< RARE MUSIC STARTSEITE

Mission wider das geistige Schunkeln

Interview mit Mario Venzago (München, 2.12.95)

Seine Vorfahren väterlicherseits waren spanischstämmige Venezianer: der Tessiner Mario Venzago wurde in Zürich geboren und dort Dirigierschüler des legendären Erich Schmid, des Vorgängers von Simon Rattles als Chefdirigent in Birmingham und Nachfolgers von Scherchen beim Rundfunk Beromünster. Seine Studien ergänzte er bei Swarowsky in Wien. Als Dirigent arbeitete er sich in Lugano empor, dann als Leiter des Stadtorchesters Winterthur. 1986 wurde er Generalmusikdirektor der Stadt Heidelberg, wo er mit seiner Familie heute lebt. Als erster Gastdirigent der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen etablierte er Musik von Schönberg, Webern und Schreker in deren Programmen. 1991 berief man ihn als Chefdirigenten an die Grazer Oper.
Zuletzt leitete Venzago in München die umjubelte Uraufführung von Peter Michael Hamels Missa mit den Münchner Philharmonikern. Nunmehr erster Gastdirigent des Münchner Kammerorchesters, übernimmt er in dieser Saison drei Programme, die selten gespielte Komponisten (wie Franz Schreker und Othmar Schoeck) und kaum zu hörende Werke von Schönberg, Webern und Henze neben dem Klassiker Joseph Haydn präsentieren - ganz im Sinne der neuen, offensiven Programmplanung des Kammerorchesters.
CS: Was reizt Sie als Opern-erfahrenen Kapellmeister an der Kammerorchester-Arbeit?
MV: Vorweg sei gesagt - um falschen Hoffnungen vorzubeugen: das Vivaldi-Corelli-Barockrepertoire hat mich nie interessiert. Das überlasse ich gerne anderen, und es ist ja inzwischen bestens aufgehoben in den Händen der Spezialisten. Dieses überholte Barockverständnis ist einfach nicht mehr drin - diese kommerzielle Ausschlachtung der Alten Musik.
Mich interessiert hier die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, das ja nun zu Ende ist und das wir jetzt ja auch überschauen, das bereits historisch geworden ist. Da gibt es einfach, infolge der Weltkriege, eine Massierung von großartigen und ganz großen Kompositionen für Kammerorchester. Ich möchte die Kammersymphonien von Schönberg nennen, unter denen ich die Zweite für die Bedeutendere halte. Und dann sind da Schreker, Zemlinsky, Schoeck, natürlich Musik von Anton Webern. Das sind alles Leute, die für die kleinere Besetzung schrieben, ohne den Gehalt zu reduzieren. Denn hier ist es eigentlich die große symphonische Geste, die auf die Kammerdimensionen übertragen wird und dort zudem die Chance der Durchhörbarkeit und strukturellen Bewältigung kriegt.
CS: Wie sieht es mit Werken außerhalb des deutschsprachigen Raums aus?
MV: Die Franzosen haben's auch gemacht, und dort find ich's meist uninteressant. Janácek ist äußerst spannend, und Bartók, Strawinskij... Aber was mich mehr interessiert, und weswegen ich auch hier zugesagt habe, ist die Fortsetzung und Bewältigung der großen, übersteigerten deutschen Romantik, dieser symphonischen Sprache. Und gerade in Schönbergs Zweiter Kammersymphonie. Denn wenn die fulminante Erste Kammersymphonie mit der Quartenharmonik letztlich zur Zwölftonmusik führte, so halte ich nicht die Erfindung der Zwölftonmusik für das Hauptverdienst Schönbergs. Und dieses frühe Werk führt dahin! Ich finde, gerade das Umgekehrte, die Synthese - wenn es ihm gelingt, die Errungenschaften der strengen, abstrakten Technik mit der Tonalität zu verbinden - diese integrative Leistung ist die ganz große Leistung Schönbergs. Denn es ist ein Nachgeben, und eben kein Kompromiß! Die Materialbehandlung ist hier so unverkrampft, daß es sich verfremdet und etwas Neues wird. Es ist schon merkwürdig, daß an die Zweite Kammersymphonie überhaupt nicht angeknüpft wurde. Dieser Reifestil steht ganz isoliert da. Und wie wenig man das noch kürzlich geschätzt und verstanden hat, unter dem Druck der seriellen Dogmen: als wir vor Jahren in München mit der Deutschen Kammerphilharmonie die Zweite Kammersymphonie vorstellten, wurden wir doch tatsächlich ausgelacht in dieser Stadt. Dabei war unsere Aufführung, die auf einer CD dokumentiert ist, ziemlich exemplarisch. Aber inzwischen dirigiert es ja auch der Boulez.

CS: Glauben Sie, daß diese Sprache heute verstanden wird?
MV: Es gibt da ein Syntax-Problem. Ich glaube nicht, daß wir heute viel weiter sind. Aber vielleicht muß man zunächst einfach den Kreis der Eingeweihten vergrößern. Der letzte Satz des Werkes sollte ja ursprünglich noch einen programmatischen Chor haben, wie aus den Skizzen zu sehen ist - so klein war das ganze Ding nämlich nicht gemeint! - ein selbstverfaßter Text, in dem er sagt: "...wir haben vieles probiert und mußten es rückgängig machen...". Aber wehe, wenn das nun in falsche Hände kommt - dann heißt es: "der Schönberg nimmt sich selbst zurück in der Zweiten Kammersymphonie", was ich eben überhaupt nicht meine. Der Text war also sehr mißverständlich, und er hat's dann auch aufgegeben und diesen Epilog geschrieben, der eigentlich nur noch mit der Zehnten Mahler zu vergleichen ist. Das ist etwas so Trauriges, dieses es-moll als letzte Station im Quintenzirkel, von wo Schönberg ja auch ausging in die Atonalität.
CS: Man hat daran wohl auch deswegen nicht angeknüpft, weil das Beherrschen der freien Tonalität so viel mehr Können und Originalität voraussetzt als der Verkehr in seriell geregelten Bahnen.
MV: Fraglos. Und da kommen wir auch auf Schreker zu sprechen, dessen Kammersymphonie wir ja im selben Konzert aufführen. Die halte ich für sein stärkstes Werk. Denn durch die Kammerbesetzung ist er geschützt vor seinen Schwächen: dem Schwülstigen, der Verdickung. All' das ist ganz weg in diesem Stück. Das ist es, was mich am Kammerorchester reizt: ich will auf die Substanz 'raus, ohne zuviele Schlacken. Aber davon abgesehen - auch in seinen Opern ist Schreker so singulär, so unverwechselbar und - was mir halt so gefällt - so undogmatisch. Und dennoch so spezifisch. Diese Opern sind grandios, nicht nur vom Sujet her, sondern auch von der musikalischen Gestaltung, der Behandlung der Sprache. Und eigentlich ist der Schreker gar nicht so typisch deutsch, orientierte sich stark an den Franzosen. So eine Bitonalität ist stets latent da - oder ausgesprochen, diese Vieldeutigkeit in jedem Moment, dieses Fluktuierende. Der Zemlinsky ist ganz affirmativ, der Schreker nie, in keinem Moment - wie auch die Franzosen nicht, wenn sie Große waren wie Debussy oder Ravel. Leider haben wir von Schrekers Opern keine wirklich guten Aufnahmen. Man versteht kein Wort, man versteht gar nichts. Das ist schlicht Mist! Aber ich glaube, daß es durchaus funktionieren kann, wie es gemeint ist. Was zu tun wäre...
CS: Was bringt Sie dazu, sich immer wieder so intensiv für diese Werke einzusetzen?
MV: Ich mag vieles überhaupt nicht, was zum Repertoire gehört. Darum wollte ich auch immer schon Musiker werden, denn schon früh habe ich große Teile der Musik abgelehnt - Tschaikowskij zum Beispiel, und auch mit Richard Strauss hatte ich schon als Kind wahnsinnig Mühe. Alles, was mich in den Gleichschritt gezwungen hat, hat mir widerstrebt. Musik, die mich nicht sensibel, sondern gleichmachte, wo ich mitwippen mußte - das mußte ich einfach ablehnen. Unwiderstehlich zieht mich hingegen Schumann an, dieses Fiebrige - oberflächlich betrachtet ist das ja gar nicht so unruhig, aber innen drin... Und Schönberg eben auch. Tschaikowskij aber verleitet zum besinnungslosen Mittaumeln. Er vernebelt, macht unkritisch und bringt die Leute zum Schunkeln, auch geistig. Dagegen wehre ich mich, und insofern ist unser Programm auch eine Aktion wider das geistige Schunkeln.

Interview: Christoph Schlüren)
(geführt anläßlich eines Konzerts mit dem Münchener Kammerorchester am 25. Januar 1996 mit Schrekers Kammersymphonie und Sätzen aus der Zweiten Kammersymphonie von Schönberg; veröffentlicht im Münchner Kulturmagazin 'Applaus')