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British Composers

"Things in music we have never before heard"

Wie oft haben wir es aus den englischen Musikmedien gehört: ein "neuer Britten" steht uns ins Haus, oder zumindest wird ein solcher in einem aufstrebenden Talent vermutet. Gesucht wird er allemal. Denn, so scheint es, wirklich große Komponisten sind auf der Insel eine Rarität nach den glücklichen Zeiten der Renaissance und dem frühen Hinscheiden Henry Purcells. Als dominierende Kolonialnation verlor Britannien, wie auch Holland und Spanien, seine Führungsrolle als Musikland restlos. Das Vereinigte Königreich lebte vom Import, sei es nun Händel, Haydn oder Mendelssohn. Doch die Rettung vor völliger Überfremdung schien greifbar zu werden mit den Exponenten der sogenannten "English Musical Renaissance: Charles Hubert Parry, Charles Villiers Stanford und – endlich – Edward Elgar. Das Land fand eine neue musikalische Identität, seine eigenen neuen Klassiker, wenn auch auf nicht allzu eigenständigen Füßen. Was darauf aufbaute, schien als Mainstream in der nun aufkeimenden Vielfalt schon überzeugender: Ralph Vaughan Williams, Frederick Delius, Gustav Holst, Granville Bantock, John Ireland, Frank Bridge, Arnold Bax, Arthur Bliss, William Walton, Lennox Berkeley, Constant Lambert, Michael Tippett, Benjamin Britten. Nicht alle dieser Hoffnungsträger waren imstande, ihren Lorbeerkranz frisch zu halten. Wo erklingen heute schon noch die nostalgisch opulenten Tongemälde Bantocks? Welchen Stellenwert haben die vor allem in knappen Formen überzeugenden Werke von Brittens Freund Lennox Berkeley? Selbst Constant Lambert, Schöpfer des Jazz-inspirierten, gewitzt populären "Rio grande", sozusagen der "englische Gershwin", ist in der Requisitenkiste der geschichtlichen Versenkung verschwunden, aus der seine Geistesblitze nur in sehr gedämpfter Form herauszudringen vermögen. England braucht doch keinen Gershwin! Auch Arthur Bliss, jene dominierende Figur in der allmächtigen BBC, nicht unvergleichbar dem frühen Tippett ein weicher, nicht allzu tiefgründiger Lyriker der Vaughan Williams-Nachfolge mit pantomimischem Instinkt im Gefolge Stawinskijs, ist mehr und mehr zur Lexikographennummer geworden. Und nicht zuletzt bei Tippett selbst darf man skeptisch bezüglich der Überlebenskraft sein – es gibt ja in England diese langlebigen Lieblinge des Establishments, die als eine Art ästhetische Referenzpunkte für die Bewertung des ständig in Umwälzung befindlichen Umfelds dienen, heute wären gewiß Peter Maxwell Davies zu nennen und für traditionsabweisendere Meinungsmacher das Siemens-dekorierte Rauhbein Harrison Birtwistle. Soviel jedenfalls zu den verständlicherweise verblaßten Mythen.
Vaughan Williams hat sich als Nachfolger Elgars etabliert, Britten fraglos als die "unique personality" des 20. Jahrhunderts; auch der einst von Beecham so rückhaltlos protegierte, unverwechselbar nebbiose Impressionismus Delius' ist aus dem britischen Konzertleben nicht mehr wegzudenken. An Waltons internationaler Statur gibt es ohnehin keine Zweifel (wenngleich er hierzulande noch lange nicht entsprechend seiner tatsächlichen Begabung rezipiert wird), und sein Bewunderer Malcolm Arnold hat auch noch allerhand Chancen, unvergänglicher zu werden, als er selbst das je vermutet hätte. Diese beiden wären sozusagen, gemeinsam mit dem neoklassizistisch angeregten Composer-Conductor Eugene Goossens, die handwerklich souveränen, Esprit-schillernden Musikanten, deren Bandbreite von der Miniatur bis zur Symphonie überzeugt und die zudem – bei aller typisch britischen Distinguiertheit – die Schranken der Nationalmusik mühelos durchbrachen. Von Gustav Holst dagegen ist fast nichts außer "The Planets" und der entzückenden "Saint Paul’s Suite" zu hören – was vielleicht doch ein wenig ungerecht ist gegenüber diesem esoterischen Exotiker. Freilich hatte er damit noch Glück, vergleicht man sein Schicksal mit denjenigen von Arnold Bax, Brittens Lehrer Frank Bridge oder John Ireland. Arnold Bax (1883-1953) war einer der eminentesten Magiere in der Behandlung des großen Orchesters, und von dieser fantastischen Klangphantasie profitierte auch seine Kammer- (z. B. Nonett oder Oboenquintett) und Klaviermusik. Formal ging er in seinen einer dreisätzigen Regel folgenden sieben Symphonien und 22 Tondichtungen neue Wege und verschmolz Elemente von Debussy, Strauss, Strawinskij und vielen anderen zu etwas völlig Eigenem. Gerade seine formale Meisterschaft war es, die immer wieder attackiert wurde. Ob zurecht oder nicht, man hat darüber seine äußerst generöse Originalität übersehen und die Werke bis heute vom Konzertleben ins diskographische Milieu verbannt – für Sammler und Konnaisseure. Doch besonders bei seiner in jeder Hinsicht großdimensionierten, visionären Musik werden erst im Konzertsaal die realen Ausmaße erkennbar. Das Publikum hat jedenfalls kein Problem mit dieser harmonisch vielfarbigen Melange aus Postromantik, Impressionismus und Tondichterei, wenn nur die Aufführung adäquat ist. Frank Bridge (1879-1941) ist ein schwierigerer Geselle. Er begann ohne Querständigkeiten traditionell und entwickelte sich zu einer gelegentlich fast sperrigen Eigensinnigkeit, die das Gros der Kritiker gar nicht schätzte (z. B. Phantasm für Klavier und Orchester, Rebus). An seiner Qualität wird nicht groß herumgemäkelt, aber man hat seinen Reifestil nicht gemocht, und so soll es offenbar bleiben – genius not welcome. John Ireland (1879-1962) schließlich war einfach zu unspektakulär, und erst mit eingehenderer Beschäftigung erschließen sich die unter einer modesten Oberfläche verborgenen Meriten – da werden die Zeichen der Zeit nie günstig sein, und respektvoll darf man irgendein Gemurmel vom "souveränen Könner" vernehmen. Immerhin, es gab Phasen, in welchen diese Namen vielerorts genannt wurden als "leading exponents" – wie auch zeitweise der zunächst als Ultramodernist verschriene Klangmystizist Cyril Scott (1879-1970), der konservative Elegiker Rutland Boughton (1878-1960) oder der skurrile Tondichter Joseph Holbrooke (1878-1958), letzterer herumgereicht als "the Cockney Wagner".
Wenn nun in England das Jammerlied vom Geniemangel angestimmt wird, muß man sich fragen, warum man sich nie die Mühe gemacht hat, jene Genies dem Publikum zu Gehör zu bringen, die keine angemessene Karriere machen konnten. Mit welchem Recht werden Meister wie Havergal Brian, John Foulds, Bernard van Dieren, Kaikhosru Sorabji, Harold Truscott, Bernard Stevens, Peter Racine Fricker, Robert Simpson, William Mathias oder auch in letzter Zeit Nicola Lefanu oder John Pickard als Nebenmeister gehandelt wie kuriose Flohmarktgewächse? Weil ein neuer Britten erwartet wird, ein Messias, dessen Nimbus musikherrschaftliche Kreuzzüge der "Fairest Isle" im neuen Jahrtausend ermöglichen könnte? Also gut, James MacMillan scheint dieser neue Britten nicht zu sein. Dann muß Thomas Adès ran, als Exklusivkünstler der EMI (man erinnere sich: MacMillan war bei BMG in gleicher Funktion…). Nichts schöner und fast nichts kurzlebiger als eine Fata morgana und die Prophezeiungen in ihrem Gefolge. Alexander Goehr, Colin Matthews oder Robin Holloway (man gedenke des überstilisierten Erfolgs seines beachtlichen "Second Concerto for Orchestra") können sicherlich ein Lied davon singen. John Pickard oder Matthew Taylor haben eine solche "Chance" bislang nicht erhalten, und vielleicht ist das kein Unglück für die musikalische Qualität. Sie würden nie auch nur ansatzweise auf die Idee kommen, etwas mit dem musikalischen Establishment zu tun zu haben. Darin liegt eine Chance, daß es ihnen primär um Musik geht und nicht um Karriere.
Setzt sich ein Komponist im eigenen Land nicht – wenigstens in bescheidenem Umfang – durch, so sind seine Erfolgschancen außerhalb der Heimat verschwindend gering. (Als Ausnahme von der Regel müssen der Schwede Allan Pettersson und der Finne Pehr Henrik Nordgren gelten, deren Musik – in Petterssons Fall postum – von Deutschland aus bahnbrechende Unterstützung erhielt.) So nimmt es nicht Wunder, daß auf dem Kontinent fast niemand den Namen John Foulds kennt, Havergal Brian als kaum ernstzunehmende Kuriosität gehandelt wird und Sorabji als verrückter Halbgott für Klavierspinner. All das geschieht aufgrund gravierender Unkenntnis der Fakten.
John Foulds (1880-1939), ausgezeichneter Cellist im Hallé Orchestra unter Hans Richter, experimentierte als erster Europäer bereits vor der Jahrhundertwende mit Vierteltönen, eignete sich – nach der Heirat mit der Indien-erfahrenen Maud McCarthy – die exotischen Modi an und schrieb faszinierende Stücke in streng modaler Struktur. Um überleben zu können, produzierte er exzellente Werke für das Genre der "Light Music", was ihm fatalerweise bei der BBC den Ruf eintrug, ein "Light Music Composer" zu sein und quasi einen geistigen Lizenzentzug für "ernste Musik" nach sich zog. Er war ein echter Pionier, praktizierte als erster richtig ausgebildeter Komponist "West meets East" und ging folgerichtig in den dreißiger Jahren nach Indien, wo er Musikdirektor bei "All India Radio" wurde, das "Indo-European Orchestra" gründete und kurz vor Kriegsausbruch in Kalkutta an der Cholera starb. Einige seiner Werke, besonders die "Three Mantras" für Orchester aus der zurückgezogenen Oper "Avatara", haben geradezu revolutionären Zuschnitt, was rhythmische Komplexität, massive wie subtile Klangwirkung und modale Konsequenz betrifft. Auch seine Klaviermusik harrt überfällig der Entdeckung.
Natürlich sind allein die äußeren Umstände in Havergal Brians (1876-1972) Leben und Werk sehr auffällig. Die 1919 fertiggestellte und 1961 uraufgeführte "Gothic Symphony" mit finaler Tedeum-Vertonung ging als bezüglich Besetzung und Länge umfangreichster Gattungsbeitrag in die Geschichte und ins Guiness-Buch der Rekorde ein. Von seinen 32 Symphonien komponierte er 22 im Alter von über 80 Jahren. Doch wer sich mit der Musik beschäftigt, merkt bald, daß hier einer nicht nur aus innerer Notwendigkeit und stupender Begabung heraus Symphoniker war, daß dieser Außenseiter vielmehr immer Musik von unumstößlicher Eigenart schuf, und dies über die längste Zeit seines Lebens ohne die geringste Aussicht auf Aufführungen. Signum von Brians Stil ist zunächst die stetige Anwesenheit des Unerwarteten – fast nie geht es so weiter, wie man vermuten sollte. Auch die stilistische Entwicklung von den frühen Stücken zu Beginn des Jahrhunderts zu den gänzlich jeglichem Zeitkontext entwachsenen, knappen Symphonien der 60-er Jahre ist ebenso fortwährend wie unabsehbar. Ein Kritiker sprach von "delayed Mahler in splendid isolation", doch tatsächlich sind die Parallelen zu anderen Symphonikern durchweg rudimentär. Brians Musik hat bis heute nichts von ihrem abenteuerlichen Flair eingebüßt, und man würde ihr ein viel breiteres Forum wünschen, das in der vorurteilsbelasteten englischen Kulturlandschaft nie zustande kommen wird. Ein hochinteressanter Tonschöpfer aus Brians Umfeld ist der vor allem als Musikautor und Pianist hervorgetretene Harold Truscott (1914-1992), bei dem sich Originalität, formale Könnerschaft und natürliche Expressivität die Waage halten – Nielsen, Brian, Mahler, Strauss, auch Bruckner und Sibelius mögen hier Referenzpunkte gewesen sein.

Richtig provokant wird es im Fall von Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892-1988), Sohn eines Parsi und einer Engländerin, über den Ferruccio Busoni am 25. November 1919 aus London an seine Frau berichtete: "Kaikhusru Sorabji hat sich als ein ganz junger Indier entpuppt: – dem gab ich, auf seinen Wunsch, einen Empfehlungsbrief. Ein feiner, nicht gewöhnlicher Kopf, trotz seiner häßlichen Musik: einem Urwald mit vielem Unkraut und Dornengestrauch, aber fremdartig und üppig." Sorabji hielt nicht hinter dem Berg mit dem, was er vom englischen Musikleben hielt: "I find that English people – whom with all due respect to your honoured self and my own dear mother, herself English, I detest, 'en masse' – do not respond to music of a deep profound nature." (aus einem Brief vom 3. Februar 1914 an Philip Heseltine). Als Sorabji im April 1922 in Wien mit eigenen Kompositionen auftrat, befanden sich Egon Wellesz und Hertzka unter den frappierten Gratulanten. Sorabji an Heseltine: "Dr. Wellecz said: '…it is so difficult to us so new and strange, that you must give us time … such things in music we have never before heard: it is an order of mind and feeling we have never realized to exist' … through his bad English this is what he said." Von Wien hielt er nicht viel – "a ridiculously pretentious gimrack city … worst of all is this bloody Mahler orgy … Even the art shops have abominable etchings based on the 'Lied von der Erde'! Still Mahler is better than Arthur Piss…" ("Arthur Piss" ist Arthur Bliss). Über Sorabjis Wiener Konzert berichtete Paul Bechert im Musical Courier: "There seem to be some interesting oriental colorings in these sonatas, and a few of their passages 'sound' beautifully, but the feeling one derives from them is, in short, that compared to Mr. Sorabji, Arnold Schönberg must be a tame reactionary." Bechert schloß damit, in Sorabjis Verrücktheit müsse eine Art Methode liegen. Was diese Methode in sich beschließe, möge wohl künftigen Generationen zur Entdeckung vorbehalten sein. Wahr gesprochen, und diese Generationen liegen noch immer vor uns. Wann wird man begreifen, daß Sorabji ein führender Neuerer war und ihn in den entsprechenden Kontext stellen – und nicht ins Lager der pianistischen Super-Merkwürdigkeiten. Sorabji ist nicht weniger modern oder radikal als beispielsweise Morton Feldman oder Milton Babbitt. Gewiß sind seine Werke nicht nur von extremer Länge, sondern auch von schwindelerregender harmonischer und kontrapunktischer Komplexität und zunächst kaum faßbarer Eigentümlichkeit, und in diesen Faktoren liegt die einzige Ursache dafür, daß keine seiner größer (=orchestral) besetzten Kompositionen bis jetzt auch nur einmal aufgeführt wurde (anders das einzige einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordene, 4-stündige "Opus clavicembalisticum" für Klavier solo, das von Pianisten wie John Ogdon oder Geoffrey Douglas Madge einstudiert und vorgetragen wurde). Hier tut sich seit langem ein dringendes Aufgabenfeld für Festivals Neuer Musik auf, die sich bekanntlich sowieso nicht nur um die aktuellste Produktion kümmern, sondern im unmittelbaren zeitlichen Umfeld von Sorabjis Tod verstorbene Kompositionen wie Nono, Scelsi oder Feldman ohne Zögern als Zeitgenossen propagieren. Sorabji war nach Meinung eminenter Kollegen ein Genie auch in der Orchesterbehandlung, und noch haben wir keinen Ton von dieser Musik vernommen! Er selbst hatte keine Zweifel an seinem Rang. Als er Nicolas Slonimsky eine Kopie seines "Opus clavicembalisticum" zuschickte, merkte er an, dies sei das größte polyphone Werk seit Bachs "Kunst der Fuge". Slonimskys Kommentar: "For all I know, it may be exactly that, at least in the grandeur of conception and extraordinary skill of its structure." Noch nicht genug? Um nur in der unmittelbaren Umgebung zu bleiben: Haben Sie schon mal vergeblich versucht, eine Komposition des aus Holland stammenden, in England ansässig gewordenen Bernard van Dieren (1887-1936), des einflußreichen Lehrers von Peter Warlock, auf Platte zu bekommen? Auch er ist einer, bei dem der immense Anspruch an Interpreten (und Hörer?) nach so langer Vernachlässigung der späten Entdeckung im Wege steht, auch er eine außerordentlich interessante, distinguierte Figur. Und es sind nicht nur jene wie Sorabji oder van Dieren, die also vor allem aufgrund ihrer mit dem Mainstream in nichts konformen Sprache Außenseiter blieben. Nein, auch viel traditionellere Komponisten, die Eigenes zu offerieren hatten, sind keineswegs ihrem schöpferischen Rang entsprechend bekannt geworden – hier sei nur an den als Musikwissenschaftler berühmten Donald Francis Tovey (1875-1940, vor allem die Cellokompositionen; Casals spielte das einstündige Cellokonzert und urteilte: "Niemand außer Tovey könnte einen ersten Satz von solch einer riesigen Architektur auch nur planen, geschweige denn ausführen."), den Sibelius-nahen Elegiker Ernest John Moeran (1894-1950), den zwischen Tudor-Musik und Schostakowitsch-Sympathie seine verschlungenen Pfade suchenden Edmund Rubbra (1901-86), den heute auf CD wiederentdeckten Alan Rawsthorne (1905-71) und den walisischen Symphoniker Daniel Jones (1912-93) erinnert. Oder an Bernard Stevens (1916-83), den Max Rostal (er hat Stevens’ phänomenales, in expressiv freier Zwölftönigkeit geschriebenes Violinkonzert uraufgeführt, welches seither von niemandem eingespielt wurde) für einen der bedeutendsten Komponisten seiner Generation hielt. Oder an den Seiber-Schüler Peter Racine Fricker (1920-90), der zunächst in den fünfziger Jahren, vor allem als Symphoniker in einer Art Bartók-Hindemith-Weiterführung, zu Englands erfolgreichsten Komponisten zählte, dann aber nach Annahme einer Professur in Kalifornien in seiner Heimat kaum noch auf Interesse stieß – die Bestrafung des Abtrünnigen, dem seine ganze Begabung und der lebenslange Kontrakt mit Schott (der seine späten Werke, die keine Spur von Verschleiß dokumentieren, nicht mehr druckte) nicht halfen, die einmal gewonnene Reputation zu verteidigen. Außer der Veröffentlichung der zwei Violinsonaten hat er seit Jahrzehnten nicht einmal eine diskographische Chance auf (Wieder-)Entdeckung erhalten.
Robert Simpson (1921-97), als Musikautor und BBC-Redakteur und -Produzent eine unvergeßliche Persönlichkeit im britischen Musikleben, wurde zum führenden Exponenten einer gegen das Establishment gerichteten Musik – paradoxerweise, könnte man meinen, indem er aus einer umfassenden Kenntnis der Tradition schöpfte. In seinen elf Symphonien und 15 Streichquartetten finden Elemente von Haydn, Beethoven, Bruckner, Sibelius, Nielsen u. a. zu einer strukturell klaren, unverkennbar selbständigen Synthese, eine Art dissonanzgetränkte, hintergründig neohistoristische, organisch geformte Symphonik, der man ihre Vorbilder zwar teilweise ansieht, jedoch kaum je anhört. Als Förderer war er der Hauptverantwortliche für die Durchsetzung der Musik von Bruckner und Carl Nielsen auf der Insel, und seinem positiven Impuls verdanken wir das Wiedererwachen der kompositorischen Ambition im Greisenalter bei Havergal Brian. Simpson wird zwar wenig gespielt, doch ist sein Œuvre inzwischen auf CD sehr umfangreich dokumentiert, und er hatte als Mentor großen Einfluß, so auf den Norweger Halvor Haug (geb. 1952) und seine Landsleute Matthew Taylor (geb. 1964) und John Pickard (geb. 1965), allesamt beachtliche Symphoniker mit einem ausgeprägten Sinn für das große Orchester und für das individuelle Handling formaler Proportionen. Zumal Pickard, Schüler des in drei ritualistisch organisierten Symphonien wegweisenden Walisers William Mathias (1934-92), geht dabei ganz neue Wege und erschließt so der trotz aller vorzeitig ausgestellten Sterbeurkunden unentwegt lebendigen symphonischen Gattung ungeahnte Perspektiven. Natürlich gibt es auch Sorabji-Nachfolger, wobei der wichtigste unter ihnen – der schottische Composer-Pianist Ronald Stevenson (geb. 1928) – mit diesem Attribut entschieden zu eingeschränkt bedacht würde. Im Gegenteil, seine weltumspannende stilistische Bandbreite ist so enorm wie die technische Meisterschaft, die auch sehr umfangreichen Werken wie der Schostakowitsch zugeeigneten "Passacaglia on DSCH" oder kursorisch Organisiertem wie "A Twentieth Century Diary" für Soloklavier oder dem 2. Klavierkonzert "The Continents" Zusammenhang verleiht. Ein echter Geheimtip ist Alistair Hinton (geb. 1950), Leiter des effizienten Sorabji Archive, dessen dreiviertelstündiges Orgelwerk "Pansophiæ for John Ogdon" durchaus magische Züge hat, die man auch den Klavierwerken des in München lebenden walisischen Klangmystikers Dafydd Llywellyn (geb. 1939) nicht absprechen kann – und mit diesen Namen haben wir uns sozusagen in die verstecktesten Fluchtburgen begeben, die man auch in der neuesten Edition des New Grove nicht zu beleuchten für nötig hielt.
Der Rundblick auf Vernachlässigtes müsste eigentlich ebenso den in England gestrandeten Emigranten gerecht werden, unter denen wir zwei Schönberg-Schüler, den Katalanen Roberto Gerhard (1896-1970, sicher einer der genialsten Vertreter der erweiterten Dodekaphonie) und Egon Wellesz (1885-1974, als Symphoniker weiterhin unentdeckt) nennen wollen; sodann den Hindemith-Schüler Franz Reizenstein (1911-68), dessen Name fast nur noch in Zusammenhang mit dem "Concerto popolare"-Potpourri vom Hoffnung-Festival bekannt geblieben ist, den mit großem Wiedergutmachungs-Aufwand im hohen Alter aus der Vergessenheit katapultierten Schreker-Schüler Berthold Goldschmidt (1903-96), und den zeitweise als Dirigent erfolgreichen polnischen Form- und Klangstrukturalisten Andrzej Panufnik (1914-91, zehn Symphonien).
Schlecht für den Nachruhm ist es auch, wenn man zu früh verstirbt, so geschehen bei George Butterworth (1885-1916), der einzig aufgrund der betörenden Tondichtung "A Shropshire Lad" (angeblich ein Lieblingswerk Carlos Kleibers) bekannt geblieben ist, oder später bei Bill Hopkins (1943-81), den man zuletzt wieder auszugraben begonnen hat. Zwei Komponisten seien zum Ende dieses Beitrags genannt, denen definitiv eine stärkere Resonanz auf ihr wesentliches und unerhörtes Schaffen zu wünschen ist: Michael Finnissy (geb. 1946) und Simon Holt (geb. 1958) – möge es ihnen besser ergehen als den Vorgenannten. Denn die Geschichte nimmt keine Rücksicht auf Qualität, auch wenn mancher Bequeme oder Kurzsichtige da eine andere Meinung vertritt. Erst wenn die Werke mehrfach in adäquater Aufführung zu Gehör kommen, kann eine fruchtbare Rezeption einsetzen, deren Folgen dann – zumindest vorerst – als im Charakter der jeweiligen Musik begründeter Gang der Geschichte anzusehen sind. Das ist vielen noch nicht widerfahren.

Christoph Schlüren