< RARE MUSIC STARTSEITE

Felix Draeseke und die Symphonia tragica

Postume Wirrungen

Wenn im Jahr 2000 Felix Draesekes symphonisches Hauptwerk, die Symphonia tragica, erstmals auf CD vorliegt, und zum ersten Mal überhaupt in vollständiger Fassung auf Tonträger zu bekommen ist, so ist dies der vorläufige Endpunkt eines bemerkenswerten Irrweges der Musikgeschichte. Ein ganzes Jahrhundert diskographischer Aufzeichnung mußte verstreichen, um eine der einst erfolgreichsten und gewiß gewaltigsten Leistungen deutscher Symphonik dem interessierten Publikum in aller Welt zugänglich zu machen. Wenn die Hauptwerke eines Komponisten negiert werden, so bedeutet dies natürlich, daß man ihm generell die Würdigung versagt. Nun gibt es gerade im 19. Jahrhundert viele technisch beeindruckend beschlagene Kleinmeister, deren Schaffen nach ihrem Ableben, oder auch schon zu Lebzeiten, dem Vergessen anheimfiel. Einige von ihnen haben in den letzten Jahren Wiederbelebungsversuche erfahren, meist in diskographischer Form, und es ist kaum möglich, sich in der Unzahl von mehr oder weniger lohnenden Wiederentdeckungen einen Überblick zu verschaffen. Daß sich allzu viele Giganten unter den Vergessenen befänden, läßt sich schwerlich behaupten. So faszinierend viele Entdeckungen aus der musikalischen Umbruchszeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts klingen, so wenig wirklich Frappierendes hat man aus dem Schatten von Wagner, Bruckner oder Brahms ans Tageslicht zu fördern vermocht. Das meiste darf bei eingehender Prüfung als gehobeneres bis flacheres Epigonentum gelten. Natürlich gibt es einige brillante Ausnahmen, man denke nur an Robert Volkmann, Norbert Burgmüller oder Hermann Goetz, deren orchestrales Œuvre durchaus eigenständiges Gewicht besitzt. Umso unbegreiflicher, daß die Renaissance des Schaffens von Felix Draeseke bis heute auf sich warten läßt. Dabei galt seine Symphonia tragica noch in den zwanziger Jahren vielen als eine der bedeutendsten Symphonien, für die sich – nach Ernst von Schuch, Hans von Bülow und Jean Louis Nicodé – führende Dirigenten wie Arthur Nikisch, Fritz Reiner, Hans Pfitzner oder auch Karl Böhm einsetzten.

Von Johannes Brahms ist bekannt, daß er in Felix Draeseke neben Anton Bruckner seinen Hauptkonkurrenten auf symphonischem und sakralem Gebiet erblickte. Gemocht haben sie sich gegenseitig nicht, was sicher auch mit Draesekes neudeutschen Banden zusammenhing. Draesekes Leben stand im Zeichen des ständigen Ringens um jene Breitenwirkung, die ihm bei aller überschwänglichen Anerkennung in Fachkreisen nur zeitweilig beschieden war und letztlich versagt blieb. Hinzu kam ein schweres Gehörleiden, das schließlich zur fast völligen Ertaubung führte und auf eine nicht ausgeheilte Mittelohrentzündung des Fünfjährigen zurückging. Hatte er zu Lebzeiten das erwartete Echo nicht gefunden, so setzten seine Anhänger nun ihre Hoffnung auf die postume Mehrung seines Ruhms, doch hatte er, der einstige entschiedene Förderer des jungen Richard Strauss, solchen Bemühungen schwere Steine in den Weg gelegt mit seiner anläßlich der ersten Dresdner Salome verfaßten Streitschrift Die Konfusion in der Musik vom Oktober 1906. In den Augen der Fortschrittler war aus dem einstigen Revolutionär ein Reaktionär geworden, den es schleunigst zu vergessen galt. Daran vermochten auch die umjubelten Gesamtaufführungen seiner Oratorien-Tetralogie Christus ein Jahr vor seinem Tod 1912 in Berlin und Dresden unter Bruno Kittel nichts mehr zu ändern. In einer rasant umbrechenden Zeit zählte der am 26. Februar 1913 in Dresden Verstorbene schnell zum alten Eisen und blieb den aufstrebenden Neuerern nur noch als eherner, gestrenger Kontrapunktist symbolisch in Erinnerung. Seine Stunde schien dann fatalerweise im Dritten Reich gekommen, wo Erich Roeder, Verfasser der grundlegenden, zweibändigen Draeseke-Biographie Der Lebens- und Leidensweg eines deutschen Meisters und einer der übelsten Scharfmacher des Angriff (dies der Hauptgrund, warum Wilhelm Furtwängler von Plänen, die von ihm hochgeschätzte Symphonia tragica zu machen, wieder Abstand nahm!), ihn als Galleonsfigur germanischen Komponierens zur Erichtung tausendjähriger Musizierperspektiven mißbrauchte. Draeseke-Feste wurden an den Stätten seines Wirkens veranstaltet, in recht bescheidenen Maßen wurde seine Musik dem romantischen Kanon eingegliedert. Hinterher war es damit umso nachhaltiger vorbei. Die führenden Köpfe der Draeseke-Gesellschaft, darunter der von der Witwe Frida Draeseke zur Herausgabe von Felix Draesekes Lebenserinnerungen ermächtigte Hermann Stephani, hatten sich politisch unmöglich gemacht, und erst 1986 wurde ein neues Forum, die Internationale Draeseke-Gesellschaft mit Sitz in Coburg, gegründet, die seine Werke systematisch verfügbar macht, die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung vorantreibt und in einer Schriftenreihe dokumentiert (in Zusammenarbeit mit der Edition Nordstern in Stuttgart erscheint nach der Erstausgabe der Symphonia comica, Draesekes Vierter, zum Jahresende 2000 eine Neuausgabe der einst bei Kistner in Leipzig verlegten Partitur der Symphonia tragica). Auch Hans Loachim Moser war aufgrund seiner Vergangenheit ein schütterer Fürsprecher geworden, der in seinen Kompendien – darunter der populären Musikgeschichte in 100 Lebensbildern – manche Lanze für den "Recken" brach und seinem "Christus" attestierte, man könne "von einer organischen Bach-Bruckner-Synthese sprechen". Pikant sind nicht zuletzt die Hintergründe der bislang einzig auf Langspielplatte erhältlichen Aufnahme der Symphonia tragica, 1955 bei Urania erschienen (UR-LP 7162, Mono, erhältlich bis 1957) und 1979 in problematisch nachstereophonisierter Version bei Varèse-Sarabande wiederveröffentlicht (VC 81092). Als Dirigent ist Hermann Desser angegeben, der das Berlin Symphony Orchestra leitet. Hinter letzterem Namen verbirgt sich üblicherweise entweder das Ostberliner Rundfunk-Sinfonieorchester oder, wenn die Aufnahme vor Kriegsende gemacht wurde, eines der nationalsozialistischen Reichssender-Orchester, in diesem Fall dasjenige des Reichssenders Berlin. Die Aufnahme wurde wahrscheinlich 1942 gemacht. Der Name des Dirigenten ist Pseudonym für einen Mann, dessen braune Vergangenheit eine unverdeckte Veröffentlichung unmöglich gemacht hätte: Hinter Hermann Desser verbirgt sich Dr. Heinz Drewes, Generalintendant und GMD vorstehenden Orchesters, und Leiter der Abteilung X Musik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Was den musikalischen Wert des Dokuments betrifft, hatte Drewes eine ebenso überflüssige wie ungünstige Kürzung des zentralen Fugato im Finale vornehmen lassen (Tt. 357-379); bei der Wiederveröffentlichung kamen dann als Fehlposten durch Produktionsschlamperei noch der Wegfall der ersten zwei Takte des Kopfsatzes (der dadurch nach der ersten Generalpause beginnt) und des ersten Finaltakts hinzu! Kein allzu günstiges Schicksal für eine große Symphonie… Möge eine neue Dirigentengeneration beitragen, diese Wirrungen zu lösen und im interpretatorischen Widerstreit ein umfassenderes Bild von Draesekes verschüttetem Genius entwerfen!

Im Banne der Zukunftsmusik

Felix August Bernhard Draeseke wurde am 7. Oktober 1835 als Enkel des seinerzeit als Prediger äußerst populären evangelischen Landesbischofs von Sachsen Bernhard Draeseke und Sohn des Hofpredigers Theodor Draeseke in Coburg geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war der Berliner Domprobst August Hanstein. Die Mutter starb acht Tage nach der Geburt ihres ersten Kindes an einem Nervenschlag, und Felix wuchs in der Obhut der drei Schwestern seines Vaters auf. Mit fünf Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht und hat "im 8ten Jahr einen kleinen Marsch componiert oder vielmehr halb copirt". Ab 1850 wurde er von dem Flötenvirtuosen Johann Caspar Kummer in Komposition unterwiesen, und im darauffolgenden Jahr schrieb er an seine Tante: "Musik ist wirklich mein eigentliches Leben und ohne sie könnte ich nicht existiren." Zugleich hatte er bereits mit den ersten Anzeichen zunehmender Schwerhörigkeit zu kämpfen. Über seine kompositorischen Anfänge vermerkte Draeseke später: "Einfluss der Lieder ohne Worte, der Beethovenschen Sonaten. ªVöglein wohin so schnell´ – Einige Themen die im Sigurd [seiner ersten Oper] geblieben. Körnersche Texte. Rein melodische Natur, aber sehr für Masseneffecte und dramatische Belebung, wild gährende Momente eingenommen." 1852-55 studierte Draeseke am Leipziger Conservatorium u. a. bei Friedrich Richter und Moritz Hauptmann (Theorie), Louis Plaidy und Ignaz Moscheles (Klavier) sowie Franz Brendel (Musikgeschichte). Sein Kompositionslehrer war der konservative Julius Rietz. Draesekes offenkundige Wagner-Begeisterung erregte beim Lehrkörper starkes Mißfallen, was sich im Abgangszeugnis ungünstig erwies. Obwohl auch Rietz sich unverhohlen negativ ausgedrückt hatte ("Ein kräftiges Talent kann ihm nicht abgesprochen werden, dagegen nur zu sehr der Sinn für Schönheit und Wohlklang."), nahm er nach dem Abschluß weiter Privatstunden bei ihm.

Er vollendete eine am 11. November 1855 uraufgeführte, durchaus neutönerische Symphonie in C-Dur, seine nicht erhaltene "Nullte", die er später wahrscheinlich vernichtet hat. Auf Vermittlung Brendels betätigte er sich alsbald als gefürchteter Kritiker, der entschieden für die neudeutsche Richtung eintrat und sich so manchen Feind fürs Leben schuf. Am 26. Februar 1857 wohnte er in Leipzig einem Konzert Franz Liszts bei, der seine symphonische Dichtungen Les Préludes und Mazeppa vorstellte. Durch den befreundeten Hans von Bülow lernte er Liszt kennen. Draeseke verfaßte von Enthusiasmus getragene Einführungen zu mehreren symphonischen Dichtungen Liszts und gehörte bald zum engsten Kreis der Weimarer Neudeutschen. Insbesondere mit Peter Cornelius verband ihn eine bis zu dessen Tod währende, intensive Freundschaft. Liszt förderte ihn und stellte ihm die Weimarer Uraufführung seiner 1857 vollendeten Oper Sigurd in Aussicht, die allerdings nie zustande kam. Draeseke stand nun "ganz im Banne der Zukunftsmusik", was in radikalen Werken wie der Kleist-Kantate Germania an ihre Kinder und der monumentalen Tondichtung Julius Caesar zum Ausdruck kam. Im Juli 1859 besuchte er Richard Wagner in der Schweiz und wurde Zeuge der Vollendung von Tristan und Isolde. Wagner blieb für ihn "der weitaus originellste Geist, dem ich begegnet bin, und daß seine Aeusserungen über Welt und Menschen mich viel sympathischer berührten, als die des hocharistokratischen Liszt, der das niedere Volk als absolut nicht vorhanden ansah und demgemäss verachtete, sich aber selber in seiner vermeinten Geisteshoheit über allen erhaben dünkte…

In Wagner trat mir ein gebildeter Geist, begabt mit produktivem Genie, entgegen, der das Bedürfnis fühlte, über alle sich ihm bietenden Erscheinungen selbständig zu denken."

Im August 1861 dirigierte er auf der zweiten Weimarer Tonkünstlerversammlung seinen Germania-Marsch: "Durch dieses Stück wurde ich als Schrecken der Menschheit hingestellt und zwar in ganz Deutschland, indem alle Zeitungen sich beeilten, über die Schule en bloc ein grosses Verdammungsurteil zu fällen, mich aber als die besonders gefährliche Bestie zu kennzeichnen." Nach diesen Ereignissen verließ Liszt Weimar und ging nach Rom. Draeseke begeisterte sich nun auch für die Werke Hector Berlioz’ und begann seine dreiteilige Symphonie Frithjof, die er Anfang 1865 vollendete.

Das Neue in klassischer Form

Am 17. Oktober 1862 ging Felix Draeseke in die "selbstgewählte Verbannung" in der französischen Schweiz, aus der er erst 1876, nach 14 "verlorenen Jahren", nach Deutschland zurückkehrte. Ab 1864 lebte er in Lausanne, wo er sich als Klavierlehrer durchschlug und u. a. seine Klaviersonate op. 6 komponierte, die später ein Erfolgsstück des jungen Edwin Fischer werden sollte. Er unternahm zahlreiche Reisen und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit in Deutschland, vor allem in München, wo er den Uraufführungen des Tristan und der Meistersinger beiwohnte. Das 1865 entstandene, offenkundig von Mozart inspirierte Lacrimosa op. 10, welches er später in sein h-moll-Requiem integrierte, war Zeichen einer grundlegenden Wandlung hin zu Verinnerlichung und Ausgewogenheit, freilich ohne ins Archaische zu verfallen. 1869 entwarf er auf einer großen Reise, die ihn von Frankreich über Spanien und Nordafrika nach Italien führte, seine Erste Symphonie in G-Dur op. 12. Dem Entwurf der Zweiten Symphonie 1871 folgte 1872 die Vollendung der Ersten mit einem kunstvoll tiefgründigen zentralen Adagio molto als drittem Satz, die am 31. Januar 1873 unter seinem Lehrer Julius Rietz in Dresden zur Uraufführung kam. Bereits hier ist Draesekes künftige Ausrichtung unüberhörbar und in ureigenster Weise verwirklicht: " Mit diesen Werken, denen Gudrun und die Symphonia tragica folgte, hatte ich mein Gleichgewicht wiedergewonnen und war mir meines künstlerischen Zieles bewusst geworden. Als Kind meiner Zeit und ausgerüstet mit ihren Mitteln, wollte ich ihren Inhalt musikalisch aussprechen, aber in pietätvoller Anlehnung an die großen früheren Meister. Ihre grossen Errungenschaften sollten hoch und wert gehalten werden und neben ihnen die der sogenannten Zukunftsmusik. Was diese uns an neuem Stoff und neuen Mitteln zugeführt hatte, wollte ich versuchen, der Musikwelt in klassischer Form darzubieten. Natürlich war hierunter nicht zu verstehen eine sklavische Nachbildung der früheren Leistungen. Deren Formen sollten frei behandelt und entwickelt, auch formelle Neubildungen versucht, alle gebotenen harmonischen, rhythmischen, modulatorischen Mittel ausgenutzt werden.

Für mich war von den neueren Tonsetzern einzig Wagner der massgebende geblieben. Doch hat es lange Zeit gebraucht, ehe ich mich mit der späteren Entwicklung des Meisters befreunden konnte, und ich muss gestehen, dass gewisse Eigenheiten seines späteren Stiles mich auch heute noch nicht sympathisch berühren und ich sie nicht gerne nachgeahmt und zur Regel erhoben sähe. Dessen ungeachtet gestehe ich aber unumwunden zu, dass er durch seine spätere Entwicklung sich noch viel höher gehoben und auch als spezieller Musiker größer und bedeutender geworden ist… Die grossen Dissonanzhäufungen der späteren Werke erschienen motiviert, wenn wir bedenken, wie selten die darin handelnden Personen zu einem gewissen persönlichen Glücksgefühl gelangen."

Auf Anhieb im Thematischen leichter faßlich als die Erste geriet die 1876 vollendete Zweite Symphonie in F-Dur op. 25, welche am 15. Februar 1878 in Dresden – seit August der neuen, endgültigen Heimat des dem schweizerischen Exil Entronnenen – von der Königlich sächsischen Hofcapelle unter Ernst von Schuch uraufgeführt wurde. Diese Zweite, in welcher ein fast unheimliches Allegretto marciale anstelle des langsamen Satzes tritt, ist ein Musterwerk kontrapunktisch organisierter Symphonik, das in vielerlei Hinsicht den Vergleich mit den Symphonien von Bruckner und Brahms wagen darf und Draesekes Meisterjahre einläutete. Es folgten die Opern Herrat (1877-79) und Gudrun (1879/82-84, uraufgeführt 1884 in Hannover), die Vollendung des Requiems in h-moll op. 22 (1880), die ersten zwei von drei Streichquartetten, die Konzerte für Violine bzw. Klavier mit Orchester.

Lösung der Tragik auf instrumentalem Weg

1886 komponierte Draeseke, seit September 1884 Professor für Komposition, Harmonielehre und Kontrapunkt am Dresdner Konservatorium, kurz nach Liszts Ableben seine seit langem geplante Dritte Symphonie in C op. 40, die Symphonia tragica (Draeseke 1877 an Ruthardt: "Nachher kommt dann meine dritte Sinfonie, die Haare auf den Zähnen haben wird, Weltuntergang und ªwas weiß ich´, würde Senger sagen.") Das Scherzo war bereits im Jahr zuvor entstanden. Am 24. bzw. 29. Oktober vollendete er die ersten beiden Sätze in Partitur, den gewaltigen Schlußsatz am 7. Dezember: "Die Symphonie steht in C und zwar bin ich sehr ungewiss ob in Dur oder Moll, denn die Einleitung beginnt in Moll, der erste Satz ist in Dur, der letzte in Moll, schliesst mit Repetition der Einleitung in Dur. Wollen Sie nun gütigst bestimmen, wofür unter solchen Umständen wir uns zu entscheiden haben." Anläßlich der legendären dritten Leipziger Aufführung des Werks unter Arthur Nikisch im Dezember 1907 bekannte Draeseke: "Mit besonderen Ereignissen hängt die Tragica nicht zusammen, auch nicht damit, daß ich sie in den letzten 4 Monaten 1886, nachdem ich mir auf der Reise nach Schirgiswalde in Neustadt beim Stolpern den linken Arm gebrochen, zum Teil diesen Arm noch in der Binde tragend, niederschrieb. Das Scherzo war früher fertig geworden, dagegen hatte mich die Einleitung zum ersten Satz und die Gestaltung des vierten in sehr viele Zweifel gestürzt, und es dauerte ziemlich lange, bis ich mit dem Plane völlig ins Reine gekommen war. Der vierte Satz sollte anfänglich eine riesenhafte Ausdehnung erhalten (auch jetzt ist dieselbe nicht gering), doch sah ich mehr und mehr, daß die Verhältnisse des Ganzen darunter leiden würden und bin somit froh, daß ich mich mit der jetzigen Gestaltung des Werkes begnügt habe. Es war mir immer aufgefallen, und ich habe auch in meinen musikgeschichtlichen Vorträgen darauf

 

 

hingewiesen, daß die Tragik, die durch Beethoven in die Instrumentalmusik eingeführt worden, rein instrumental weder in der Eroica, noch in der c-moll-Symphonie ihre ganz befriedigende Lösung gefunden habe (etwas Gleiches kann man auch von der Zweiten von Schumann behaupten) und Beethoven deshalb in der Neunten nochmals nach einer Lösung ausschauen mußte, die diesmal nicht auf rein instrumentalem, vielmehr auf vokalem Gebiet erfolgen sollte. Bei der Tragica kam mir der Wunsch, zu versuchen, ob es auf instrumentalem Weg nicht doch möglich sei, und diesem Wunsch verdankt das Finale die Entstehung."

"Eine Kabinettsfrage"

In diesen Jahren erklomm Draeseke den Zenit seines Erfolgs. Zwischen Bruckners Achter und Brahms’ Vierter entstanden, hielten ihre Verfechter größte Stücke auf die Symphonia tragica. Zweifellos wurde der junge Richard Strauss von der Zweiten und Dritten Symphonie Draesekes in entscheidender Weise angeregt und hat, nach hörbarem Niederschlag in seiner f-moll-Symphonie, vieles Vorgefundene zu unzweifelhaft Eigenem transformiert. Die Uraufführung der Symphonia tragica wurde am 13. Januar 1888 im 4. Symphoniekonzert der Königlich sächsischen Hofcapelle – welcher das Werk auch zugeeignet ist – unter Leitung von Ernst von Schuch gegeben und war ein großer Erfolg, dem – nach der Fertigstellung der beiden Symphonischen Vorspiele zu Calderons Das Leben ein Traum op. 45 und zu Kleists Penthesilea op 50 im Sommer – noch größere folgen sollten. Am 29. März hatte er – nach 28 "verflossenen Jahren" – einen Brief Hans von Bülows erhalten: "Deine ªtragica´… hat mir gewaltig imponiert, und in der hoffentlich nicht zu sanguinischen Erwartung, daß es mir mit dem herrlichen philharmonischen Orchester in Berlin gelingen könnte, meinen persönlichen Eindruck von diesem Werk den novitätenfeindlichen Abonnenten aufzuoctroyieren, setze ich Dein Op. 40 auf das Programm." Es gab Widerstände der Intendanz, doch Bülow war es ernst: "…da Sie sich für Bruch zu interessieren behaupten, wie Sie es mit einer Hartnäckigkeit du beau sexe gegen die Draesekesche Sinfonie versuchen. NB. Das erste Stück, auf das ich mich, ªder unbegrenzte Freiheit haben soll´, persönlich capriciere, aus dem ich aber – pour en finir avec cet odieux parlamentarisme – tout simplement eine Kabinettsfrage mache." So kam es im Dezember 1888 in Berlin zu einer Vor- und zwei grandiosen Hauptaufführungen unter Bülow, worauf Draeseke an seinen Freund Hans von Bronsart schrieb, er wolle die Tragica "gar nicht mehr anders dirigiert hören". Die Resonanz nach dem dritten Konzert war enthusiastisch, und die Symphonie wurde daraufhin auch im Ausland erfolgreich gegeben. In Deutschland jedoch wurde es, nach einer Aufführung 1889 in Sondershausen, zunächst still um die Tragica, und Bülow ließ den alten Gefährten anläßlich des Klavierkonzerts ernüchternd wissen: "Werke wie die Deinigen können im Laufe der Dinge nur analegomena figuriren. Vulgus will ergötzt, sagen wir erquickt sein und solche ªniedere´ Tendenz ist Dir allzubekanntlich wildfremd. Man wird Deiner Musik – von Sachverständiger Seite – stets den gebührenden Respekt entgegenbringen, aber auf besondere Sympathie darfst Du nirgends rechnen. Du hast Besseres zu tun als Dir ein großes Exemplar von Publikum ªchemisch´ zu zerlegen: tätest Du’s, Du würdest die Kapellmeister nicht so ohne Weiteres der Trägheit oder des Mißwollens zeihen."

"Ebenbürtig unseren klassischen Symphonien"

1895 – inzwischen hatte Draeseke seine fis-moll-Messe und die Opern Bertran de Born und Fischer und Kalif vollendet, 1892 die Uraufführung der Herrat in Dresden unter Schuch erlebt und mit 58 Jahren seine einstige Schülerin Frida Neuhaus geheiratet ("Sie ist der gute Engel meines Lebens geworden und geblieben") – war es Jean Louis Nicodé in Chemnitz, der endlich wieder die Symphonia tragica in den Konzertsaal brachte, worauf das Werk auch beim Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins in Braunschweig unter Nicodés Leitung kam. Wiederum Nicodé und Max Pohle besorgten weitere Aufführungen. 1895-99 arbeitete Draeseke an seinem magnum opus, der Oratorien-Tetralogie Christus. Arthur Nikisch dirigierte am 3. November 1898 im Leipziger Gewandhaus erstmals die Symphonia tragica. Im Januar 1901 schrieb Nikisch an Draeseke, der gerade an seinem Streichquintett op. 77 arbeitete und mit der Abfassung seines Lehrbuchs für Kontrapunkt und Fuge Der gebundene Styl beschäftigt war: "Ich habe für diesen Winter Ihre Tragische Symphonie aufs Programm gesetzt, um dieses herrliche Meisterwerk immer bekannter zu machen und dorthin zu stellen, wohin es gehört: als ebenbürtig unseren klassischen Symphonien, dem eisernen Bestand der Gewandhauskonzerte angehörend." Im Februar 1902 leitete Nikisch die Tragica in Berlin und Hamburg, und am Neujahrstag 1903 schrieb er an Draeseke: "Nächsten Donnerstag (8. 1.) haben wir die ªTragische Symphonie´ im Gewandhaus. Werden wir die Freude haben, Sie hier zu sehen? Wir haben bereits zwei Proben abgehalten, und wir alle sind mehr als je begeistert von dem herrlichen, gigantischen Werk!

Ihr herzlicher, aufrichtiger Verehrer Arthur Nikisch." Nikisch hatte sich die Symphonie in unvergleichlicher Weise zueigen gemacht, und die Aufführung wurde zu einem durchschlagenden Erfolg, den er anscheinend bei seiner dritten Gewandhausaufführung am 19. Dezember 1907 (Draeseke hatte inzwischen seine letzte Oper Merlin vollendet und den unglückseligen Mahnruf Die Konfusion in der Musik in die musikalische Welt hinausgeschleudert) noch zu überhöhen verstand. An größeren Werken schrieb Draeseke, der beinahe völlig ertaubt war, in den folgenden Jahren eine Messe in a-moll op. 85 zu vier Stimmen a cappella (1908-09) und ein Requiem in e-moll zu fünf Stimmen a cappella (mit zwei Baßstimmen, 1909-10) – hier, im aller äußerlichen Effekte entsagenden sakralen Chorsatz, hat Draeseke wohl das Höchste geleistet. Am 2. März 1910 dirigierte Hans Pfitzner die Symphonia tragica, die nun vielerorten auf den Programmen stand, erfolgreich in Straßburg. Noch bevor Draeseke im August 1912 seine so gänzlich unkonventionelle, geistreiche und unsentimentale Vierte und letzte Symphonie, die Symphonia comica, vollenden konnte, machte ihm der Berliner Chordirigent Bruno Kittel das wohl größte Geschenk seines Lebens: Er leitete im Februar in Berlin und im Mai in Dresden an jeweils drei Abenden die ersten Gesamtaufführungen des Christus. Im November erkrankte der greise Meister, verließ von nun an das Haus nicht mehr und starb am am 26. Februar 1913, im Jahr des Sacre du printemps-Skandals, in Dresden. Den wesentlichsten Einsatz für seine Symphonia tragica erbrachte auch nach seinem Tod Arthur Nikisch. Mit dessen Ableben geriet auch das Draesekesche Gesamtwerk zunehmend aus dem Gesichtsfeld prominenter Fürsprecher. Ein gutes Dreivierteljahrhundert später ist es an der Zeit, wenigstens dieser Symphonie den ihr gebührenden Rang im Konzertleben zukommen zu lassen.

Zur Anlage der Symphonia tragica op. 40

Im Bauplan der Symphonia tragica, und damit in der Formpsycholgie, überhöht Draeseke das neudeutsche Ideal der zyklischen Form (also der finalisierenden Wiederkehr elementar satzkonstituierender Charaktere), indem er es in die klassische Symphonieform überträgt und damit – vergleichbar Bruckner – zugleich die widerstrebenden Richtungen der Zeit (Musikdrama und absolute Musik, Wagnerianer- und Brahminentum) apotheotisch aussöhnt. Es gelingt ihm hier auch, das radikale Fortschrittsbedürfnis seiner Jugend mit den zeitlosen Werten von Geschlossenheit und Ausgewogenheit in Übereinstimmung zu bringen, ohne das Stürmische, herb Eigentümliche zu opfern. Man mag in manchem – Melodik, einzelne harmonische Wendungen, Gestus – den mächtigen Einfluß Richard Wagners, gelegentlich auch Franz Liszts, spüren. Man weiß, daß davon auch andere Große keineswegs unberührt blieben.

Die formale Klammer der Symphonie bildet die langsame Einleitung (Andante, 4/4), die am Ende des Finales als verklärendes Andante tranquillo wieder erreicht wird. Diese Wiederkehr wird durch die unmittelbar vorangehenden Ereignisse geradezu herbeigezwungen, indem die drei langen G-Klänge, welche die Symphonie eröffnen, am Höhepunkt des Schlußsatzes als triolisch auf- und abjagende G-Kaskaden zurückkehren. Die knappen Molldreiklänge (b-moll und f-moll), die sich zu Beginn dem langen G entgegenstellen und dieses zweimal zum Abreißen bringen, treten im Finale als massiv ausgehaltene Akkorde (Posaunen, Tuba, 3.+4. Horn) in den G-Tumult ein. Dann tritt jene markante Motivik ein, die aus den nachfolgenden Takten der Einleitung im Bewußtsein des aufmerksamen Hörers geblieben ist, und die schwindelerregende enharmonische Modulation, die zum Hauptthema der Einleitung führte, wird kunstreich augmentiert, bis tatsächlich das erste Tempo der Symphonie auch deren Schluß wieder bestimmt. Dem Wiedereintritt des Beginns am Höhepunkt des Finales geht eine zyklische Überformung der Reprise voraus, in der die Themen der vorangegangen Sätze auferstehen, beginnend mit dem prägnanten Allegro risoluto-Hauptthema des ersten Satzes. Gleichzeitig bzw. im kontrapunktischen Widerstreit treten das zweite Thema des ersten Satzes, die beiden Themen des Adagios und das Trio-Thema des Scherzos auf und lösen einen agitierenden Sog aus, gegen den das lyrische Seitenthema des Finales vergeblich Einspruch erhebt. Immer vehementer spitzt sich das Geschehen zu, und dem solcherart entfachten Spuk kann nur noch der Rückgriff auf den Anfang ein Ende bereiten. Dieses Drama sinnträchtig vor dem Hörer erstehen zu lassen ist Draeseke in einer organischen und konturenscharf ausgemeißelten Weise gelungen wie sonst nur – auf so ganz andere und doch in mancher Hinsicht parallele Weise – Anton Bruckner in seiner Fünften und Achten Symphonie (Letztere in der zweiten Fassung). Andere, nicht minder meisterlich gearbeitete Symphonien wie Dvoráks Neunte oder die Francksche in d-moll behandelten das zyklische Prinzip in einer mehr äußerlich dem Satz aufgepfropften Weise.

Schon zu Beginn des Tragica-Finales wird die 6/8-Allegro con brio-Bewegung zweimal gebremst vom Andante-Thema der Einleitung (hier Andante con moto), bevor die fast mendelssohnisch dahinhuschende Thematik Fuß fassen kann. Das lyrische Seitenthema wird in der Durchführung zu einem Fugato-Themenkopf komprimiert, der gegen die Triolenmotivik opponiert. Aus diesem Gegensatz geht ein völlig neues, kapriziös sangliches Thema hervor, welches wiederholt wird. Von dieser Stimmung befruchtet, bestimmt die Hauptthematik zwar die weitere Durchführung, kann jedoch in der ins Zyklische aufgerissenen Reprise nicht mehr zum Durchbruch kommen, bildet hier hingegen den entscheidend durchtragenden Widerstand, der die entgegengerichteten Vektoren kulminieren läßt.

Vorboten der G-Oktavkaskaden am Finalhöhepunkt finden sich schon an entscheidenden Knotenpunkten in den ersten zwei Sätzen, so die oktavversetzten Terzparallelen (Flöten, Fagotte und Bratschen) am Tiefpunkt in der Durchführung des Kopfsatzes, direkt bevor das Thema der langsamen Einleitung auftaucht, dessen Verebben die große Steigerung bis zum gewaltigen Repriseeintritt folgt. Der andere, noch eindeutigere Vorbote erscheint kurz vor Ende des langsamen Satzes als Resultat letzten Fortissimo-Aufbäumens: Hier sind es auf- und abschreitende E-Oktaven.

Der Allegro risoluto-Kopfsatz (2/2-Metrum) geht zwingend aus dem Aufruhr hervor, den die Geburt seines Hauptmotivs am Ende der langsamen Einleitung verursacht. Nach dem lyrischen Seitenthema kommt noch ein von den Hörnern ausgehendes Thema (welches an das Einleitungsthema anklingt), bevor die Schlußgruppe eine erste Vorahnung der triolischen Final-Hauptthematik vorbeitanzen läßt. Die abschnitsweise Gliederung der Durchführung mag manchen an Bruckner erinnern. Dieser erste Satz mit seiner etwas lapidaren Thematik ist äußerst dicht gearbeitet und läßt in der mannigfaltigen Ausfächerung des Motivischen und harmonischen Wendigkeit die Reprise ebenso spannend erscheinen wie das Vorhergehende.

Der langsame Satz, Grave. (Adagio non troppo), steht im 3/2-Metrum in a-moll. Trotz des ungeraden Takts sprachen viele Kommentatoren von einem Trauermarsch, und tatsächlich herrscht eine eigentümlich reizvolle Spannung zwischen dem atypischen Metrum und dem conduct-artigen Charakter, die die Gefahr des vierschrötigen Pathos von vornherein bannt. Ein melodisch fließender B-Teil (Un pochettino più mosso, ma tranquillo) schafft den notwenigen Kontrast zur feierlich lastenden Ausgangsstruktur und mündet in ein von den Triolen-Attacken des A-Teils getragenen Grandioso. Die eigentliche Auseinandersetzung kann ihren Lauf nehmen.

Das quicklebendige Scherzo (Allegro, molto vivace) schrieb Draeseke zuerst. Es ist ein C-Dur-Satz mit einem Trio in Des-Dur, welches un pochettino più lento zu nehmen ist. Anschließend kehrt das Scherzo (wie stets bei Bruckner) in identischer Form wieder.

Trauermarsch in e-moll op. 79

Am 12. Januar 1906 wurde Felix Draeseke anläßlich der bevorstehenden 150-Jahr-Feier von Mozarts Geburtstag in Dresden zum Geheimen Hofrat ernannt. Er komponierte seinen Trauermarsch in e-moll für großes Orchester op. 79 "Den in Africa [während der Kolonialkämpfe] gefallenen deutschen Kriegern zum Gedenken", der im breiten 2/2-Takt die Tempovorschrift Langsam und feierlich trägt und 1907 beim Leipziger Verleger Robert Forberg in Partitur erschien. Der gemessene Ernst der e-moll-Rahmenteile wird durchbrochen von einem kantablen B-Teil in der Paralleltonart G-Dur. Mit kunstvoll verwobener Einfachheit im Melodischen schuf der 71-jährige Draeseke hier ein tragisches Tonbild, das in seiner unprätentiösen Feierlichkeit, dem knappen Ebenmaß und der unkonventionellen Harmonik über den zeitgebundenen Anlaß hinaus seine charakteristische Wirkung entfaltet.

Christoph Schlüren

(Einführungstext zu cpo CD)