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Béla Bartók (1881-1945)
Vier Stücke für Orchester op. 12

Wechselspiele von Vergangenheit und Zukunft

(1912/orchestr. 1921)I Preludio (Moderato) II Scherzo (Allegro)
III Intermezzo (Moderato) IV Marcia funebre (Maestoso)

"Hier wird die Lage immer unerträglicher. Man kann nichts, aber auch gar nichts hören. Sie haben zwar keine Oper, doch haben Sie wenigstens einige gute Konzerte, Sie können von Zeit zu Zeit sogar die Musik von Schönberg hören, während man hier absolut gar nichts hat. Da es mir nicht möglich ist, meine folkloristischen Arbeiten, die mich bisher an Ungarn gebunden haben, fortzusetzen, hat es wirklich keinen Sinn, wenn ich hier bleibe. Wissen Sie, was wir dieses Jahr an neuer Orchestermusik in Budapest hören werden: eine Oper von Dohnányi und die 'Brunnen von Rom' von Respighi. Nichts anderes! Das heißt, auch ein Werk von mir: meine 4 Stücke für Orchester (op. 12), deren Partitur ich endlich fertigstellen konnte. Ich habe aber eine Vorahnung, daß die Aufführung gar nicht zufriedenstellend sein wird, da das Orchester mittelmäßig und die für die Proben zur Verfügung stehende Zeit noch kürzer ist als im vorigen Jahr." Diese Zeilen schrieb Béla Bartók am 15. Oktober 1921 nach London an Cecil Gray. Die Uraufführung der Vier Orchesterstücke fand am 9. Jänner 1922 durch das Philharmonische Orchester Budapest unter Ernö von Dohnányi statt. Welchen Eindruck sie auf Bartók machte, ist nicht belegt.
Eigentlich hatte Bartók die vier Sätze bereits 1912, nach Abschluß seines Einakters 'Herzog Blaubarts Burg' op. 11, geschrieben, jedoch nur als Klavierfassung. Instrumentiert hat er sie erst neun Jahre später, von August bis Oktober 1921. Dazwischen entstanden also so entscheidende Werke wie das Tanzspiel 'Der holzgeschnitzte Prinz' op. 13 (1916/17), das 2. Streichquartett op. 17 (1917) und die erste Fassung der Pantomime 'Der wunderbare Mandarin' op. 19 (1917-19, orchestriert 1923). Man hat das lange Zögern mit der schlechten Qualität der ungarischen Orchester zu erklären versucht. Verständlich wird dies aus Bartóks zwischen 1918 und 1920 skizzierter 'Selbstbiographie', wo er ausführt: "Meine von op. 4 an geschriebenen Werke (…) erweckten in Budapest selbstverständlich großen Widerspruch. Grund des Nichtverstehens war unter anderem auch, daß unsere neuen Orchesterwerke fast durchwegs nur in ziemlich unvollkommener Weise zur Aufführung gelangten; denn es war weder ein verständnisvoller Dirigent noch ein geeignetes Konzertorchester vorhanden. Als sich der Kampf besonders zuspitzte, versuchten 1911 einige junge Musiker, in deren Reihen auch Kodály und ich uns befanden, eine 'Neue Ungarische Musikgesellschaft' zu gründen. Der eigentliche Zweck dieser Unternehmung war die Organisation eines selbständigen Konzertorchesters, welches sowohl ältere als auch neuere und neueste Musik in anständiger Weise aufführen sollte. Alle Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen, blieben indessen fruchtlos. Diesen und verschiedenen anderen mißglückten persönlicheren Versuchen zufolge zog ich mich etwa im Jahre 1912 vom öffentlichen Musikleben gänzlich zurück, wandte mich aber umso eifriger den Musikfolklore-Studien zu." Was Bartók vom Niveau der ungarischen Musik hielt, geht ferner aus einem Brief vom 24. November 1920 an den englischen Komponisten Philip Heseltine alias Peter Warlock hervor, der folgendermaßen schließt: "Außer Kodály und Lajtha haben wir keinen Komponisten von Rang."
Fast alle Kommentatoren bezeichneten die Vier Orchesterstücke als ein Werk des Übergangs, was sich sowohl konkret mit dem musikalischen Inhalt belegen läßt als auch durch die lange Verschleppung der Orchestration unterstrichen wird. Der Titel bezieht sich offenkundig auf die entsprechend betitelten Werke von Arnold Schönberg (Fünf Orchesterstücke op. 16, entstanden 1909) und Anton von Webern (Sechs Stücke für Orchester op. 6, vollendet 1910 in der ersten Fassung), zumal Bartók erst kurz zuvor erstmals Musik von Schönberg kennengelernt hatte. Natürlich hat es nicht an Einordnungsversuchen gefehlt, und die Frage, ob es sich eher um eine Suite oder um eine Symphonie handelte, ist gestellt worden.
Der Übergangscharakter, der das Werk stilistisch nicht eine so eindeutige Position beziehen läßt wie die umgebenden großen Kompositionen, hat sicher auf die Verbreitung dämpfend eingewirkt. Jedoch ist es völlig unverständlich, wenn sogar Kenner von Bartóks Schaffen geringschätzig über das Opus 12 urteilen und der tüchtige Biograph Everett Helm über "die unbedeutenden, in der Bartókschen Entwicklung abwegig wirkenden impressionistischen Vier Orchesterstücke" abfällig hinweggeht. Welch ein Fehlurteil! Im Gegenteil, dieses Werk ist ein ganz und gar entwicklungsspezifisches. So taucht im ersten Satz, dem 'Preludio', welches sich in der Atmosphäre eindeutig auf das 'In voller Blüte' betitelte erste der 1910 komponierten 'Deux Images' für Orchester op. 10 bezieht, mit einem Mal die Figur der Judith aus "Herzog Blaubarts Burg" auf ("Ich verließ meinen Vater, meine Mutter…") und aus demselben Werk klingt der 'See der Tränen' an. Im zentralen zweiten Satz, dem dämonischen Scherzo, hingegen sind Antizipationenvon 'Der holzgeschnitzte Prinz' (Tanz des Waldes) und auch 'Der wunderbare Mandarin' (Großstadtlärm) unüberhörbar. Und betrachtet man den dritten Satz, das Intermezzo mit seinem Siciliano-Metrum, als Einschub (wie der Titel es besagt), so kann man in den drei anderen Sätzen – auch aufgrund der thematischen Verwandtschaft der Ecksätze (dies ein organisch verbindender, mithin symphonischer Zug des Ganzen) – jene Langsam-schnell-langsam-Struktur erkennen, die für das Zweite Streichquartett signifikant sein wird (zugleich ist das erste Satzpaar in der Folge langsam-schnell ein Nachfahre der 'Deux Portraits' und der 'Deux Images').

Der langsame, zum Verstummen tendierende Schluß der Komposition findet viele Parallelen in den umgebenden Werken, so in 'Herzog Blaubarts Burg' (Nacht), 'Der wunderbare Mandarin' (Tod des Mandarin), Klavier-Suite op. 14 und Zweites Streichquartett. Der Schlußsatz ist zwar als 'Marcia funebre' (Trauermarsch) bezeichnet, doch scheint das Marschartige allenfalls hintergründig durch die trostlose Stimmung hindurch.
Die Vier Orchesterstücke sind – wie so oft bei Bartók – im Grundcharakter eine Manifestation von nüchterner Verzweiflung und existentieller Introversion. Der einzige Satz, der offen gegen die Introversion aufbegehrt, jedoch fern jeglicher Unbeschwertheit, ist das Scherzo mit seinen verwegenen, wilden Intervallsprüngen, mit seinen schroffen Dissonanzen, seiner in Tritonus-, Quart-, großer Septim- und kleiner Non-Spannung knirschenden Harmonik. In diesem Satz ist auch am offensichtlichsten, welche Vorteile für eine das expressive Potential auslotende, funktionell den spezifisch erforderlichen Klang erschließende Orchestration deren späte Fertigstellung mit sich brachte – Bartók hatte hier ja bereits die Erfahrungen mit seinen später komponierten Bühnenwerken 'Der holzgeschnitzte Prinz' und (auf halbem Wege) 'Der wunderbare Mandarin' gemacht und sich von der impressionistischeren Haltung seiner früheren Orchesterwerke gelöst. Das Scherzo ist als einziger schneller Satz im übrigen auch formal der anspruchsvollste Satz, und das darin entfaltete Drama kontrastierender Episoden (bis hin zur Walzergroteske, die auf den 'Ein Zerrbild' bezeichneten 2. Satz aus den 'Deux Portraits' op. 5 zurückweist) kann dazu verführen,"die Umrisse einer frei entfalteten Sonatenform" zu entdecken (János Kárpáti). György Kroó hat diesen treffend charakterisiert als "ein 'Sammelbecken' der charakteristischen Elemente des Mandarin", welches die Gemeinsamkeiten des 'Holzgeschnitzten Prinzen' und des 'Wunderbaren Mandarin' unterstreiche: "Was im Tanzspiel zum furchterregenden Märchenwald gehört, der dem Prinzen im Wege steht, ihn auf die Probe stellt und sich nicht erforschen läßt, das erscheint im Mandarin als der Lärm der Großstadt, als Klangsymbol für die mörderische Außenwelt. Beide symbolisieren gleichsam den Feind, der unseren Wünschen ewig im Wege steht [welche Parallele zu Bartóks eigener Lebenssituation!] und die Entfaltung unseres Ichs verhindert. Das Scherzo verkörpert diesen Doppelaspekt von Wald und Großstadt und weist in die Zukunft: einmal auf das Tanzspiel, ein andermal auf die Pantomime." Das darauffolgende Intermezzo mag zwar zunächst wie eine leicht wehmütige Auflockerung der den übrigen Sätzen überwiegend eigenen düsteren Grundstimmung scheinen, doch kann auch dieser Satz sich nicht aus der depressiven, bedrohlichen Umklammerung lösen. Der immer wiederkehrende absteigende Molldreiklang mit anschließendem Kleinterzfall wirkt wie ein Symbol des Unüberwindlichen, in welchem das Geschehen schließlich auch zum Stillstand kommt. Der den vier Sätzen zugrunde gelegte harmonische Plan signalisiert zugleich tonale Gespaltenheit und Bindung in abstrahierter Form. Die beiden Satzpaare stehen jeweils im harmonisch entfernsten Verhältnis, demjenigen des Tritonus, zueinander (E-B bzw. G-Cis). Zusammen bilden diese Intervalle die exakte Vierteilung des Oktavraums aus, in der Harmonielehre bekannt als verminderter Septakkord, also jener Vierklang, der – in Ermangelung eines tonalen Zentrums – wie jede äquidistante Aufteilung des Tonraums instabil und vieldeutig, zugleich symmetrisch und anti-hierarchisch ist.
Die Vier Orchesterstücke bilden eine Brücke vom frühen zum reifen Bartók, eine Brücke der fast schon anarchischen Begegnungen und Wechselspiele von Vergangenheit und Zukunft, formal imponierend gebändigt wie eigentlich alles aus seiner Feder. In ihnen kommt jene Eigenschaft zum krassen Ausdruck, die gerade die selbsterklärten "Fortschrittlichen", die nach ihm kamen, irritierte: Bartók ließ sich nie eindeutig kategorisieren, weniger als irgendein anderer ganz Großer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er folgte seinem eigenen Gewissen, war zweifellos unbestechlich und daher auch nicht strategisch nutzbar, was Wolfgang Fortner 1963 zu der decouvrierenden Äußerung gereichte: "Sein Werk hat seinen geschichtlichen Platz; zu brennenden Fragen der Musik der Gegenwart spricht Bartók nicht mehr; seine Musik ist nicht mehr 'musica viva'." Glücklicherweise verläuft die Geschichte nicht so, wie manche es gerne hätten. der englische Komponist John Foulds traf 1934 in seinem hochoriginellen, mit der Opuszahl 92 versehenen Buch 'Music To-day, Its Heritage from the Past, and legacy to the Future' die Sache knapp auf den Punkt: "In vielen Fällen gehört ein Komponist eigentlich in mehrere Kategorien… Béla Bartók zum Beispiel kann ebenso als 'Nationalist' wie als 'Neoklassizist', 'Neoromantiker' oder 'Anti-Romantiker' angesehen werden."

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Salzburger Festspiele 2001]