< RARE MUSIC STARTSEITE

Portrait PAUL ZUKOFSKY

Apokalyptischer Reiter der Avantgarde

1
John Cage: 'Cheap Imitation', 2. Stück, Anfang
Paul Zukofsky (Violine), (NYC, 23. Februar 1979)
cp2 CD 103
Track 3, 0'01-1'30 (Dauer: 1'30)
 
Richard Kostelanetz sprach 1969 von Paul Zukofsky als einem, der als 25-jähriger der Meistergeiger im zeitgenössischen Repertoire sei — ohnegleichen in Amerika und vielleicht in der ganzen Welt. Zukofsky, den sie soeben mit dem Anfang von John Cages 'Cheap Imitation' No. 2 hörten, war bald weithin respektiert, bewundert und gefürchtet für seine einmalige Gabe, Musik egal welchen Stils oder Schwierigkeitsgrads quasi aus dem Stand zu meistern. Im herkömmlichen Sinne ein Stück einzuüben, wäre ihm dabei nur in technischen Ausnahmefällen in den Sinn gekommen. Er prägte sich alles direkt aus der Partitur ein und entwickelte sofort eine exakte innere Vorstellung davon, wie die Musik darzubieten sei. Kostelanetz berichtete, daß Zukofsky nicht einmal ein Radio oder einen Plattenspieler besitze, sei es doch eine Qual für ihn, sich das handwerkliche Mißlingen und die geistigen Niederungen fast all seiner Kollegen anzuhören. So immens Zukofskys Reputation seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten war, so zaghaft drang sein Name nach Europa durch, wo man in ihm fast ausschließlich einen Spezialisten für Neue Musik sah. In der Tat kann sich die Liste allein der Violinkonzerte, die er uraufgeführt hat, sehen lassen, es finden sich so illustre Namen wie Morton Feldman, John Cage, Earle Brown, Charles Wuorinen, Philip Glass, Iain Hamilton und Roger Sessions — letzterer mit seinem Doppelkonzert für Geige und Cello — darunter. Andererseits hat der große Lehrer einer ganzen Generation von Stargeigern, Ivan Galamian, über seinen Schüler Zukofsky nicht nur gesagt, er hoffe, daß dieser "sich wieder mehr der richtigen Musik zuwenden werde". Galamian stellte darüber hinaus fest, Paul Zukofsky sei die beste Aufnahme der Capricen für Geige solo von Nicoló Paganini gelungen, die je gemacht wurde. Ein Urteil, dem ich mich ohne Zögern anschließe. Wie es Zukofsky schafft, in jeder dieser so oft lediglich mit geigerischer Verve und Bravour aufgeladenen Piècen einen unverwechselbaren Charakter zu entdecken und mit allen Mitteln seiner unkonventionellen Selbstschulung diesen unwiderstehliche Gestalt annehmen zu lassen, ist unglaublich. Daß er damit aus allen interpretatorischen Orthodoxien ausbricht — was sich unter anderem insofern niederschlägt, als seine Einspielung statt unter 70 über 100 Minuten dauert —, ist kein Wunder. Es folgt die elfte Caprice von Nicoló Paganini, Andante - Presto - Andante, von Paul Zukofsky 1969 für Vanguard aufgenommen.
 
2
Nicoló Paganini: Caprice Nr. 11 für Violine solo
Paul Zukofsky (Violine), (NYC, 1969)
Vanguard 2 CD 08 5053 72 (LC 5896)
CD 2, Track 2 (Dauer: 4'12)
 
Alle nur erdenklichen Facetten von Paganinis Musik holt Zukofsky heraus, und selbst wenn er zu höchst ungewöhnlichen Resultaten kommt, wirkt es immer überzeugend. In dieser klassischen Sololiteratur wie auch in seiner großartigen Einspielung der Partiten und Sonaten von Johann Sebastian Bach oder der bis heute unerreichtenErstaufnahme von Artur Schnabels kolossaler Solo-Sonate zeigt sich Zukofsky als kompromißlos von der musikalischen Struktur ausgehender und alles aus ihr ableitender und auf sie beziehender Musiker. Die durch ein Stück hindurch gehende Struktur ist für ihn das absolute Maß, an dem alle Gestaltung sich zu orientieren hat. Wenn er einmal als der "Glenn Gould of the Violin" bezeichnet wurde, ist das insofern vollkommen einleuchtend. Sofort hervorstechend ist auch seine von keinen Traditionen oder Moden beeinflußte Art der Phrasierung. Man hört bei ihm nicht die üblichen, oft unbewußten Betonungen und Auflösungen, Beschleunigungen und Verlangsamungen. Eigenartig autonom gegenüber dem metrischen Ebenmaß ersteht die melodische Linie, mit einer der Schwerkraft sich entwindenden Eleganz.
O-Ton 1
»Wenn Sie sich ein Stück anschauen von Mozart, Beethoven, Bach, Brahms, werden Sie sehen, daß die Takte durchweg gleich sind. Alles 4/4-Takte. Oder alles 3/4-Takte. Aber meiner Meinung nach stimmt die Musik nur ganz selten mit dem Takt überein. Der Takt liegt immer irgendwie falsch. Mindestens läuft die Musik gegen den Takt.
Zu den wenigen Relikten aus meiner Kindheit, die ich zu sehen bekam, nachdem meine Eltern gestorben waren, gehörten die kleinen Skizzenbücher, in die ich gekrizzelt hatte, als ich mit dem Klavierspielen begann. Da fand ich zum Beispiel eine ganze Menge aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. War das Stück in 3/4, so hatte ich es in 4/4 umgeschrieben; war es in 4/4, so hatte ich es in 3/4 umgeschrieben — um herauszufinden, wieso es nicht paßte. Von einem sehr frühen Zeitpunkt an hatte ich dieses Bedürfnis, aus den Beschränkungen des Takts auszubrechen. Das hat meinen Zugang zu jeder Art von Musik geprägt, insbesondere aber zu den Klassikern.
Aber das ist nichts Neues. Es ist nicht so, daß Strawinsky der erste Komponist gewesen wäre, der einerseits wechselnde Metren an sich, andererseits wechselnde Metren gegen einen kontinuierlichen rhythmischen Fluß in Betracht gezogen hätte. Letztlich geht das zurück auf die Renaissance-Musik, ja auf die burgundische Musik des 14., 15. Jahrhunderts, auf die Mensuralmusik.
Ich betrieb ausgiebige Forschungen in den Bell Laboratories über die verschiedenen Arten metrischer Verschiebungen. Unglücklicherweise hat man zugelassen, daß das aus unserem Bewußtsein verschwand. Und man denkt, es sei viel wichtiger, daß die sogenannten betonten Zeiten zusammen sind. Und wenn wir nun zu einer Musik wie derjenigen von Milton Babbitt kommen, ist es katastrophal, wenn Sie die betonte Zeit zum Dreh- und Angelpunkt machen. Denn da hat die Taktbetonung ständig nichts zu tun mit dem, was strukturell passiert.«
Da versteht es sich von selbst, daß Zukofsky die anhaltende Welle sogenannter "historischer Aufführungspraxis" aus tiefster Seele verabscheuen muß. Die nachdrückliche Betonung des Taktstrichs ist für einen auf rhythmisch-metrischem Gebiet so weit fortgeschrittenen Musiker eine fortwährende Beleidigung, und er spricht von der Alte-Musik-Bewegung als einer "Pflegestätte der niedlichen Prätention", in ihrer kurzatmigen Stilisierung, ihrer melodisch-rhythmischen Primitivität ohne die geringste Chance, den strukturellen Zusammenhang eines Werks zu erfassen und zu kommunizieren.
Zukofsky ist nicht besonders erfreut, wenn man ihn einseitig als Avantgardisten sieht. Er will eine Offenheit für Musik jeder Zeit erreichen, in der es primär nicht um geschmackliche Kriterien wie Stilfragen sondern um die einmalige musikalische Qualität geht. Und er hat sich nie auf eine bestimmte Richtung beschränkt. Der Freidenker Cage hat ebenso Platz neben dem hochkomplexen Serialismus von Milton Babbitt wie der enharmonische Archaismus des Isländers Jón Leifs neben den polymetrisch-kontrapunktisch elaborierten Symphonien von Artur Schnabel. Er ist einer der eminentesten Kenner der Werke Schönbergs und ein begeisterter Vorkämpfer Erik Saties. Es folgt ein Ausschnitt aus der Ersteinspielung des Violinkonzerts von Roger Sessions, eines Großmeisters der ersten Generation amerikanischer Avantgarde nach Charles Ives. Zukofsky wird begleitet vom Orchestre Philharmonique de l’ORTF unter Gunther Schuller. Sie hören den Schluß des 3. Satzes, Romanza Andante, und den Beginn des 4. Satzes, Molto vivace e sempre con fuoco.
 
3
Roger Sessions: Violinkonzert, 3. Satz 'Romanza. Andante' und Beginn des 4. Satzes
Paul Zukofsky (Violine), Orchestre Philharmonique de l’ORTF, Gunther Schuller (Paris, 1967)
CRI CD 676
Track 2, 2'02 - Track 3, 1'15 (Dauer: 3'06)
 
Paul Zukofsky, soeben zu hören als Solist im Violinkonzert von Roger Sessions, war von frühester Jugend an bekannt dafür, daß er keine technischen Schwierigkeiten kenne. Nichts konnte schwer genug sein, um ihn abzuschrecken. Im Gegenteil, er liebte diese Herausforderung. Doch konnte er auch verstehen, daß sich andere weniger leicht damit taten. Also veröffentlichte er ein Skalenbuch für die Violine in zeitgenössischer Musik und wirkte an verschiedenen amerikanischen Instutionen als Lehrer, darunter lange Zeit an der Juilliard School. Eine Schülerin berichtete mir, seine Strenge habe etwas Furchteinflößendes gehabt. Andere erzählen von einem in der Sache unerbittlichen Lehrer voller Widmung und Güte, dessen Einfluß weit über die technische Meisterung hinausgehe. Im Folgenden lassen wir Paul Zukofsky kurz selbst zu Wort kommen. Er demonstriert anhand einer Melodie aus dem Violinkonzert von Johannes Brahms die aus der Struktur sich ergebende Phrasierung in 5-er und 7-er Gruppen, die sich dem Primat des Takts entgegenstellen. Anschließend imitiert er die falsche, an die Taktschwerpunkte angeglichene Phrasierung, wie sie sich längst in den Ohren von Millionen Hörern in aller Welt festgesetzt hat.
 
O-Ton 2
 
So intensiv sich Zukofsky um seine Studenten gekümmert haben mag — mit Kollegen, die die Musik, die sie spielen, in seinen Augen nicht verstehen, hat er wenig Mitleid. Gerade in der neuen Musik hat er sich, den Komponisten und den wenigen Hörern, die den Qualitäts-Unterschied bewußt wahrnehmen, bewiesen, was möglich ist. Das Spezialistentum ist für ihn oft genug eine Ausrede derjenigen, die sich auf dem klassisch-romantischen Standard-Territorium als beschränkte Könner erwiesen haben und sich nun ihre Nische suchen, sei es in alter oder neuer Musik, sei es in entlegenem Repertoire. Er hingegen hat keine Zweifel daran hinterlassen, daß er auch in den Konzerten von Mozart, Beethoven oder Brahms Weltklasse ist, hat sich dann aber mit Entdeckerfreude und Abenteuersinn immer mehr dem Neuen zugewandt. Selbstverständlich ist es nun so, daß seine Aufführungen die Konkurrenten weit hinter sich lassen und ihm fast alles, was er zu hören bekommt, entweder dilettantisch oder dumm erscheint. Hätte er mehr auf die politischen Dinge geachtet, in entscheidenden Schlachten noch cleverer agiert, so könnte es gut sein, daß Zukofsky heute auch in Europa der große Star der Neue-Musik-Szene wäre. So kompromißlos direkt allerdings, wie er ist, hat er sich unzählige Feinde gemacht, zumal unter den Administratoren und Bürokraten, aber auch unter jenen Künstlern, die einer gewissen Schonung von Kollegenseite bedürfen, um vor der peinlichen Enthüllung ihrer Unfähigkeiten bewahrt zu bleiben. Zukofsky hinterläßt allein durch die Qualität seines Musizierens eine unauslöschliche Spur in der Interpretenlandschaft. Wären die Hörer so bewußt wie er über die musikalischen Vorgänge, so würde er ihnen erscheinen als ein apokalyptischer Reiter, der alles andere hinwegfegt und den Mangel an echter Vitalität schonungslos offenlegt. Für ihn ist die so viel gelobte Exaktheit, bei Aufführungen neuer Musik normalerweise das hauptsächlich Angestrebte, nur ein unentbehrlicher Bestandteil. Die andere Qualität, von der alle Welt redet, das 'Excitement', das Aufregende, interessiert für ihn überhaupt nicht. Das stellt sich sowieso ganz nebenbei ein, wenn alles zusammenstimmt. Hören Sie nun Paul Zukofsky und Gilbert Kalish mit John Cages Nocturne von 1947.
 
4
John Cage: Nocturne for violin and piano (1947)
Paul Zukofsky (Violine), Gilbert Kalish (Klavier), (NYC, 1972)
cp2 CD 108
Track 6 (4'16)
 
Paul Zukofsky wurde am 22. Oktober 1943 in Brooklyn in eine aus Russland stammende jüdische Familie geboren. Sein Vater Louis Zukofsky war ein bedeutender und einflußreicher avantgardistischer Dichter und Schriftsteller, in dessen Haus Kollegen wie Ezra Pound, William Carlos Williams, E. E. Cummings oder der junge Allen Ginsberg verkehrten. Der 4-jährige Paul begann Klavier zu spielen. Mit fünf Jahren hörte er George Enescu in einem Recital mit Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach, und nun wollte er Geiger werden. Zwei Jahre später war er bereits Schüler von Roman Totenberg und gefeiertes Wunderkind. Mit sieben kannte er sämtliche Dramen von Shakespeare. Nach der zweiten Klasse verließ er die Schule und wurde privat unterrichtet. Als 6-jähriger kam er an die Juilliard School in die Klasse von Ivan Galamian. Nach wenigen Jahren begann er, sich intensiv mit neuerer Musik auseinanderzusetzen, und ab Anfang der sechziger Jahre nahm seine Karriere einen zusehends ungewöhnlicheren Verlauf, der ihn mehr und mehr vom breiten Publikum entfernte. Von einem exquisiten Kreis von Kennern hochgeschätzt, ist der Welt ein Stargeiger freiwillig verloren gegangen. 1963 leitete Zukofsky in New York eine Aufführung von Schönbergs 'Pierrot Lunaire' mit Eduard Steuermann am Klavier, und seither wirkt er auch als Dirigent. In den letzten Jahren hat Zukofsky sich als Geiger aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und tritt nur noch als Dirigent auf. Auch hier gibt es natürlich nichts, was ihm einen Schrecken einjagen könnte, und er agiert mit jener immensen Souveränität, Schnelligkeit und Bewußtheit, wie man es von seinem Geigenspiel kennt. Es folgt der Schlußteil der 1965 enstandenen Komposition 'Relata I' von Milton Babbitt, gespielt vom Juilliard Orchestra unter Paul Zukofsky.
 
5
Milton Babbitt: Relata I, Ausschnitt
Juilliard Orchestra, Paul Zukofsky (NYC, 1990)
New World Records CD 80396-2
Track 8, 13'09-14'48 (Dauer: 1'39)
 
Paul Zukofsky ist heute meiner Meinung nach einer der weltweit befähigtesten Dirigenten. Daß die musikalische Welt fast nichts davon weiß, sagt viel über ihren Zustand aus. 1978-87 leitete er in New Jersey das Colonial Symphony Orchestra, das er von einem lokalen Klangkörper zügig in etwas Professionelleres überführte. Man hat beachtliche Aufnahmen gemacht, und in Live-Mitschnitten kann man hören, was ein exzellenter Dirigent aus einem mittelmäßigen Orchester herausholen kann. Zukofsky hat sich der Fachwelt auch als blendender Essayist vorgestellt, der gedanklichen Schneid und Humor in den Dienst geradlinig formulierter Thesen stellt, die auf einer phänomenologischen Grundlage stehen. Zukofsky, selbst ein beschlagener Komponist, ist ein unentwegter Forscher, mit aller wünschenswerten Exaktheit und

Unterscheidungskraft abseits trockener Ideologien, was gerade die Musikwissenschaft bitter nötig hat. All das läßt ihn natürlich äußerst streitbar erscheinen und vielerorts anecken, und so endete seine Ära als Direktor des Schönberg-Instituts in Los Angeles von 1992-96 mit einem Eklat. Er hatte von vornherein klargemacht, was seine Ziele waren: die Quellen zugänglich zu machen, um eine aktualisierte Betrachtung zu ermöglichen. Dies war eine Ohrfeige für all jene, die sich bis dahin mit spekulativen Ergüssen im Schönberg Journal breitgemacht hatten. Zukofsky räumte auf und wurde geopfert. Das Archiv zog von LA nach Wien. Doch dieser Rückschlag setzte neue Kräfte frei, und an Erstrebenswertem hat es bei ihm nie gemangelt. Nun setzte er sich intensiv für das hochkomplexe kompositorische Œuvre des großen Pianisten Artur Schnabel ein und gründete sein eigenes Label cp2. Aber auch andere obskure Spezialitäten findet man unter seinen Favoriten, so die Musik des japanischen Zeitgenossen Jo Kondo oder diejenige des Mystikers und Astrologen Dane Rudhyar. Als Kostprobe folgt die vierte Nummer aus Rudhyars 1927 komponierten 'Five Stanzas'. Es spielt das Colonial Symphony unter Paul Zukofsky.
 
6
Dane Rudhyar: Five Stanzas, No. 4
Colonial Symphony, Paul Zukofsky (New Jersey, 15. März 1982)
cp2 CD 105
Track 4 (Dauer: 1'41)
 
Im August 1977 nahm Paul Zukofsky einst geknüpfte Bande in Island wieder auf und ging nach Reykjavík, wo er das 'Zukofsky Seminar in 20th Century Orchestral Repertoire' gründete. Es fing mit ganz wenigen Leuten an und prosperierte rasch. Nach wenigen Jahren war ein großes Orchester zusammengekommen, mit dem Zukofsky die Island-Premieren von Strawinskys 'Sacre du Printemps' und Mahlers Fünfter Symphonie gab. Doch gab es Widerstand von konkurrierender Stelle, worauf er 1985 das Isländische Jugend-Symphonie-Orchester gründete. Was Zukofsky in den nächsten sieben Jahren mit diesem Orchester erreicht hat, ist unglaublich und konnte von niemandem erwartet werden.
O-Ton 3
»Manche dieser Kinder konnten kaum die Geige aus dem Kasten holen — denn wir nahmen ja fast jeden! — Und wir hatten ungefähr 15 Proben, und wir arbeiteten und arbeiteten, hatten Stimmproben, kamen zusammen, wir nahmen es auseinander, zerlegten es, setzten es wieder zusammen, und das unzählige Male, und sie lernten und lernten und vollbrachten wundervolle Dinge — und ich lernte mit ihnen, natürlich — und das war, in meiner Sicht, ein Musizieren, wie überhaupt jedes Musizieren eigentlich sein sollte: zusammen lernen, zusammen wachsen, etwas bauen. Wie ein Garten. Die Studenten hatten die Leidenschaft, die Liebe, die Neugier, und die Furchtlosigkeit, die den Älteren abhanden gekommen war. Die Älteren sagten immer: "Das könnt ihr nicht machen!" oder "Was maßt ihr euch an, anzunehmen, daß ihr das könnt? Seid ihr verrückt?"
Ja. — Aber nicht dumm."«
Das Isländische Jugend-Symphonie-Orchester unter Paul Zukofsky spielte unter anderem die isländischen Erstaufführungen von Gustav Mahlers 6., 7. und 9. Symphonie, von Anton Bruckners 2. und 9. Symphonie, von Messiaens Turangalîla-Symphonie, Strawinskys Orpheus, Schönbergs 'Pelleas und Melisande' und Colin McPhees 'Tabu-Tabuhan'. Dann gab es personelle Wechsel im Board, und 1993 kam es zum Krach, als Zukofsky Richard Wagners 'Parsifal' aufführen wollte und das Board die Zustimmung verweigerte. Man schlug ihm vor, Haydn und Mozart zu machen. Er gab zur Antwort, dies sei viel schwerer, da man in dieser Musik nichts verstecken kann, und die Kinder würden höchstens lernen, "Mozart zu hassen oder zu fürchten". Die Sache wurde zum Politikum, Zukofsky ging, und ohne seinen Gründer verschwand das so viel versprechende und bereits erfüllende Orchester von der Bildfläche.
Besonders glücklich war Zukofsky mit der Aufführung von Anton Bruckners Zweiter Symphonie, deren Live-Mitschnitt beim Isländischen Rundfunk leider nicht auffindbar ist. Dafür konnten wir einen Konzertmitschnitt von Bruckners Sechster Symphonie am 12. April 1992 auftreiben, aus der sie zunächst einen Ausschnitt hören: das polymetrische Seitenthema aus dem Kopfsatz. Wohl niemand zuvor wagte es, in diesem Satz ein so breites Tempo zu nehmen, ohne Gefahr zu laufen, an diesen rhythmischen Klippen zu scheitern. Was hier gelungen ist, ist schlichtweg sensationell.
 
7
Anton Bruckner: 6. Symphonie A-Dur, 1. Satz, Ausschnitt
Isländisches Jugend-Symphonie-Orchester, Paul Zukofsky (Reykjavík, 12. 4. 1992)
Mitschnitt des Isländischen Rundfunks
Track2, 2'10-5'00, ein- und ausblenden! (Dauer: 2'50)
 
Das Isländische Jugend-Symphonie-Orchester unter Paul Zukofsky in einem Konzertmitschnitt von Anton Bruckners Sechster Symphonie. Aus der gleichen Aufführung nun noch das Scherzo.
 
8
Anton Bruckner: 6. Symphonie A-Dur, 3. Satz, Anfang
Isländisches Jugend-Symphonie-Orchester, Paul Zukofsky (Reykjavík, 12. 4. 1992)
Mitschnitt des Isländischen Rundfunks
Track 4, 0'13-4'00, ausblenden! (Dauer: 3'47)
 
Paul Zukofsky hat sich in den isländischen Jahren natürlich auch intensiv für viele isländische Komponisten eingesetzt, wovon Aufnahmen von Werken von Jón Leifs, Jón Nordal, Atli Heimir Sveinsson oder Jónas Tómasson Zeugnis ablegen. Das größte derartige Ereignis war zweifellos die Uraufführung und anschließende Aufnahme von Jón Leifs’ gewaltigem Musikalisch-choreographischen Drama 'Baldr' op. 34 im März 1991. Dieses "Drama ohne Worte" schildert die mythologische Geschichte des Sonnengotts Baldr, der von seinem Widersacher Loki getötet wird. Es folgt ein Ausschnitt aus dem Wurfspiel und 'Baldrs Tod'.
 
9
Jón Leifs: Baldr op. 34: 10. Szene 'Wurfspiel, Ende & 11. Szene 'Baldrs Tod', Anfang
Isländisches Jugend-Symphonie-Orchester, Söngsveitin Fílharmónia, Paul Zukofsky (Reykjavík, März 1991)
cp2 2CDs 106/7
CD 2, Track4, 2'50 - Track 5, 1'29 (Dauer: 2'08)
 
Mit dem Einsatz für Jón Leifs verhalf Paul Zukofsky Islands größtem kompositorischen Genius zu postumer Rehabilitation. Seither ist diese blockhaft sich auftürmende, schamanistisch schreitende, enharmonisch schillernde Musik schnell in aller Welt zu einem Begriff geworden. Welche Leistung solche Aufführungen für ein Jugendorchester bedeuteten, läßt sich nicht ermessen.
Wie läßt sich ein solches Ziel erreichen? Dazu bedurfte es mit Zukofsky eines Mannes, der immerhin sagt, von allem, was ihn an der Musik interessiere, sei der Klang das am wenigsten Interessante. Seinem Vater übrigens, so Zukofsky, verdankt er das Bewußtsein über das Strukturelle und die Fähigkeit, an das zu glauben, was man tut, egal, was die anderen davon halten.
O-Ton 4
»Was ich tue, so weit ich nur kann, ist, zu versuchen, mich von dem, was um mich herum vor sich geht, zurückzuziehen und das zu tun, was ich tun will, also: das Stück in die Gestalt, in die Form, auf jene Art zu bringen, wie ich es will. So weit weg wie möglich von allen Einflüssen, die ich nicht will. Etwa wie ein Pferd, das mit Scheuklappen vorantrabt.«
Die große Form, sagt Zukofsky, ist eine Spiegelung der kleinen Einheiten. Das findet er aber nicht überall verwirklicht und konstatiert in Mahlers Symphonik Formlosigkeit, die ihn aber weniger stört als die dieser zugrunde liegende Redseligkeit, das Nicht-aufhören-Können. Dagegen meint er, sich darüber Gedanken zu machen, wie der kompositorische Entstehungsprozeß vor sich geht, sei bedeutungslos. Welche Bedeutung hat die Form für ihn? Zukofsky lieferte einen Hinweis, als er mir von einer schlechten Aufführung von Franz Schuberts Streichquartett 'Der Tod und das Mädchen' erzählte.
O-Ton 5
»Da war kein Tod, da war kein Mädchen… Wenn Sie nicht wissen, daß der Anfang nach der Einleitung aus 5-taktigen Phrasen aufgebaut ist, sehe ich nicht, wie Sie dieses meistern könnten mit irgendwelcher Überzeugung oder Intelligenz. Alle Strukturen, alle Betonungen, mit denen Sie dieses gegebene Stück befrachten würden, alles, was Sie aussagen wollen, etwa "das ist wichtig" — Sie werden nicht wissen, wo und wann was zu tun ist, denn Sie haben kein Vorwissen darüber. Also fangen Sie einfach an zu spielen? "Oh, das ist eine wichtige Stelle! — Oh, das war eine wichtige Stelle!" — Wenn das jedenfalls Sinn für die Form ist, das zu verstehen, dann weiß ich nichts Wichtigeres.«
Mit aller Hingabe hat sich Paul Zukofsky der Werke eines großen unbekannten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrunderts angenommen. Er hat von Artur Schnabel, der als Pianist der klassischen und romantischen Literatur weltberühmt und als Komponist ein Avantgardist war, die Violin-Solosonate und die Sonate für Violine und Klavier ersteingespielt. Beide Aufnahmen sind von bis heute unerreichtem Niveau. Als Dirigent hat er außer einem Werk für Chor und Orchester die drei Symphonien als Ersteinspielungen aufgenommen, die in jeder Hinsicht zum Schwersten in der ganzen Literatur zählen. Drei Tage im Studio reichen natürlich nicht aus, um hier ein vollkommen befriedigendes Ergebnis zu erzielen. Das ist eine Frage der Finanzierbarkeit. Aber was in dieser kurzen Zeit jeweils geleistet wurde, wird kaum ein Anderer nachmachen können. Als ein leichter auffaßbares Beispiel möge der 2. Satz, Vivace, aus der Ersten Symphonie dienen. Es spielt das BBC Symphony Orchestra unter Paul Zukofsky.
 
10
Artur Schnabel: 1. Symphonie, 2. Satz 'Vivace'
BBC Symphony Orchestra, Paul Zukofsky (London, April 1994)
cp2 CD 109
Track 2, 0'00-?, ausblenden! (Dauer:        ) PUFFER!
 
Als im Herbst 2001 bei den Berliner Festwochen Werke von Artur Schnabel im Zentrum standen, sollte eine Aufführung der Zweiten Symphonie durch das Deutsche Symphonie-Orchester unter Paul Zukofsky den Höhepunkt der Werkschau bilden. Doch dank einer planvollen Intrige des am Konzert beteiligten Pianisten Stefan Litwin kam es nicht zur Einladung. Ein Kollege, ausgewiesener Spezialist neuer Musik, leitete die Aufführung, die prompt zum Desaster geriet. Zukofsky wunderte sich nicht darüber: Zum Teufel mit dem ganzen "Spezialistentum"! Entweder einer ist ein guter Musiker oder nicht. Wer Zukofsky einmal als Dirigenten einer Haydn-, Mozart-, Beethoven- oder Brahms-Symphonie, von Debussy, Ravel, Strawinsky oder Schönberg gehört hat, weiß, wie das zu verstehen ist. Wie groß auch immer die Herausforderungen von elaboriertem Detail oder weitgespannter Form sein mögen, Zukofskys Darbietungen sind bezwingend, ob man ihnen zustimmt oder nicht. Und daß er über aller gedanklichen Durchdringung und Weiterentwicklung immer zugleich ein Urmusikant geblieben ist, muß er nicht mehr beweisen. Zum Abschluß soll deshalb noch einmal der Geiger zu Wort kommen, der die Sonaten von Ives, die Solowerke von Bach, Paganini, Schnabel und Cage so unvergleichlich zu gestalten wußte. Doch diesmal mit Musik von einer Art, mit welcher bei ihm wohl die wenigsten gerechnet haben dürften: Von dem 1975 bei Vanguard erschienenen und nie auf CD veröffentlichten Album 'Classical Rags' hören Sie zum Abschluß 'Pork and Beans' von Luckey Roberts. Es spielen Paul Zukofsky und Robert Dennis.
 
11
Luckey Roberts: 'Pork and Beans'
Paul Zukofsky (Violine), Robert Dennis (Klavier), (rel. 1975)
Vanguard LP SRV 350 SD
Seite 1, Track 1 (Dauer: 1'50)

Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Helmut Rohm)
Produktion: 24.10..2002
Erstsendung: 28.10..2002, 22'05, "Forum"

Christoph Schlüren 10/2002