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Boris Blacher (1903-75)

Spielerisch, obsessionel

Violinkonzert op. 29 (1948) I Allegro moderato II Adagio/attacca: III Presto

Das Violinkonzert Boris Blachers, im Jahre 1948 komponiert und am 17. November 1950 von Tibor Varga und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Erich Schmid in München uraufgeführt, ist ein ausgesprochenes Virtuosenkonzert. Virtuosität wird dabei nicht nur vom Solisten verlangt, sondern auch vom Orchester. Blachers Tonsprache hat sich, vor allem durch Erfahrungen mit Strawinskij und der neueren französischen Musik, mit Jazz und Swing, zu diesem Zeitpunkt in jeder Hinsicht längst aus der deutschen Tradition gelöst. Leicht, schlank, überwiegend heiter ist der Satz. Die Harmonik ist von verspielt-freier Tonalität, sie bevorzugt Ostinati und einfache Binnenstrukturen, die durch überraschende Wendungen gruppiert werden, kurzweilig wirken. Die Melodik ist sehr einfach, faßt das Chromatische mehr spielerisch als verdichtend auf und spielt viel mit Wiederholungen und Sequenzen. Der Rhythmus ist von besonderer Bedeutung. Blacher steht hier kurz vor der Erfindung seiner "variablen Metren", die er erstmals 1950 in den 'Ornamenten' für Klavier vorstellen sollte. Rhythmischer Pfiff und Witz, zudem eine generelle Freude am Motorischen, kennzeichneten Blachers Werke schon seit langem, so auch in erfolgreichen Orchesterstücken wie der "Konzertanten Musik" und, in fulminanter Manier, den ein Jahr vor dem Violinkonzert komponierten 'Paganini-Variationen'. 1947 entstand auch das erste Klavierkonzert, das den Blacherschen Konzerttypus etablierte: Das Soloinstrument steht, von der sparsamen und durchsichtigen Orchestration begünstigt, immer im Vordergrund, auch wenn es oft ausuferndes Figurenwerk vorträgt, während den (großteils solistischen) Begleitern gerne motivische Substanz überantwortet ist. Die Ecksätze sind spielfreudig, schnell und lieben drastische Wechsel, während der langsame Mittelsatz versonnenen, kantablen Charakter hat. Nach diesen Maßgaben ist auch das darauffolgende Violinkonzert angelegt.

Der erste Satz trägt zwar die Vorschrift 'Allegro moderato', doch die Metronomisierung (Viertel = 132) ergibt ein Presto. Ohne Modifikation jagt die Geige in Sechzehntelnoten los, 'feroce' (wild), von gleichförmiger Besessenheit, bis sie den gesanglichen Gegenabschnitt erreicht ('espressivo molto'), wo das Dialogische mehr hervortritt. Mit der Rückkehr ins hastige Anfangstempo wird es sehr strawinskianisch, divertimentoartig frech.

 

Da überkommt den Solisten wieder die Sechzehntel-Obsession, mit der er in der Solokadenz allein übrigbleibt. Er beruhigt sich und exponiert mit dem Hinzukommen der Begleitung das gesangliche Thema in der Umkehrung, spinnt die intervallische Substanz fort. Wieder überfällt ihn Rastlosigkeit. Dann herrscht launiger Gedankenaustausch mit dem Orchester. Die Reprise des 'Espressivo molto'-Abschnitts zielt auf eine knappe Codetta.

Das 'Adagio' ist in A-B-A-Form konzipiert: 'Adagio' (Achtel = 58) — 'Poco più' (Achtel = 66) — 'Tempo primo'. Es ist ein Monolog der Solovioline mit verhaltenen Kommentaren, Einwänden anderer Instrumente, insgesamt sehr zurückhaltend begleitet. Kontinuierliche Sechzehntel-Triolen des Solisten durchranken den bewegteren Mittelteil. Am Ende kreieren die aufsteigenden Figuren des Solisten eine Erwartung, die mit dem attacca folgenden 'Presto'-Finale (punktierte Viertel = 83) überraschend munter eingelöst wird.

Der Schlußsatz ist extrem schnell und dabei von kapriziöser rhythmischer Widersprüchlichkeit: Das Grundmetrum changiert unentwegt zwischen 6/8- und 3/4-Takt. Als formbildender Kontrast tritt dem, nach einer beinahe walzernden leichten Entspannung, das unerbittlich vorantreibende 7/8-Metrum entgegen (Solist 'martellato', in ununterbrochener Achtelbewegung). Das Grundmetrum kehrt wieder, steigert sich kurz zum vehementen Fortissimo, wird dann wieder verspielter. Nochmal tritt der 7/8-Takt ein: Das druckvolle Achtelspiel des Solisten mündet in einen Alleingang. Über eine Serie von Taktwechseln leitet er die Coda ein. Das neue 2/4-Metrum beherrscht den vorandrängenden Schlußteil, der in synkopischer Bewegung gipfelt.

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Berliner Festwochen 1997)