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Antonín Dvorák – Neunte Symphonie
in e-moll op. 95

"Aus der Neuen Welt" (1893) – Von zyklischer Faßlichkeit

Antonín Dvoráks neunte Symphonie in e-moll op. 95 'Aus der Neuen Welt', das erste Werk, das er komplett während seines Aufenthalts in Amerika erstellte, ist seit der New Yorker Uraufführung am 16. Dezember 1893 unter Anton Seidl eines der erfolgsverwöhntesten Werke der ganzen symphonischen Literatur. Das hängt natürlich mit der unmittelbaren Frische und Prägnanz der thematischen Einfälle, mit der atmosphärischen Kraft der einander entgegentretenden Themenwelten, mit der unausgesetzten Faßlichkeit der Entwicklung, aller Wechsel- und Rückbezüge innerhalb der Sätze und zwischen denselben zusammen. Hinsichtlich des Formverlaufs zeichnete sich schon die achte Symphonie durch einen lapidareren, in der thematischen Arbeit, der kombinatorischen Durchführung der Gedanken weniger ambitionierten Aufbau aus als ihre Vorläufer. Noch unverstellter kam so die typisch Dvorákische Musikanterie und Bildhaftigkeit der aneinanderreihenden Struktur zum Zuge, die Berührungspunkte mit Brahms hingegen, die in der siebten Symphonie — im Sinne tradierten symphonischen Denkens durchaus der Krönung seines Schaffens — noch gelegentlich sehr offen zutage treten, sind zunehmend unwichtiger geworden. Was in der neunten Symphonie aber nicht unterschätzt werden sollte, ist der Einfluß Franz Liszts, sowohl in manchen instrumentatorischen und auch motivischen Details, als auch vor allem das zyklische Formdenken betreffend. Nach dem Finale der Neunten, einem Versuch kulminierender Zusammenfassung der Hauptgedanken der ganzen Symphonie, ist es auch nicht unbedingt verwunderlich, daß Dvorák keine weitere Symphonie mehr geschrieben hat: nicht, um mit Erfüllung der Zahl Neun zu verstummen; auch nicht aus Angst, an den überwältigenden Erfolg dieses Werks nicht anknüpfen zu können; vielmehr, um sich nunmehr konsequent in fünf Etappen der symphonischen Dichtung zu widmen — einer Gattung, zu der er Wesentliches, Eigenständiges beitrug, das von der schwungvollen Schlagkraft des aufstrebenden Richard Strauss bis heute in diesem Metier in den Schatten gestellt wurde.

Dvoráks Neunter Symphonie eignet im Melodischen und Rhythmischen, in den einfach sequenzierenden harmonischen Fortschreitungen und in der Suggestionskraft der formalen Artikulation mitreißende Eingängigkeit. Wer erkennt nicht die Themen, Wegmarken des symphonischen Dramas, sofort wieder? Wer spürt nicht bei den übermäßigen Dreiklängen im ersten Satz, daß hier etwas Neues, Unvorhersehbares anbricht? — die Durchführung, das Aufeinanderprallen der opponierenden Welten. Und wenn im Largo in die träumerisch-wehmütige, böhmisch-improvisatorische Gestimmtheit des Mittelteils jenes triolische Frohlocken hineindrängt, um in einer freudigen Steigerung den Pranken des Hauptthemas aus dem Kopfsatz den Weg zu bereiten — man mag dieses Verfahren mehr oder weniger gelungen nennen, jedenfalls ist es von

unmißverständlicher Wirkung. Ebenso die düstere Evokation des selben Themas zu Beginn der neuen Formabschnitte (Trio beziehungsweise Coda) im Scherzo. Das Finale faßt alle derartigen Bestrebungen zusammen, bedient sich ausgiebig zyklischer Bezüge in der vorantreibenden Durchführung und überhöht sie in der Coda. Schade nur, daß die letztgültige Wiederkehr des machtvollen Hauptthemas dieses Schlußsatzes durch eine imposante Vorwegnahme desselben am Beginn der Coda entkräftet wird, der letzte Schluß somit etwas konventionell und nicht zwingend aus dem Vorhergegangenen motiviert wirkt. Dvorák hat recht lange mit der Form des Finales gerungen, und so effektiv es auch in den einzelnen Abschnitten und vor allem in der inhibierenden Vorbereitung der krönenden Coda ausgearbeitet ist, der letzte Schluß — und da mag er noch so eindrucksvoll sein — will sich nicht ganz organisch in das Gesamte fügen. Die zyklische Form ist eben kein Garantiebeleg für musikalischen Zusammenhang, und ihre demonstrative Durchführung — das hat schon das Finale der Symphonie César Francks gezeigt — kann sogar der Plausibilität des Ganzen abträglich sein. Dies hat den Siegeszug der einen wie der anderen Symphonie nicht behindert, was angesichts der unbestreitbaren Größe der Erfindung auch keineswegs bestürzend ist. Dessen ungeachtet gilt zweifellos, was Heinrich Schenker 1930 (in: 'Das Meisterwerk in der Musik', Band 3) formulierte:

"Von Zusammenhang spricht gern auch die Menge, versteht diesen Begriff aber nur flächig, indem sie eine mehr oder minder groß aufgestapelte Summe von Begriffen, Worten, Gegenständen, Merkmalen so obenhin mit den Fingern abtastet: den wahren in der Tiefe der Dinge sich auswirkenden Zusammenhang meidet sie aber, da er solcher Fingerfertigkeit spottet, vielmehr wirklichen Tiefegeist erfordert."

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Salzburger Festspiele 1997)