Seine Vorfahren väterlicherseits
waren spanischstämmige Venezianer: der Tessiner Mario Venzago
wurde in Zürich geboren und dort Dirigierschüler des legendären
Erich Schmid, des Vorgängers von Simon Rattles als Chefdirigent
in Birmingham und Nachfolgers von Scherchen beim Rundfunk Beromünster.
Seine Studien ergänzte er bei Swarowsky in Wien. Als Dirigent
arbeitete er sich in Lugano empor, dann als Leiter des Stadtorchesters
Winterthur. 1986 wurde er Generalmusikdirektor der Stadt Heidelberg,
wo er mit seiner Familie heute lebt. Als erster Gastdirigent der
Deutschen Kammerphilharmonie Bremen etablierte er Musik von Schönberg,
Webern und Schreker in deren Programmen. 1991 berief man ihn als
Chefdirigenten an die Grazer Oper.
Zuletzt leitete Venzago in München die umjubelte Uraufführung
von Peter Michael Hamels Missa mit den Münchner Philharmonikern.
Nunmehr erster Gastdirigent des Münchner Kammerorchesters,
übernimmt er in dieser Saison drei Programme, die selten gespielte
Komponisten (wie Franz Schreker und Othmar Schoeck) und kaum zu
hörende Werke von Schönberg, Webern und Henze neben dem
Klassiker Joseph Haydn präsentieren - ganz im Sinne der neuen,
offensiven Programmplanung des Kammerorchesters.
CS: Was reizt Sie als Opern-erfahrenen Kapellmeister an der Kammerorchester-Arbeit?
MV: Vorweg sei gesagt - um falschen Hoffnungen vorzubeugen: das
Vivaldi-Corelli-Barockrepertoire hat mich nie interessiert. Das
überlasse ich gerne anderen, und es ist ja inzwischen bestens
aufgehoben in den Händen der Spezialisten. Dieses überholte
Barockverständnis ist einfach nicht mehr drin - diese kommerzielle
Ausschlachtung der Alten Musik.
Mich interessiert hier die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, das
ja nun zu Ende ist und das wir jetzt ja auch überschauen, das
bereits historisch geworden ist. Da gibt es einfach, infolge der
Weltkriege, eine Massierung von großartigen und ganz großen
Kompositionen für Kammerorchester. Ich möchte die Kammersymphonien
von Schönberg nennen, unter denen ich die Zweite für die
Bedeutendere halte. Und dann sind da Schreker, Zemlinsky, Schoeck,
natürlich Musik von Anton Webern. Das sind alles Leute, die
für die kleinere Besetzung schrieben, ohne den Gehalt zu reduzieren.
Denn hier ist es eigentlich die große symphonische Geste,
die auf die Kammerdimensionen übertragen wird und dort zudem
die Chance der Durchhörbarkeit und strukturellen Bewältigung
kriegt.
CS: Wie sieht es mit Werken außerhalb des deutschsprachigen
Raums aus?
MV: Die Franzosen haben's auch gemacht, und dort find ich's meist
uninteressant. Janácek ist äußerst spannend, und
Bartók, Strawinskij... Aber was mich mehr interessiert, und
weswegen ich auch hier zugesagt habe, ist die Fortsetzung und Bewältigung
der großen, übersteigerten deutschen Romantik, dieser
symphonischen Sprache. Und gerade in Schönbergs Zweiter Kammersymphonie.
Denn wenn die fulminante Erste Kammersymphonie mit der Quartenharmonik
letztlich zur Zwölftonmusik führte, so halte ich nicht
die Erfindung der Zwölftonmusik für das Hauptverdienst
Schönbergs. Und dieses frühe Werk führt dahin! Ich
finde, gerade das Umgekehrte, die Synthese - wenn es ihm gelingt,
die Errungenschaften der strengen, abstrakten Technik mit der Tonalität
zu verbinden - diese integrative Leistung ist die ganz große
Leistung Schönbergs. Denn es ist ein Nachgeben, und eben kein
Kompromiß! Die Materialbehandlung ist hier so unverkrampft,
daß es sich verfremdet und etwas Neues wird. Es ist schon
merkwürdig, daß an die Zweite Kammersymphonie überhaupt
nicht angeknüpft wurde. Dieser Reifestil steht ganz isoliert
da. Und wie wenig man das noch kürzlich geschätzt und
verstanden hat, unter dem Druck der seriellen Dogmen: als wir vor
Jahren in München mit der Deutschen Kammerphilharmonie die
Zweite Kammersymphonie vorstellten, wurden wir doch tatsächlich
ausgelacht in dieser Stadt. Dabei war unsere Aufführung, die
auf einer CD dokumentiert ist, ziemlich exemplarisch. Aber inzwischen
dirigiert es ja auch der Boulez.
CS: Glauben Sie, daß diese Sprache heute verstanden wird?
MV: Es gibt da ein Syntax-Problem. Ich glaube nicht, daß wir
heute viel weiter sind. Aber vielleicht muß man zunächst
einfach den Kreis der Eingeweihten vergrößern. Der letzte
Satz des Werkes sollte ja ursprünglich noch einen programmatischen
Chor haben, wie aus den Skizzen zu sehen ist - so klein war das
ganze Ding nämlich nicht gemeint! - ein selbstverfaßter
Text, in dem er sagt: "...wir haben vieles probiert und mußten
es rückgängig machen...". Aber wehe, wenn das nun
in falsche Hände kommt - dann heißt es: "der Schönberg
nimmt sich selbst zurück in der Zweiten Kammersymphonie",
was ich eben überhaupt nicht meine. Der Text war also sehr
mißverständlich, und er hat's dann auch aufgegeben und
diesen Epilog geschrieben, der eigentlich nur noch mit der Zehnten
Mahler zu vergleichen ist. Das ist etwas so Trauriges, dieses es-moll
als letzte Station im Quintenzirkel, von wo Schönberg ja auch
ausging in die Atonalität.
CS: Man hat daran wohl auch deswegen nicht angeknüpft, weil
das Beherrschen der freien Tonalität so viel mehr Können
und Originalität voraussetzt als der Verkehr in seriell geregelten
Bahnen.
MV: Fraglos. Und da kommen wir auch auf Schreker zu sprechen, dessen
Kammersymphonie wir ja im selben Konzert aufführen. Die halte
ich für sein stärkstes Werk. Denn durch die Kammerbesetzung
ist er geschützt vor seinen Schwächen: dem Schwülstigen,
der Verdickung. All' das ist ganz weg in diesem Stück. Das
ist es, was mich am Kammerorchester reizt: ich will auf die Substanz
'raus, ohne zuviele Schlacken. Aber davon abgesehen - auch in seinen
Opern ist Schreker so singulär, so unverwechselbar und - was
mir halt so gefällt - so undogmatisch. Und dennoch so spezifisch.
Diese Opern sind grandios, nicht nur vom Sujet her, sondern auch
von der musikalischen Gestaltung, der Behandlung der Sprache. Und
eigentlich ist der Schreker gar nicht so typisch deutsch, orientierte
sich stark an den Franzosen. So eine Bitonalität ist stets
latent da - oder ausgesprochen, diese Vieldeutigkeit in jedem Moment,
dieses Fluktuierende. Der Zemlinsky ist ganz affirmativ, der Schreker
nie, in keinem Moment - wie auch die Franzosen nicht, wenn sie Große
waren wie Debussy oder Ravel. Leider haben wir von Schrekers Opern
keine wirklich guten Aufnahmen. Man versteht kein Wort, man versteht
gar nichts. Das ist schlicht Mist! Aber ich glaube, daß es
durchaus funktionieren kann, wie es gemeint ist. Was zu tun wäre...
CS: Was bringt Sie dazu, sich immer wieder so intensiv für
diese Werke einzusetzen?
MV: Ich mag vieles überhaupt nicht, was zum Repertoire gehört.
Darum wollte ich auch immer schon Musiker werden, denn schon früh
habe ich große Teile der Musik abgelehnt - Tschaikowskij zum
Beispiel, und auch mit Richard Strauss hatte ich schon als Kind
wahnsinnig Mühe. Alles, was mich in den Gleichschritt gezwungen
hat, hat mir widerstrebt. Musik, die mich nicht sensibel, sondern
gleichmachte, wo ich mitwippen mußte - das mußte ich
einfach ablehnen. Unwiderstehlich zieht mich hingegen Schumann an,
dieses Fiebrige - oberflächlich betrachtet ist das ja gar nicht
so unruhig, aber innen drin... Und Schönberg eben auch. Tschaikowskij
aber verleitet zum besinnungslosen Mittaumeln. Er vernebelt, macht
unkritisch und bringt die Leute zum Schunkeln, auch geistig. Dagegen
wehre ich mich, und insofern ist unser Programm auch eine Aktion
wider das geistige Schunkeln.
Interview: Christoph Schlüren)
(geführt anläßlich eines Konzerts mit dem Münchener
Kammerorchester am 25. Januar 1996 mit Schrekers Kammersymphonie
und Sätzen aus der Zweiten Kammersymphonie von Schönberg;
veröffentlicht im Münchner Kulturmagazin 'Applaus')
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