvermögen, welches sofort aus dem Moment mit minimalem, effektivem Aufwand jeder Tendenz zur Stagnation entgegenwirkt, ermöglichen Hamel die 'coincidentia oppositorum', die Vereinigung der Gegensätze einer in sich kreisenden mit einer unausgesetzt entwickelnden Musik, indem Anfang und Ende letztlich "ineinsfallen". Das kann man erleben, aber nicht verstehen, denn die Wahrheit ist eben, mit Nikolaus Cusanus, "ungreifbar".

Christoph Schlüren

[Einführungstext zu Celestial Harmonies CD (Ersteinspielung)]