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Béla Bartók Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936)

Emphase der Nüchternheit

Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta entstand 1936 als Auftragswerk des Basler Kammerorchesters und wurde am 21. Januar 1937 in Basel unter Paul Sacher uraufgeführt. Vom Folgetag stammt die hellsichtige Rezension Harry Goldschmidts in der Basler Nationalzeitung, der ausführte: "Das neue Werk des ungarischen Meisters, dem die zeitgenössische Musik neben Schönberg und Strawinsky vielleicht die entscheidendsten Impulse verdankt, zeigt ihn auf der Höhe seines Schaffens; den Bedürfnissen des Kammerorchesters entsprechend ist es für Saiteninstrumente geschrieben, was ihn von einer faszinierend abgewogenen Verwendung von Schlagzeugen nicht abgehalten hat. Die Streicher sind in zwei Orchesterkörper aufgeteilt; als dritte Klanggruppe steht ihnen Klavier, metallisch timbriert durch Celesta und Harfe, gegenüber. Die souverän ausgereifte, alle Probleme der Atonalität weit hinter sich zurücklassende Schreibweise Bartóks beweist, daß man nicht unbedingt zur Aufstellung eines neuen Kompositions-'Systems' gelangen muß, um sich von den alten Banden zu lösen."

Bis heute hat diese Komposition nichts von ihrer ursprünglichen Brisanz verloren, indem Bartók die zugrundegelegten konstruktiven Prinzipien der einzelnen Sätze mit hellwachem, vitalem Geist durchführte, stets die Wirkung des Satzganzen im Sinne und in keinem Moment ein Sklave trockener Detailarbeit. Die vier Sätze sind von äußerst verschiedenartiger Physiognomie. Dabei ist gerade der erste Satz, Tempo Andante tranquillo, in seiner erlebbaren Gesamtgestalt ein Wunderwerk architektonischer Unbeirrbarkeit, Bartók zufolge eine "nach gewissen Prinzipien ziemlich streng durchgeführte Fugenart". Metrisch bleibt es, bei ständig wechselnden Taktarten, die ganze Zeit über in der Schwebe, was den fließenden Übergängen zwischen entschieden verlaufender Vielstimmigkeit und gelegentlicher Legierung der einzelnen Stimmen zu gebündelter klanglicher Kraft ein zusätzliches suggestiv-magisches Moment verleiht. Ausgangs- und Endpunkt des Satzes ist das tonale Zentrum a, der Höhepunkt ist auf das maximal entfernte, auf der anderen Seite des Quintenzirkels gelegene es zentriert, das Schritt für Schritt, Quinte um Quinte in beiden Richtungen erreicht und wieder verlassen wird, indem alle geradzahligen Themeneinsätze quintaufwärts, alle ungeradzahligen quintabwärts führen. Das Thema selbst gliedert sich in vier melodisch engmaschige Phrasen, die bis zum fünften Einsatz — also der den Satz konstituierenden Fünfstimmigkeit — exakt imitiert werden und erst später in Verkürzung, Engführung oder Umkehrung auftreten. Der harmonischen Symmetrie entspricht die dynamische: Aus anfänglichem Pianissimo wächst es an zu äußerstem Fortissimo, um in extremem Pianissimo zu schließen. Dabei ist der Schlußabschnitt, der durch die gleichförmigen Figurenschleier der Celesta einen enigmatisch stillstehenden Zug erhält, durchwoben vom gleichzeitigen Auftreten des Themas und seiner Umkehrung. In den letzten drei Takten wird die Gegenbewegung aufs Radikalste vereinfacht, beschwört noch einmal in symbolhafter Verkürzung den harmonischen Werdegang des ganzen Satzes.

Den in C stehenden zweiten Satz, Tempo Allegro, bezeichnete Bartók als "Sonatenform (Seitensatz in G). In der Durchführung erscheint auch das Thema des ersten Satzes in veränderter Gestalt, ferner eine Anspielung auf das Hauptthema des vierten Satzes. Die Wiederkehr ändert den 2/4-Rhythmus der Exposition in einen 3/8-Rhythmus." Auch dieser Satz ist motivisch mit höchster Disziplin gearbeitet, gewinnt aber den wenigen, einfachen Bausteinen ein Maximum an Vielgestaltigkeit ab, wendet die seinerzeit verwegenen Pizzicato-Techniken in elaboriert musikantischer Weise an. Wie stets ist bei Bartók kein technisches Mittel sinnleerer Selbstzweck. Alles ist Essenz, nichts überflüssige Dekoration.

 

War der erste Satz harmonisch spiegelförmig angelegt, so ist es der dritte Satz, Tempo Adagio, in der motivischen Beziehung der Teile zueinander. Diese 'Brückenform' hatte zuvor ganze Werke wie das vierte und fünfte Streichquartett oder das zweite Klavierkonzert geprägt: "A-B-C-B-A. Zwischen den einzelnen Abschnitten erscheint je ein Abschnitt des Themas des ersten Satzes." Gleich einem Ritual steht am Anfang und Ende die naturhafte rhythmische Beschleunigung und Verlangsamung des Xylophons. Die Melodik der Rahmenabschnitte (A) hat etwas improvisatorisch-Träumerisches mit überwiegender rhythmischer Artikulation kurz-lang. In den Zwischenabschnitten (B) wird die chromatische Melodie, die bei der Wiederkehr im Kanon erscheint, mit kühl schillernder, auratischer Instrumentation umsponnen. Der Mittelteil (C) mündet über eine Steigerung in der perkussiv figurierenden Grenzzone zur Atonalität am Höhepunkt in ein Fünftonmotiv von gespenstischer Wandelbarkeit: das Zentrum des Satzes, direkt und faßlich, wie alle Ausbrüche bei Bartók eine Emphase der Nüchternheit, unprätentiös herauskristallisierte Folge der dem Satz innewohnenden, einander widersprechenden Energien.

Der vierte Satz, Tempo Allegro molto, ist eine Reihungsform, die scharf kontrastierende Episoden miteinander verschränkt. Das Hauptthema hat bulgarisches Profil. In einem Presto strepitoso wird das Tempo ad absurdum geführt, und als eine weitere Temposteigerung nicht mehr möglich ist, kommt Molto moderato das Hauptthema des ersten Satzes wieder, "aber in einer aus der ursprünglichen chromatischen ins Diatonische ausgedehnten Form". Allmählich gewinnt Chromatik in veränderter Form (als Clusterparallelen) wieder die Oberhand. Die Coda bringt das bulgarische Thema zurück und endet in reinem A-Dur.

Bei Bartók sind existentielle Bedrohtheit und überschäumende Vitalität unauflöslich verknüpft. Kein anderer Komponist hat so permanent die unüberbrückbare Kluft zwischen musikantischer Unmittelbarkeit und intellektueller Systematik überbrückt, das unerbittlich Strukturierte mit der Aura des Spontanen zu umgeben. Die Musik für Saiteninstrumente ist eine unerhörte Zusammenschau unterschiedlichster technischer Aspekte unter dem einenden Dach unausweichlicher musikalischer Notwendigkeit, bei aller Innovationskraft in keinem Moment äußerlich motiviertes Experiment.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Salzburger Festspiele 1997]