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Felix Draeseke

und seine Zweite Symphonie

Vergessen

Wird ein in großen Teilen seines Œuvres zweifellos bedeutender Komponist von der Musikgeschichte so grundsätzlich vergessen wie Felix Draeseke, so ist es bei der Wiederentdeckung eine wesentliche Aufgabe, die Gründe dafür transparent zu machen. Draeseke hat die meisten Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik mit meisterlichen Kompositionen oft erheblichen Ausmaßes bedacht. Er ist in der unmittelbar auf die eigentliche Romantik folgenden, in Mittel- und Nordeuropa vor allem von Beethoven und den von diesem ausgehenden gegensätzlichen Richtungen (seinerzeit exemplarisch vertreten durch Wagner, Berlioz und die Neudeutschen um Liszt einerseits, durch die sogenannten Konservativen um Brahms andererseits) geprägten Epoche als einer der gewichtigsten Schöpfer von Symphonik, Kammer- und Kirchenmusik für den gewissenhaften Betrachter unübersehbar. Wäre Draeseke in einem anderen Land mit damals geringerer Dichte kompositorischer Substanz groß geworden, so darf man getrost davon ausgehen, daß sein Schaffen längst eine viel intensivere Widmung erfahren und seine Stimme wenigstens postum Eingang ins Konzertleben gefunden hätte. Doch er lebte, abgesehen von 14 nach eigener Auskunft "verlorenen Jahren" in der französischen Schweiz, wo er nicht wirklich heimisch zu werden vermochte und viel persönliche Trübsal erfuhr, in Deutschland als sperriger Sonderling, dessen hehre, allgemein als 'herb' und 'schwierig' verschrieene Kunst nur Fachleute und Kollegen wirklich zu würdigen verstanden. Das Studium am konservativen Leipziger Konservatorium stand für ihn bereits im Zeichen der Begeisterung für die neudeutschen Ideale, für den Weimarer Kult um Franz Liszt, in dessen symphonischen Dichtungen auch der junge Draeseke die zukunftsweisendste Richtung erblickte. Er schrieb glühende Einführungen zu Liszts Instrumentaloden, begab sich persönlich in den engeren Bannkreis des Meisters und wurde bald zu einem der radikalsten Vorreiter des neuen, mit klassischem Ebenmaß und harmonischer Verbindlichkeit brechenden Stils. Als er mit seinem brachial zeitgebundenen 'Germania-Marsch' 1861 auf der zweiten Weimarer Tonkünstlerversammlung einbrach, fiel sein fluchtähnlicher Abgang in die Schweiz zusammen mit Liszts Übersiedlung nach Rom. Die Neudeutschen hatten eine entscheidende Schlacht verloren, und erst Wagners Glorie und danach der fulminante Aufstieg des jungen Richard Strauss verhalfen dem, was sich von Berlioz und Liszt ausgehend angebahnt hatte, zur Etablierung und in der Folge, trotz des Rückzugs des seit jeher formbewußten Richard Strauss’ von der Erneuerungsfront, zur Aushebelung der klassischen Formen.

Ohne ideologischen Rückhalt

Die Schweizer Jahre waren für Draeseke eine oft sehr einsame Zeit, in der er Mangel an Austausch und an Anerkennung, Stagnation und Resignation kennenlernte. Wäre er nicht alljährlich nach Deutschland gereist – zumal nach München, wo er den Uraufführungen des Tristan und der Meistersinger beiwohnte – so hätte er die provinzielle Enge schöpferisch kaum überlebt, zumal ihn die fortschreitende Ertaubung – zurückgehend auf eine nicht ausgeheilte Mittelohrentzündung im Alter von fünf Jahren – als aufführenden Musiker ins Abseits drängte. Er schlug sich als Klavierlehrer durch, und mit all dem Leid durchlief er eine Wandlung vom selbstherrlichen Umstürzlertum zu einer Verinnerlichung des Ausdrucks und Mäßigung der Form, die ihn nun den meisten seiner einstigen Mitstreiter entfremden sollte. Das 1865 über das Mozartsche Muster entstandene 'Lacrimosa' op. 10, welches später in sein h-moll-Requiem einfloß, zeigt deutlich die neue Richtung an und soll Liszt zu dem Ausspruch veranlaßt haben, aus dem Löwen sei ein Kaninchen geworden. Zugleich hatte Draeseke mit seinen ungestümen Jugendwerken die Konservativen brüskiert und sich auch als scharfzüngiger Kritiker viele Feinde geschaffen. Also wirkte er, und dies für den Rest seines Lebens, ohne ideologischen Rückhalt zwischen den Lagern, und verwarf überdies in starrer Prinzipientreue (und aus Loyalität mit dem ihm gegenüber nicht allezeit so loyalen Hans von Bülow) die bis dahin ersprießliche Verbindung mit dem von ihm am höchsten geschätzten Richard Wagner, nachdem dieser dem Freund die Frau abgeworben hatte. (Der "Lebensspruch" Draesekes lautete, seinem Biographen Roeder zufolge:

"Stets bin ich gegen den Strom geschwommen,

Und allzeit ist es mir schlecht bekommen.

Doch böt’ man der Erde Bestes mir nun

Und spräche: 'Wolle vom Kämpfen ruh’n,

Wie sie sind, Menschen und Dinge nehmen,

Dich der Zeit und der Sitte bequemen',

Stets würd’ ich wie einst dasselbe tun!") Auch Liszt gegenüber blieb er reserviert und ging auf spätere freundschaftliche Angebote nicht mehr ein. 1878 hatte er der Schweiz endgültig den Rücken zugekehrt und war, nach einem kurzen Intermezzo in seiner Geburtsstadt Coburg, nach Dresden übergesiedelt, wo er bis zu seinem Tod am 26. Februar 1913 wirken sollte. Am dortigen Konservatorium wurde er im September 1884 zum Professor für Komposition, Harmonielehre und Kontrapunkt berufen. Als Komponist inzwischen ein beschlagener Kontrapunktiker, der den Vergleich mit Wagner, Bruckner und Brahms nicht zu scheuen brauchte, lehrte er den "gebundenen Styl" und brachte beachtliche Schüler konservativer Provenienz, darunter den als Symphoniker eminent begabten Paul Büttner, hervor.

"…zu Narren geworden"

Als Lehrer hochgeachtet, gelang es dem Komponisten Draeseke doch nie wirklich, in die unbestritten erste Reihe der Tagespersönlichkeiten vorzustoßen. Das vermochten selbst die umjubelten Aufführungen seiner 'Symphonia tragica' (der 1885-86 entstandenen Dritten Symphonie) unter den großen Dirigenten der Zeit wie Hans von Bülow, Ernst von Schuch oder besonders Arthur Nikisch nicht nachhaltig zu ändern. Immer wieder wurde er herb enttäuscht, bejammerte uneingelöste Versprechen, kämpfte gegen Intrigen und Verunglimpfung an und wurde langsam von den Entwicklungen der Zeit überrollt. Im Oktober 1906 verfaßte er – der einst hingebungsvolle Förderer des jungen, ihn bewundernden Richard Strauss – nach der ersten Dresdner 'Salome' für die Neue MusikZeitung die Streitschrift 'Die Konfusion in der Musik', welche einen wüsten Schlagabtausch unverrückbarer Standpunkte nach sich zog. Draesekes Pamphlet beginnt folgendermaßen: "Angesichts der traurigen Zustände, in denen sich die heutige Musik befindet, sind wir wohl berechtigt, von Konfusion zu reden. Denn die Unklarheit und Verwirrung ist so hoch gestiegen, daß auch viele Künstler sich nicht mehr in ihr zurechtfinden. Schauten frühere Zeiten erbitterte Kämpfe, die von feindlich gegenüberstehenden Parteien ausgefochten wurden, so erschreckt unsere Epoche durch einen erbarmungslosen Kampf aller gegen alle, ohne daß man den künstlerischen Grund dieses Kampfes zu entdecken vermöchte! Denn er entbrennt nicht wie die früheren für ein Prinzip, – es müßte denn das der Selbsterhaltung sein, und die Kämpfer würden in Verlegenheit geraten, wenn man sie über ihre Ziele befragte.

Gewachsen ist die Zerstörungslust gegenüber geheiligten Traditionen und Schönheitsregeln und ebenso die Impietät gegenüber den gewaltigen Leistungen einer großen Vergangenheit. Infolgedessen schwindet auch vollkommen die Erinnerung an das, was früher als Merkmal der Schönheit bewundert ward und uns in vielen Meisterwerken entzückte. Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes Harmoniengewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form, schön vermittelte und überraschende Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt erscheint… Eine einfache Liedweise ist kaum noch anzutreffen, reizlose Deklamation für gewöhnlich und in der Oper manchmal wüstes Herausschreien einzelner Akzente an ihre Stelle getreten. Überhaupt scheint in der heutigen Komposition die eigentliche Gemütssprache, wenn nicht erstorben, doch sehr zurückgedämmt zu sein, was vielleicht auf die Furcht der Tonsetzer, einer zu großen Weichheit oder Sentimentalität beschuldigt zu werden, hinzudeuten scheint. Kalte Verständigkeit und Gleichgültigkeit entspricht übrigens so sehr dem ganzen Geiste und Wesen der Zeit, daß man sich über diesen Mangel nicht weiter zu wundern braucht.

Eher könnte uns das Fehlen jedes Kunstprinzips in Erstaunen setzen: denn Richtungen mit ausgesprochenen Grundsätzen gibt es, abgesehen von den Starr-Konservativen, kaum mehr in unserer Zeit. Ja, man kann geradezu sagen, daß die meisten jetzt Lebenden in der Tonkunst rechts und links zu unterscheiden nicht mehr ganz fähig sind."

Später heißt es in Bezug auf Richard Strauss, der namentlich nicht genannt wird als "der in dieser Beziehung am allerweitesten fortgeschrittene Künstler, von Haus aus in ungewöhnlicher Weise für die Musik befähigt, als Schöpfer sehr kühner, aber höchst interessanter Kunstwerke zu bezeichnen, die insbesondere durch eine hochgesteigerte virtuose, auch in den Kammermusikwerken sich nicht verleugnende Instrumentation fesseln. Aber der Verismus hatte sich seiner bemächtigt und trieb ihn an, und zwar mit zielbewußtem Willen, sich dem Kultus des Häßlichen zu ergeben und der Kunst in bis dahin unerhörter Weise Gewalt anzutun. War bei mehreren Schöpfungen humoristischer Art der so äußerst weit getriebene Realismus einigermaßen durch das Darstellungsobjekt entschuldigt worden, so zeigte sich in späteren, in denen noch Ungeahnteres gewagt wurde, daß der abschüssige Weg nicht verlassen und die große Hoffnung, die uns angesichts dieser Erscheinung aufgegangen war, nicht erfüllt werden sollte. Es schien beinahe als ob ein unheimlicher Trotz diesen Künstler, der für alle seine Darbietungen willige Zuhörerschaft fand und dem besonders die jederzeit oppositionslustige Jugend huldigte, angetrieben hätte, immer tolldreister auf dem eingeschlagenen Pfade weiter zu schreiten, als wollte er sagen: Ihr wehrt euch ja nicht; ihr laßt euch ja alles von mir gefallen! Nun, da will ich doch mal sehen, was man sich alles erlauben kann! Auf diese Art gelangte er denn zu Resultaten, die mit der Musik als Kunst nichts mehr zu tun haben. Denn rein musikalisch lassen sie sich nicht mehr erklären."

Draeseke schließt seinen Mahnruf, dem – mag der Leser ihm zustimmen oder nicht – Zivilcourage nicht abgesprochen werden kann, mit einer Warnung: "Die Tonkunst ist das unbestrittenste Gut des deutschen Volkes gewesen und geblieben; denn selbst als die Greuel des Dreißigjährigen Krieges aus Deutschland eine Wüste gemacht und fast alle Kultur weggeschwemmt hatten, war sie unversehrt aus denselben hervorgegangen und einer unsrer größten Tonsetzer, Heinrich Schütz, hat unentwegt ihre Fahne hochgehalten und zu Ehren gebracht. Wahre dir dein teuerstes Gut, deutsches Volk, und laß dich nicht verblenden von Umstürzlern, die nicht den Fortschritt wollen, sondern nur den Umsturz! … Am treffendsten und mit ganz wenigen Worten hat aber sich ein Mann bereits vor mehr als 1800 Jahren vernehmen lassen, und zwar kein Geringerer als der Apostel Paulus, indem er an die Römer schrieb: Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden."

"Ohne schöpferische Potenz"

In den Augen aller dem Fortschritt Zugewandten war spätestens damit aus dem einstigen Revolutionär des Liszt-Kreises ein unverbesserlicher Reaktionär geworden, ein bitterer Alter, der mit dem Lauf der Welt nicht mehr mitkam und den es schleunigst zu vergessen galt. Die Erwiderung von Seiten Richard Strauss’ in der ersten Nummer der Zeitschrift 'Der Morgen', datiert Pfingsten 1907, nannte zwar den Namen des lästigen Gegners nicht, doch die Musikwelt wußte, wer – unter anderen – gewiß auch gemeint war: "Zünftige Fachgenossen, die ängstlich besorgt um ihre eigene Wertschätzung, ohne schöpferische Potenz, lediglich im Besitz einer gewissen Kompositionstechnik irgend einer verflossenen Kunstepoche, eigensinnig und gewalttätig gegen jede Erweiterung der Ausdrucksmittel und gegen jede Ausdehnung künstlerischer Formgebiete sich sträuben, Kritiker, deren Kunstanschauung auf einer erstarrten Ästhetik vergangener Zeiten basiert, wagen sich als festgeschlossene 'Reaktionspartei' mehr und mehr wieder an die Öffentlichkeit und sind eifriger denn je am Werke, den weiter Strebenden das Leben sauer zu machen…

Darum fort mit der Anwendung einer schulmeisterlichen Ästhetik auf Werke, die mit eigenem Maßstabe zu messen sind; fort mit allen Gesetzestafeln, die längst schon von großen Meistern zerbrochen worden sind; fort mit allem Hohepriestertum, das sich einer kraftvollen Weiterentwicklung hindernd entgegenstellen will; fort mit allem, was keine andere Berechtigung für sich aufweisen kann, als daß es gestern schon gewesen ist! Dagegen sei in unserem 'Morgen' allen denen ein freimütiges Willkommen geboten, Schutz und Förderung versprochen, die zuviel Respekt vor den großen Meistern haben, als daß sie – aus Bequemlichkeit oder ihres lieben Broterwerbs halber oder zur Befriedigung eines im tiefsten Grunde unkünstlerischen Ehrgeizes – die Werke der Meister durch billige Nachahmung entweihen und verflachen könnten! Willkommen alle, die 'strebend sich bemühen' und ein fröhliches Pereat der Reaktionspartei!"

Strauss’ Reaktion entbehrt nicht eines tragischen Beigeschmacks, indem er den einst wenigstens zeitweise zum Vorbild erkorenen greisen Meister sorglos vernichtet – freilich auch ohne Nennung des Namens und zweifellos in einem Topf mit einer Vielzahl solcher, die derlei Vorwürfe verdient hatten. Draeseke hatte so seine letzte außermusikalische Schlacht verloren, nicht jedoch seinen Humor, der in seinem Fall bestimmt mit "… ist, wenn man trotzdem lacht" definiert werden sollte: 1912, 26 Jahre nach seiner Dritten Symphonie, der Tragica, und im Jahr vor seinem Tode, komponierte er fast völlig ertaubt als Gegenstück zu dieser seine Vierte Symphonie, die querköpfige 'Symphonia comica', einen letzten, gänzlich unangepaßten Beweis seiner der Zeit (in der, so Draeseke, "die Kunst Geschäft und das Wort 'time is money' ausschlaggebend geworden ist") abhanden gekommenen, jenseits von Reaktion und Revolution verankerten schöpferischen Prinzipien.

Ideologisch mißbraucht

Nach dem Tode Arthur Nikischs hatte Draeseke unter den ausübenden Musikern keinen prominenten Fürsprecher mehr, der sich nachhaltig für seine Musik eingesetzt hätte. Umso fataler war es, daß sich die Nationalsozialisten, angeführt vom eifrigen Biographen Erich Roeder (mit dem zweibändigen Werk 'Felix Draeseke – Der Lebens- und Leidensweg eines deutschen Meisters'), 20 Jahre nach seinem Tod seines geistigen Erbes bemächtigten und in dem "Wahrheitsfanatiker" (Peter Raabe) einen der "artreinsten deutschen Musiker", das "Ideal eines deutschen Künstlers", eines "von Moll nach Dur durchstoßenden neugermanischen Musikers" (Roeder) entdeckten. Man berief sich lärmend auf die "Konfusion in der Musik" und ihre Prophetie und erfüllte damit das die Streitschrift beschließende Paulus-Zitat in unvorhergesehener Weise. Roeder selbst führt seine Vereinnahmung ad absurdum, wenn er sich darauf beruft, Draeseke habe an Niggli geschrieben, daß er "seiner Zeit gegenüber immer 'das musikalische Gesetz der Gegenbewegung' erfüllte". Richard Strauss aber ließ als Präsident der Reichsmusikkammer, wenn man Roeders Zeugnis glauben darf, ungeachtet der einstigen Befehdungen Draesekes Opern 'Herrat' und 'Gudrun' als "heute unbedingt aufführenswert" auf eine Sonderliste setzen. Die nationalsozialistischen Kulturorganisationen erwirkten ab Mitte der dreißiger Jahre vermehrt Aufführungen und veranstalteten Draeseke-Feste. Auch wenn sich die Durchsetzung in engen Grenzen hielt, war doch die Einverleibung in die NS-Ideologie von nachhaltigem Schaden für Draesekes Ansehen und Werk. Die erste Draeseke-Gesellschaft begab sich in den Schoß der pervertierten Politik und hatte mit Kriegsende ausgedient. Danach wurde es fast ganz still um den postum Mißbrauchten. Erst 1986 wurde die 'Internationale Draeseke-Gesellschaft' in Coburg gegründet, die seine Werke und Schriften systematisch verfügbar macht, die musikwissenschaftliche Beschäftigung vorantreibt und in einer Schriftenreihe dokumentiert.

Hundert Jahre kommerzielle Tonträger und zwanzig Jahre Compact Disc sind verstrichen, ohne daß Draesekes Musik die über sie angestellten Betrachtungen in verstaubten Büchern hätte überwinden und klingend ins öffentliche Bewußtsein eindringen können. Erst in jüngster Zeit hat man begonnen, dieses Schaffen – seit Ende der achtziger Jahre auch in Neuausgaben seiner Werke, teilweise im Erstdruck – allen Interessierten zugänglich zu machen. Beide hier vorgestellten Kompositionen sind, wie zuvor schon die Originalfassung der 'Symphonia tragica' op. 40 und der Trauermarsch op. 79 (cpo 999 581-2), Ersteinspielungen.

Lebenslanger Gattungsspagat

Unter den bedeutenderen Symphonikern des 19. Jahrhunderts ist Felix Draeseke ein besonderer Fall, indem er sich stets eine erstaunliche Vielseitigkeit hinsichtlich der Gattungen bewahrte, was manche Verehrer zu gewagten Vergleichen mit Mozarts Universalität bewog. Er hat gewichtige deutsche Opern geschaffen, die auf ihre Weise dem großen Schatten Wagners zu entkommen versuchten. Hier, auf dem publikumswirksamsten Gebiet kompositorischer Betätigung, ist nicht das geringste Anzeichen einer Draeseke-Renaissance zu beobachten (wenn man denn von einer Renaissance sprechen will, wo er schon zu Lebzeiten auf wenig Gegenliebe stieß und sich keines seiner Werke je auch nur ansatzweise zu einem 'Klassiker' entwickeln konnte). Auch das Lied und die Klaviermusik hat er reich bedacht. Wie ergiebig sein Liedschaffen ist, ob es bei Sängern und Publikum Enthusiasmus hervorrufen könnte, wissen wir noch nicht. Die Klavierliteratur hat ihm gewiß eigentümliche und reizvolle Beiträge zu verdanken, und man kann sich nur wundern, daß die Pianisten auf ihrer Suche nach weniger begangenen Pfaden gerade auch in der Romantik ihn, den einst Edwin Fischer im Repertoire führte, noch kaum entdeckt haben. Seine Kammermusik ist, zumal in den Quintetten und Streichquartetten, von erheblichem Wert, doch stellt sie die Interpreten vor keine einfachen Aufgaben. Am bedeutendsten allerdings dürfte Draeseke für die Kirchenmusik sein, wo er unter anderem je ein Requiem und eine Messe mit Orchesterbegleitung, die monumentale Oratorien-Tetralogie 'Christus' (sein 1912 unter Bruno Kittel in Berlin uraufgeführtes magnum opus) und zwei späte a-cappella-Großwerke (vierstimmige Messe in a-moll und fünfstimmiges Requiem h-moll, vielleicht seine bedeutendsten Schöpfungen) hinterließ. Es ist trotz aller Schwierigkeiten der Aufführung absolut unverständlich, wieso diese herrlichen Kompositionen so gut wie nie zu hören sind – zumal die visionären Spätwerke in ihrer einzigartigen Verschmelzung von Renaissance-Polyphonie und avancierter spätromantischer Modulatorik, die das Zerrbild vom erstarrten Reaktionär, welches Draeseke seit der 'Konfusion in der Musik' anhaftet, schlagend widerlegen. Würden diese Werke bekannter und erführen weithin eine ihrem Wert entsprechende Würdigung, so wäre damit auch ein breiteres Interesse an seinem übrigen Werk gesichert. In solch umspannendem Werkkreis steht das symphonische Schaffen Draesekes, welches sich mit wenigen Ausnahmen den Gattungen Symphonie, symphonische Dichtung und Konzert zuordnen läßt – man denke nur: Bruckner, Brahms und Liszt haben keine Opern geschrieben, Wagner und Verdi fast nur Opern, Dvorák sehr wenig Klaviermusik und Tschaikowskij fast keine Kirchenmusik. Je detaillierter man hier vergleicht, desto mehr erstaunt der lebenslange Gattungsspagat Draesekes.

 

 

Der Weg des Symphonikers

Die ersten Entwürfe zu seiner Zweiten Symphonie in F-Dur für großes Orchester brachte Felix Draeseke 1871, noch vor der Vollendung seiner Ersten Symphonie im darauffolgenden Jahr, während der Schweizer Zeit anläßlich eines Deutschland-Aufenthalts zur gleichen Zeit wie diejenigen seines 'Adventlieds' op. 30 nach Rückert zu Papier. Eigentlich ist sie seine dritte Symphonie, denn bereits 1855 hatte er eine Symphonie in C-Dur fertiggestellt, seine zurückgezogene, später wahrscheinlich vernichtete neutönerische 'Nullte'. 1869 waren ihm auf einer großen Reise, die ihn von Frankreich über Spanien und Nordafrika nach Italien führte, die Ideen zu seiner Ersten Symphonie in G-Dur op. 12 gekommen, die er 1872 vollenden konnte. Die Aufführung des viersätzigen Werkes, in welchem das knappe, launige Scherzo als zweiter Satz dem zentralen, tiefgründigen Adagio molto vorangeht, leitete am 31. Januar 1873 sein einstiger Kompositionslehrer Julius Rietz in Dresden. Sie ist ein kühnes, höchst eigenartiges Werk. Daß man einst Mäßigung in ihr erblickte, mag den unbefangenen Hörer von heute erstaunen, für den vielfach die Faßlichkeit des Thematischen an die Grenze getrieben ist. Diese Tonsprache erscheint sogar heute noch recht widerborstig, und es ist für die Musiker eine Herausforderung, mit dem chromatisch durchtränkten motivischen Beziehungsreichtum vertraut zu werden und den Formverlauf sinnfällig werden zu lassen.

Auf Anhieb im Thematischen faßlicher geriet die Zweite Symphonie, der Draeseke sich 1875 wieder mit vollen Kräften widmete, um im April 1876 die ersten drei Sätze und am 10. Juni desselben Jahres das Finale abzuschließen. Die Uraufführung gab die Sächsische Hofkapelle unter dem großen Ernst von Schuch (der auch die Tragica aus der Taufe heben sollte) am 15. Februar 1878 in Dresden. Als eines seiner meistgespielten Werke bildet sie zusammen mit ihrer Nachfolgerin, der 'Symphonia tragica', den Gipfel von Felix Draesekes symphonischem Schaffen. Die Gesamtanlage und stilistische Zielsetzung dieser beiden Symphonien ist sehr unterschiedlich. In der ungefähr zehn Jahre nach der Zweiten entstandenen 'Symphonia tragica' bündelte Draeseke die formalen Errungenschaften der Romantik zu einem Monumentalwerk zyklischen Charakters. Später, im Herbst 1889, gab Draeseke in seinen 'Lebenserinerungen' über seine künstlerische Entwicklung in jenen Tagen Auskunft: "Für unsere Zukunftsmusik war im Waadtland absolut nichts zu hoffen; man hatte gerade genug zu tun, unsere klassische Musik zu verteidigen, und so erklärt es sich wohl, wenn ich dieser wieder näher kam und durch einzelne Stücke, wie z. B. die ersten Sätze meiner G- und F-Dur-Symphonie frühere Freunde in vielleicht unliebsamer Weise überraschte. Aber andere Teile dieser Schöpfungen konnten ihnen genugsam zeigen, dass der alte Draeseke noch nicht tot sei und Liszt nicht recht hatte, wenn er, wie mir erzählt worden ist, den Ausspruch getan hat, ich sei früher ein Löwe gewesen und jetzt ein Kaninchen geworden. Schon das 'Requiem' und die 'Herrat' legten Zeugnis ab, dass ein Kaninchen mit solchen Krallen eine naturgeschichtliche Unmöglichkeit sei. Mit diesen Werken, denen 'Gudrun' und die Symphonia tragica folgte, hatte ich mein Gleichgewicht wiedergewonnen und war mir meines künstlerischen Zieles bewußt geworden. Als Kind meiner Zeit und ausgerüstet mit ihren Mitteln, wollte ich ihren Inhalt musikalisch aussprechen, aber in pietätvoller Anlehnung an die grossen früheren Meister. Ihre grossen Errungenschaften sollten hoch und wert gehalten werden und neben ihnen die der sogenannten Zukunftsmusik. Was diese uns an neuem Stoff und neuen Mitteln zugeführt hatte, wollte ich versuchen, der Musikwelt in klassischer Form darzubieten. Natürlich war hierunter nicht zu verstehen eine sklavische Nachbildung der früheren Leistungen. Deren Formen sollten frei behandelt und entwickelt, auch formelle Neubildungen versucht, alle gebotenen harmonischen, rhythmischen, modulatorischen Mittel ausgenutzt werden. Dabei galt es, der von der Mendelssohn- wie Schumann-Schule arg vernachlässigten Melodik neue Sorgfalt zuzuwenden… Für mich war von den neueren Tonsetzern einzig Wagner der massgebende geblieben…"

Zur Anlage
der Zweiten Symphonie op. 25

In der Zweiten Symphonie ist die klassische Satzfolge wieder eingesetzt, also das Scherzo zwischen langsamem Satz und Finale. Die Thematik ist durchgehend von bestechender Prägnanz und Deutlichkeit. Wäre der Begriff nicht erst 1911 von Heinz Tiessen aufgebracht und in der Folge von Ferruccio Busoni popularisiert worden (man beachte auch die ästhetischen Parallelen Draesekes zu Busoni, was das Neue in klassischer Form betrifft!), so wäre hier mit Recht die Rede von einer "neuen Klassizität". Am offenkundigsten ist Draeseke in seiner Zweiten dem Geiste Beethovens verpflichtet, doch nicht im Sinne einer Nachahmung. Mag mancher bei den Tutti-Eröffnungsakkorden im Dreiermetrum an den Beginn der 'Eroica' denken, so sind doch Fortschreitung und Kontext von vornherein völlig anders. Am ehesten eine Beethoven-Reminiszenz ist der letzte Schluß des Scherzos, wo nach einem langen Ritenuto keck der ursprüngliche Scherzo-Charakter, zu Presto beschleunigt, dazwischenfährt und binnen vier Takten den Schluß herbeiführt.

Die Architektur des ersten Satzes, der anders als in der Ersten und Dritten Symphonie ohne langsame Einleitung direkt Allegro con moto beginnt, ist eine Sonatenform in Beethovenscher Manier, mit stark kontrastierendem männlichen und weiblichen Thema, einer weit ausholenden, sich dramatisch zuspitzenden Durchführung, die schließlich im Sturm der Reprise entgegeneilt und mit deren Eintritt den Satzhöhepunkt markiert, und mit einer recht umfangreichen Coda. Auch der zugrundeliegende, heroisch vorandrängende Gestus (der gerne dazu verleitet, ein übereiltes Tempo anzuschlagen) verweist ehestens auf Beethoven. Die schwungvolle Kleingliedrigkeit des Hauptthemas hingegen weist unüberhörbar auf Richard Strauss voraus, läßt in der Ferne schon den Schwung des 'Don Juan' aufscheinen. Die Themen sind in ständiger Transformation auf ihre kontrapunktische Tauglichkeit hin konzipiert, von der Draeseke reichsten Gebrauch macht, jedoch nicht ohne dramaturgisches Geschick, indem er das eigentliche polyphone Potential erst in der Durchführung entfesselt. Je mehr man sich mit den Einzelheiten der Partitur befaßt, desto mehr Überraschungen hält das Werk in allen vier Sätzen bereit, desto mannigfaltiger und unkonventioneller wird das Gesamtbild, ohne an Geschlossenheit einzubüßen. Das Hauptthema des Kopfsatzes gliedert sich in zwei unabhängig voneinander fortwirkende Einheiten, deren erste von äußerst beweglicher Agilität gezeichnet ist, wogegen die zweite eher in sich beharrt und den wichtigsten zyklischen Aspekt der Symphonie bildet, indem sie später als Scherzo-Hauptthema wiederkehrt (und dann plötzlich überraschend an Schumann anklingt!) und auch Vorbild des fließenden, kontrapunktisch so ergiebigen zweiten Themas im Finale ist.

Das Finale, Presto leggiero, hat Erich Roeder als das eigentliche Scherzo bezeichnet und mit Recht auf den analogen Gestus des Scherzos der Ersten Symphonie verwiesen. Dabei sieht er aber über den (seit Haydn) klassischen Final-Status des humoristisch flunkernden Con-spirito-Charakters hinweg, und erst recht über die sehr freie Anlage als Rondoform mit zwei alternierenden Themen, mit einer anspruchsvollen Fugato-Sektion und dem an das affirmative Auskadenzieren in der Unterquinte via Generalpause anschließenden, vorübergehend der Verwandlung des Hauptthemas ins Heroische huldigenden, dann wieder in den ursprünglichen, kapriziösen Charakter zurückfindenden, ausladenden Schlußteil. Die große, abschlußartige Kadenz in der Unterquinte, auf den ersten Blick eine Kuriosität und für unaufmerksame Hörer Anlaß zu verfrühtem Applaus, erhält zusätzliche zyklische Logik, indem – als quasi umgekehrter Vorgang – die Durchführung des ersten Satzes in der Unterquinte beginnt und auch am Beginn des Kopfsatzes die Harmonik von der Tonika sofort dorthin strebt.

Das Scherzo ist 'Allegro comodo. (Nicht schneller als der erste Satz.)' bezeichnet (letzteres sicher auch aufgrund der thematischen Verwandtschaft) und als A-B-A-Form mit einer knappen Coda gebaut. Die A-Teile präsentieren den markanten Scherzo-Charakter und sind im Detail nicht identisch, jedoch von übereinstimmender Dauer. Als B-Teil erscheint ein hierzu gegensätzliches Trio von fließender, ja geradezu flüchtiger Art, 'un pocchettino più mosso' (ein klein wenig bewegter) zu spielen. In der Coda kehrt das Trio als kurze Reminiszenz, nunmehr 'L’istesso tempo' und in einem Ritenuto ermattend, wieder, um plötzlich von dem im Presto-Tempo dazwischenfahrenden Scherzo-Schlußwort weggefegt zu werden.

Das Allegretto marciale
der 2. Symphonie

Der zweite Satz ist zwar der relativ langsamste in der Zweiten Symphonie, aber eben (wie gelegentlich bei Beethoven, zumal in dessen Achter Symphonie) kein wirklich langsamer Satz: ein Allegretto marciale in d-moll, alla breve in gemessenen Vierteln pulsierend (die laut Partiturangabe 'nicht langsamer als M.M. 63' sein sollen), das durch die in punktierten Achteln schreitende Motivik und schmetternde Zweiunddreißigstel in den Zwischensätzen erhebliche Bewegtheit erhält. Der Draeseke-Spezialist Alan Krueck hat auf die Nähe zum Allegretto aus Beethovens Siebenter Symphonie verwiesen und auch auf Vorwegnahmen Mahlerscher Charakteristika in der militärischen Motivik und der Instrumentation. Tatsächlich weist Draesekes Instrumentation in manchem auf Mahler voraus, so auch in der erstaunlich konsequenten Anwendung von differenzierender Bezeichnung der dynamischen Grade in gleichzeitig erklingenden Stimmen (was seinerzeit noch völlig unüblich war, bei Wagner kaum, bei Liszt nur sporadisch, bei Bruckner in seltenen Fällen und bei Brahms gar nicht vorkommt). Das Allegretto marciale ist so außergewöhnlich und subtil aufgebaut, daß eine etwas eingehendere Betrachtung sich unbedingt empfiehlt.

Es handelt sich hier nicht um eine einfache, weitgehend symmetrische A-B-A-Form, da die das mit 'un pocchettino più largo' (ein klein wenig breiter) bezeichnete Trio (B) umrahmenden Marschabschnitte (A) ganz verschieden verlaufen. Gehen wir trotzdem der Übersichtlichkeit halber von einer A-B-A-Gliederung aus, so ist der einleitende Teil A in sich auch wieder eine A-B-A-Binnenform, indem als Kontrast das schmetternde Zweiunddreißigstel-Motiv in plötzlichem D-Dur fortissimo dazwischentritt.

Zu Beginn entsteht das erste Thema aus synkopischen Intervallfragmenten, und wenn diese Urelemente nach Wiedererreichen des d-moll zum Ende des ersten Teils wiederkehren, so führen sie diesmal nur zu Bruchstücken des Themas, und der Grundton d wird umgedeutet zur Terz des in B-Dur gehaltenen Trios. Auch das rhythmisch analoge zweite Thema des ersten Teils entsteht erst allmählich aus Vorformen, und noch ausgeprägter ist dieses Verfahren im Trio, wo das Thema überhaupt erst gefunden werden muß und erst beim intensiven dritten Auftritt in voller Länge ausschwingt, wonach die kurze Trio-Idylle recht abrupt in einem Trugschluß endet und der schwärmerische Legato-Fluß dem unerbittlichen Marschcharakter weicht.

Es folgt eine umfangreiche Durchführung, die in ihrem zweiten Abschnitt auch das 'Schmettermotiv' mit einbezieht. Wie schon im Trio geht die entscheidende Steigerung mit dichter Chromatik einher, hier motivisch durch die zwischen Geigen und Posaunen wechselnde Imitation des in der Durchführung neu etablierten Themakopfs verkörpert. Wie eine Geste der Überstürzung oder Verzweiflung mutet am daraus resultierenden Höhepunkt die einzige Triole des Satzes an, mit aller Kraft reißt die Entwicklung auf einem verminderten Septakkord ab, auf dem Grundton d setzt einzig der Rhythmus des 'Schmettermotivs' in der zweiten Trompete die Bewegung fort. Die hinzutretenden Akkorde muten wie eine Vorahnung des Beginns der 'Symphonia tragica' an. Wie der ostinate Rhythmus von der Trompete über die Pauke an die Bratschen übergeht und den Untergrund für die fast seufzerartige, durchbrochene Motivik der Holzbläser liefert, die Rückmodulation nach d-moll beschreibend, das ist eine klanglich einzigartige, revolutionär entworfene Szenerie. In veränderter Form gewinnt das 'Schmettermotiv' wie in einem letzten Aufbäumen noch einmal die Oberhand, dann geht der ganze Satz, wie vorhin schon der erste Teil, in Fragmentierung des Hauptthemas zu Ende, harmonisch ohne Dominante nur mit der Alternanz b-a spielend. Und war der Anfang der tiefen Quinte d-a der Celli und Bässe überlassen, so beschließt ihn ein ätherisches d-Flageolett der ersten Geigen.

Von höchster Subtilität und Sorgfalt ist Draesekes Dramaturgie unterschiedlicher Artikulationsformen vom spitzen punktierten Rhythmus und extremen Marcato des 'Schmettermotivs' über allerlei Kombinationen hin zum reinen Legato am Schluß des Trios. Am Höhepunkt begegnen sich legato, tenuto, staccato, tremolo und marcato auf engstem Raum. Der Rhythmus ist in diesem Satz vor den Ansätzen zur Melodiebildung da, und er bleibt auch am Ende übrig, wenn die Melodie erloschen ist. Das 'Allegretto marciale' hat nicht nur innerhalb der Zweiten Symphonie eine besondere Rolle inne, sondern steht überhaupt in der symphonischen Literatur einmalig da. Es widerlegt besser als alle Argumente manches tradierte Vorurteil gegen Draeseke.

Serenade D-Dur op. 49
für kleines Orchester

Das Jahr 1888, an dessen Beginn die Uraufführung der 'Symphonia tragica' unter Ernst von Schuch stand, sollte für Draeseke ein besonders ertragreiches werden. Am 23. März vollendete er sein letztes Klavierwerk, den Zyklus 'Scheidende Sonne'. Es folgten zwei substantielle symphonische Dichtungen, beide 'Symphonische Vorspiele' betitelt: ersteres über Calderons dramatisches Märchen 'Das Leben ein Traum' op. 45, dessen erste Skizzen 20 Jahre zurücklagen; das andere, unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Leidenschaftlichkeit, zu Heinrich von Kleists 'Penthesilea' op. 50. Daran schloß sich im Sommer das noble Quintett op. 48 in der ungewöhnlichen Besetzung für Klavier, Horn und Streichtrio an. Im November und Dezember 1888 schließlich entstand, auf Wunsch des Verlegers Kistner, die Serenade in D-Dur op. 49 für kleines Orchester (gesetzt für je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Hörner und Trompeten, Pauken und Streichorchester), ein heiter-liebliches, graziös-leichtgewichtiges, im Einzelnen raffiniert ausgearbeitetes Stück von einer knappen halben Stunde Dauer. Sie war lange Zeit Draesekes beliebteste und meistgespielte Komposition und erscheint aus heutiger Sicht im biedermeierlich anheimelnden Tonfall und der chromatisierenden Leitton-Ornamentik in der Melodieführung wohl etwas zeitgebundener als die Symphonien. Laut Roeders Biographie ist ihr dichterischer Inhalt nach einer Mitteilung Draesekes "Liebeswerbung mit anschließendem Hochzeitsfest".

Der einleitende Marsch ist ein leichtfüßiges Allegretto leggiero mit beschaulichem Trio, welches 'un pocchettino meno mosso' zu nehmen ist. Das 'Ständchen', ein zauberisches Andantino mit Cellosolo, steht in fis-moll und bereitet im sanften Siciliano-Rhythmus mit sentimenterfüllter Keuschheit den Boden für die 'Liebesscene', den zentralen und umfangreichsten Satz der Serenade. Diese, gleichfalls ein Siciliano im nunmehr langsameren Andante con espressione-Tempo, steht in A-Dur und ist mit symphonischer Meisterschaft struktureller Verknüpfung gearbeitet, ohne den serenandenhaften Gestus je aufzugeben. Atmosphärisch in der Nähe Berliozscher Idylle, geht Draesekes harmonisch ganz andere Wege. Besonders hervorzuheben ist die Rückleitung nach dem Höhepunkt, die das Scheiden der Liebenden in ihrer verzückten Zaghaftigkeit besonders plastisch darstellt. Es folgt die übermütige Polonaise (Allegretto con brio), die ob ihrer humorvoll-kapriziösen Figuren und harmonischen Purzelbäume leicht zu überhasteter Ausführung verleitet. Das Trio (Un poco meno mosso) hebt gemütvoll an und entfacht ein Minidrama. Nach der modifizierten Wiederholung der Polonaise kehrt das Trio augenzwinkernd zurück und beschließt den Satz in D-Dur. Das Finale (Prestissimo leggiero) ist, im kleinen Rahmen, symphonisch angelegt. Es steckt voll bizarrer harmonischer Wendungen, in welchen sich Draeseke von seiner schalkhaftesten Seite offenbart, und mündet in launigen Triumph aus. Das charmante Werk erklang nicht öffentlich am 21. Oktober und erstmals öffentlich am 8. November 1889 in Dresden unter Ernst von Schuch, wovon Draeseke berichtete: "Die Serenade hatte gestern hier eine prachtvolle Aufführung und besonders nach dem Finale einen glanzvollen Erfolg. Ich mußte 2mal hervortreten, obwohl ich lange hatte warten lassen. Schuch hatte sich riesige Mühe gegeben, und Lauterbach meinte, das sei ein Stück für ein Hofkonzert."

Christoph Schlüren

(Einführungstext zu cpo CD)