"Hier wird die
Lage immer unerträglicher. Man kann nichts, aber auch gar nichts
hören. Sie haben zwar keine Oper, doch haben Sie wenigstens
einige gute Konzerte, Sie können von Zeit zu Zeit sogar die
Musik von Schönberg hören, während man hier absolut
gar nichts hat. Da es mir nicht möglich ist, meine folkloristischen
Arbeiten, die mich bisher an Ungarn gebunden haben, fortzusetzen,
hat es wirklich keinen Sinn, wenn ich hier bleibe. Wissen Sie, was
wir dieses Jahr an neuer Orchestermusik in Budapest hören werden:
eine Oper von Dohnányi und die 'Brunnen von Rom' von Respighi.
Nichts anderes! Das heißt, auch ein Werk von mir: meine 4
Stücke für Orchester (op. 12), deren Partitur ich endlich
fertigstellen konnte. Ich habe aber eine Vorahnung, daß die
Aufführung gar nicht zufriedenstellend sein wird, da das Orchester
mittelmäßig und die für die Proben zur Verfügung
stehende Zeit noch kürzer ist als im vorigen Jahr." Diese
Zeilen schrieb Béla Bartók am 15. Oktober 1921 nach
London an Cecil Gray. Die Uraufführung der Vier Orchesterstücke
fand am 9. Jänner 1922 durch das Philharmonische Orchester
Budapest unter Ernö von Dohnányi statt. Welchen Eindruck
sie auf Bartók machte, ist nicht belegt.
Eigentlich hatte Bartók die vier Sätze bereits 1912,
nach Abschluß seines Einakters 'Herzog Blaubarts Burg' op.
11, geschrieben, jedoch nur als Klavierfassung. Instrumentiert hat
er sie erst neun Jahre später, von August bis Oktober 1921.
Dazwischen entstanden also so entscheidende Werke wie das Tanzspiel
'Der holzgeschnitzte Prinz' op. 13 (1916/17), das 2. Streichquartett
op. 17 (1917) und die erste Fassung der Pantomime 'Der wunderbare
Mandarin' op. 19 (1917-19, orchestriert 1923). Man hat das lange
Zögern mit der schlechten Qualität der ungarischen Orchester
zu erklären versucht. Verständlich wird dies aus Bartóks
zwischen 1918 und 1920 skizzierter 'Selbstbiographie', wo er ausführt:
"Meine von op. 4 an geschriebenen Werke (
) erweckten
in Budapest selbstverständlich großen Widerspruch. Grund
des Nichtverstehens war unter anderem auch, daß unsere neuen
Orchesterwerke fast durchwegs nur in ziemlich unvollkommener Weise
zur Aufführung gelangten; denn es war weder ein verständnisvoller
Dirigent noch ein geeignetes Konzertorchester vorhanden. Als sich
der Kampf besonders zuspitzte, versuchten 1911 einige junge Musiker,
in deren Reihen auch Kodály und ich uns befanden, eine 'Neue
Ungarische Musikgesellschaft' zu gründen. Der eigentliche Zweck
dieser Unternehmung war die Organisation eines selbständigen
Konzertorchesters, welches sowohl ältere als auch neuere und
neueste Musik in anständiger Weise aufführen sollte. Alle
Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen, blieben indessen fruchtlos.
Diesen und verschiedenen anderen mißglückten persönlicheren
Versuchen zufolge zog ich mich etwa im Jahre 1912 vom öffentlichen
Musikleben gänzlich zurück, wandte mich aber umso eifriger
den Musikfolklore-Studien zu." Was Bartók vom Niveau
der ungarischen Musik hielt, geht ferner aus einem Brief vom 24.
November 1920 an den englischen Komponisten Philip Heseltine alias
Peter Warlock hervor, der folgendermaßen schließt: "Außer
Kodály und Lajtha haben wir keinen Komponisten von Rang."
Fast alle Kommentatoren bezeichneten die Vier Orchesterstücke
als ein Werk des Übergangs, was sich sowohl konkret mit dem
musikalischen Inhalt belegen läßt als auch durch die
lange Verschleppung der Orchestration unterstrichen wird. Der Titel
bezieht sich offenkundig auf die entsprechend betitelten Werke von
Arnold Schönberg (Fünf Orchesterstücke op. 16, entstanden
1909) und Anton von Webern (Sechs Stücke für Orchester
op. 6, vollendet 1910 in der ersten Fassung), zumal Bartók
erst kurz zuvor erstmals Musik von Schönberg kennengelernt
hatte. Natürlich hat es nicht an Einordnungsversuchen gefehlt,
und die Frage, ob es sich eher um eine Suite oder um eine Symphonie
handelte, ist gestellt worden.
Der Übergangscharakter, der das Werk stilistisch nicht eine
so eindeutige Position beziehen läßt wie die umgebenden
großen Kompositionen, hat sicher auf die Verbreitung dämpfend
eingewirkt. Jedoch ist es völlig unverständlich, wenn
sogar Kenner von Bartóks Schaffen geringschätzig über
das Opus 12 urteilen und der tüchtige Biograph Everett Helm
über "die unbedeutenden, in der Bartókschen Entwicklung
abwegig wirkenden impressionistischen Vier Orchesterstücke"
abfällig hinweggeht. Welch ein Fehlurteil! Im Gegenteil, dieses
Werk ist ein ganz und gar entwicklungsspezifisches. So taucht im
ersten Satz, dem 'Preludio', welches sich in der Atmosphäre
eindeutig auf das 'In voller Blüte' betitelte erste der 1910
komponierten 'Deux Images' für Orchester op. 10 bezieht, mit
einem Mal die Figur der Judith aus "Herzog Blaubarts Burg"
auf ("Ich verließ meinen Vater, meine Mutter
")
und aus demselben Werk klingt der 'See der Tränen' an. Im zentralen
zweiten Satz, dem dämonischen Scherzo, hingegen sind Antizipationenvon
'Der holzgeschnitzte Prinz' (Tanz des Waldes) und auch 'Der wunderbare
Mandarin' (Großstadtlärm) unüberhörbar. Und
betrachtet man den dritten Satz, das Intermezzo mit seinem Siciliano-Metrum,
als Einschub (wie der Titel es besagt), so kann man in den drei
anderen Sätzen auch aufgrund der thematischen Verwandtschaft
der Ecksätze (dies ein organisch verbindender, mithin symphonischer
Zug des Ganzen) jene Langsam-schnell-langsam-Struktur erkennen,
die für das Zweite Streichquartett signifikant sein wird (zugleich
ist das erste Satzpaar in der Folge langsam-schnell ein Nachfahre
der 'Deux Portraits' und der 'Deux Images').
Der langsame, zum Verstummen tendierende Schluß der
Komposition findet viele Parallelen in den umgebenden Werken, so
in 'Herzog Blaubarts Burg' (Nacht), 'Der wunderbare Mandarin' (Tod
des Mandarin), Klavier-Suite op. 14 und Zweites Streichquartett.
Der Schlußsatz ist zwar als 'Marcia funebre' (Trauermarsch)
bezeichnet, doch scheint das Marschartige allenfalls hintergründig
durch die trostlose Stimmung hindurch.
Die Vier Orchesterstücke sind wie so oft bei Bartók
im Grundcharakter eine Manifestation von nüchterner
Verzweiflung und existentieller Introversion. Der einzige Satz,
der offen gegen die Introversion aufbegehrt, jedoch fern jeglicher
Unbeschwertheit, ist das Scherzo mit seinen verwegenen, wilden Intervallsprüngen,
mit seinen schroffen Dissonanzen, seiner in Tritonus-, Quart-, großer
Septim- und kleiner Non-Spannung knirschenden Harmonik. In diesem
Satz ist auch am offensichtlichsten, welche Vorteile für eine
das expressive Potential auslotende, funktionell den spezifisch
erforderlichen Klang erschließende Orchestration deren späte
Fertigstellung mit sich brachte Bartók hatte hier
ja bereits die Erfahrungen mit seinen später komponierten Bühnenwerken
'Der holzgeschnitzte Prinz' und (auf halbem Wege) 'Der wunderbare
Mandarin' gemacht und sich von der impressionistischeren Haltung
seiner früheren Orchesterwerke gelöst. Das Scherzo ist
als einziger schneller Satz im übrigen auch formal der anspruchsvollste
Satz, und das darin entfaltete Drama kontrastierender Episoden (bis
hin zur Walzergroteske, die auf den 'Ein Zerrbild' bezeichneten
2. Satz aus den 'Deux Portraits' op. 5 zurückweist) kann dazu
verführen,"die Umrisse einer frei entfalteten Sonatenform"
zu entdecken (János Kárpáti). György Kroó
hat diesen treffend charakterisiert als "ein 'Sammelbecken'
der charakteristischen Elemente des Mandarin", welches die
Gemeinsamkeiten des 'Holzgeschnitzten Prinzen' und des 'Wunderbaren
Mandarin' unterstreiche: "Was im Tanzspiel zum furchterregenden
Märchenwald gehört, der dem Prinzen im Wege steht, ihn
auf die Probe stellt und sich nicht erforschen läßt,
das erscheint im Mandarin als der Lärm der Großstadt,
als Klangsymbol für die mörderische Außenwelt. Beide
symbolisieren gleichsam den Feind, der unseren Wünschen ewig
im Wege steht [welche Parallele zu Bartóks eigener Lebenssituation!]
und die Entfaltung unseres Ichs verhindert. Das Scherzo verkörpert
diesen Doppelaspekt von Wald und Großstadt und weist in die
Zukunft: einmal auf das Tanzspiel, ein andermal auf die Pantomime."
Das darauffolgende Intermezzo mag zwar zunächst wie eine leicht
wehmütige Auflockerung der den übrigen Sätzen überwiegend
eigenen düsteren Grundstimmung scheinen, doch kann auch dieser
Satz sich nicht aus der depressiven, bedrohlichen Umklammerung lösen.
Der immer wiederkehrende absteigende Molldreiklang mit anschließendem
Kleinterzfall wirkt wie ein Symbol des Unüberwindlichen, in
welchem das Geschehen schließlich auch zum Stillstand kommt.
Der den vier Sätzen zugrunde gelegte harmonische Plan signalisiert
zugleich tonale Gespaltenheit und Bindung in abstrahierter Form.
Die beiden Satzpaare stehen jeweils im harmonisch entfernsten Verhältnis,
demjenigen des Tritonus, zueinander (E-B bzw. G-Cis). Zusammen bilden
diese Intervalle die exakte Vierteilung des Oktavraums aus, in der
Harmonielehre bekannt als verminderter Septakkord, also jener Vierklang,
der in Ermangelung eines tonalen Zentrums wie jede
äquidistante Aufteilung des Tonraums instabil und vieldeutig,
zugleich symmetrisch und anti-hierarchisch ist.
Die Vier Orchesterstücke bilden eine Brücke vom frühen
zum reifen Bartók, eine Brücke der fast schon anarchischen
Begegnungen und Wechselspiele von Vergangenheit und Zukunft, formal
imponierend gebändigt wie eigentlich alles aus seiner Feder.
In ihnen kommt jene Eigenschaft zum krassen Ausdruck, die gerade
die selbsterklärten "Fortschrittlichen", die nach
ihm kamen, irritierte: Bartók ließ sich nie eindeutig
kategorisieren, weniger als irgendein anderer ganz Großer
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er folgte seinem eigenen
Gewissen, war zweifellos unbestechlich und daher auch nicht strategisch
nutzbar, was Wolfgang Fortner 1963 zu der decouvrierenden Äußerung
gereichte: "Sein Werk hat seinen geschichtlichen Platz; zu
brennenden Fragen der Musik der Gegenwart spricht Bartók
nicht mehr; seine Musik ist nicht mehr 'musica viva'." Glücklicherweise
verläuft die Geschichte nicht so, wie manche es gerne hätten.
der englische Komponist John Foulds traf 1934 in seinem hochoriginellen,
mit der Opuszahl 92 versehenen Buch 'Music To-day, Its Heritage
from the Past, and legacy to the Future' die Sache knapp auf den
Punkt: "In vielen Fällen gehört ein Komponist eigentlich
in mehrere Kategorien
Béla Bartók zum Beispiel
kann ebenso als 'Nationalist' wie als 'Neoklassizist', 'Neoromantiker'
oder 'Anti-Romantiker' angesehen werden."
Christoph Schlüren
[Einführungstext für Salzburger
Festspiele 2001]
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