< RARE MUSIC STARTSEITE

UNIVERS ZERO

Eleganz mit Widerhaken - belgische musique noir

Ausschnitt aus: Univers Zero: 'Combat';
Album: Univers Zero: 'Ceux du dehors'; Cuneiform Rune 39 CD;
 
ªWer nennt die Leidenschaft der Umarmungen eines lange getrennten Liebespaares? Hier war der Tod nur eine Trennung gewesen, denn dasselbe Weib war wiedergefunden.
Wenn Hugo Jane ansah, mußte er an die Tote und ihre Küsse, an die Umarmungen von damals denken. Er meinte die andere wieder zu besitzen, wenn er diese besäße. Was unwiederbringlich vorüber schien, jetzt sollte es wieder von neuem beginnen. Und er vermeinte seine Gattin damit nicht zu betrügen; war sie es doch, die er in ihrem Ebenbild lieben würde, ihr Mund, den er in jenem Mund küßte.
Hugo kostete so düstere und wilde Freuden. Seine Leidenschaft erschien ihm nicht als eine Entheiligung, im Gegenteil, als gut; so sehr sah er in den beiden Frauen bereits eine einzige, ein verlorenes und wiedergefundenes, in Gegenwart wie in Vergangenheit stets und einzig geliebtes Wesen, mit denselben Augen, dem gleichen Haar und dem nämlichen Fleisch und Blut, dem er die Treue hielt...
Die Augen haben alles vergessen, wie Nachtschmetterlinge: die schwarzen Ecken, die kalten Scheiben, den Regen draußen, Wind und Winter, die Glocken, die den Tod der Stunden künden - nur im engen Lichtkreise der Lampe schwärmen sie.
Hugo fühlte neues Leben an diesen Abenden durch seine Adern rinnen... Vollständiges Vergessen! Neubeginn! Die Zeit rauscht sanft dahin, in einem Flußbett ohne Steine... Und es ist, als gehörte man im Leben schon der Ewigkeit an.´
(Aus: Georges Rodenbach, 'Bruges-la-morte', 1892; Übersetzung: Friedrich von Oppeln-Bronikowski)
Univers Zero: 'Bonjour chez vous';
Album: Univers Zero: 'Ceux du dehors'; Cuneiform Rune 39 CD;
 
Bonjour malaise musical! Belgien, Heimstatt der Masken, grimassierender Verrenkungen, schauriger Abgründe, fluchbeladener Heiligkeiten, modrigen Vergessens, berstender Geheimnisse, widerspenstiger Liebeserklärungen. Wo sonst hätte es geschehen sollen: Eine Handvoll wagemutiger Belgier taten Mitte der siebziger Jahre Klangkammern auf, die den Akt des Musizierens zielstrebig in die Spurrillen des Diabolischen rückten. Das Vermächtnis der Art-Rock-Gruppe Univers Zero ist tönender Spiegel jenes Belgien, das der aufgeklärten, sauberen, regierbaren Welt seit jeher abhanden gekommen ist. Univers Zero hinterließen einer Hörerschaft, die sie nie beachtet hat, ein verwunschenes, verhextes œuvre-au-noir mit vielfältigen Hintergründen, gespenstische Maskenspiele im Niemandsland zerbrochener Ängste. James Ensor, jener große belgische Maler, der das Volk der Masken manisch und unauslöschlich festhielt, grüßte 1911 die biederen Mitläufer:
"Schließlich habe ich mich, von meinen Nachfolgern gejagt, heiteren Sinns in der einsamen Mitte verschanzt, wo die ganz aus Gewalt, Licht und Glanz bestehende Maske thront. Die Maske sagte mir: 'Frischer Ton, durchdringender Ausdruck, prunkvolle Ausstattung, unvermutete Gebärden, wirre Bewegungen, köstliche Ausgelassenheit.'"
War es bei Ensor die "einsame Mitte", so erkundeten die wagemutigen Univers Zero die einsamen Winkel, die aus der Zeit herausgefallen sind, folgten den Neigungen und Biegungen der Morbidezza, steuerten jene schattenhaften Wegegabelungen an, wo vergilbte, umkippende Idyllen der Starre erkaltenden Bruitismus Nahrung geben, gewalttätige Urregungen mit nebelfarben giftschillernden Schlingpflanzen umspinnen. Schlagzeuger Daniel Denis und Gitarrist Roger Trigaux waren die Köpfe der frühen Univers Zero, deren depressiven Phantasien zunächst ein mit dem doppelten Unglückssignet '1313' versehenes Album entsproß. Wovon King Crimson oder Gentle Giant zu besten Zeiten träumten, das vollführten die sieben belgischen Samurai einer neuen musique-noir-Kultur auf Anhieb: Kammermusik für ins Desolate Fortgeschrittene, 11er- und 13er-Takte aus dem Gruselkabinett zwischen subtilem Kalkül, stilisierter Panik und konzertant-ironischem Pathos mit Fagott, spröden Geigen und Bratschen, Taschencello, Spinett, Harmonium und Üblicherem. Finster, finster... Das klingt, als entstiegen die Instrumente, nachdem die Musiker nach Hause gegangen sind, ihren Kästen und Etuis und tobten sich aus, grazil und gewalttätig, perfekt, vertrackt, grundböse - einen postmittelalterlichen Totenreigen nach dem anderen exerzierend. Titel wie 'Docteur Petiot' oder 'Malaise' sagten das ihre dazu. Zeit also für Hexenauferstehungen, und die 'Carabosse' - so der Name des folgenden Stücks - war eines jener abseitigen buckligen alten Märchenweiber, vor denen man sich fürchtet, die man meidet.
Univers Zero: 'Carabosse';
Album: Univers Zero: 'Ceux du dehors'; Cuneiform Rune 20 CD;
 
Der Komponist von 'Carabosse', Schlagzeuger Daniel Denis, hat mit sechzehn Jahren die Schule verlassen und nie offiziell Musik studiert. Auch mit dem Notenlesen hat er es nicht weit gebracht. Es geht eben auch anders. Natürlich verdankten Univers Zero eine ganze Menge den King Crimson von 1973/74, zudem Frank Zappa, Henry Cow um Fred Frith und dem Canterbury-Milieu. Überdies hat man ihnen Einflüsse von Bartók, Strawinskij und frühem Prokofjew gutgeschrieben, und Daniel Denis hat sich für Charles Ives begeistert. Aber die Wurzeln von Univers Zero liegen im Verborgeneren. Viele ihrer Stücke folgen erstaunlichen polyphonen Bestrebungen, und Polyphonie hat viel früher eine unvergleichliche Tradition im holländisch-belgisch-französischen Raum gezeugt - man denke an Guillaume de Machaut, Guillaume Dufay, Johannes Ockeghem, Josquin des Prés, Pierre de La Rue oder Nicolas Gombert. Doch die polyphon verschlungene Kunst überlebte sich. Einen Höhepunkt hatte sie in der kombinatorischen Freiheit Johannes Ockeghems erreicht.
Schluß von: Johannes Ockeghem: Missa Prolationum, Credo:
ab 'Et resurrexit';
The Hilliard Ensemble, Paul Hillier; EMI CD 749798-2;
 
Für Jahrhunderte war die franko-flämische Art der Mehrstimmigkeit tot, ehe sie gänzlich unerwartet in völlig veränderter Gestalt wieder aufflackerte. Der Nordfranzose Albert Roussel geriet auf ganz eigene Pfade abseits klassizistischer Kontrapunkttechnik, kreierte in einer dem Kontrapunkt abholden, impressionistisch ausgerichteten Umgebung mit neuen Mitteln eine fließende Mehrstimmigkeit, die sich ihre eigenen Regeln schuf. Zugleich durchzieht Roussels Schaffen eine gestrüpphafte Urwüchsigkeit, eine Hinderniskultur voll rhythmischer Barbarei und unmodischer Rauheit. Er liebt in sich ungleiche Metren und trotzt einem Minimum an widerstreitenden Vektoren obsessionellen Eigenwert ab.
Schluß von: Albert Roussel: 1. Satz 'Aubade' aus 'Petite Suite' op. 39;
Gulbenkian-Orchester, Michel Swierczewski; Adès CD 14.111-2;
 
Nichts dürfte Univers Zero im Geiste - und gelegentlich auch in der Umsetzung - nähergerückt gewesen sein als die widerhakige Eleganz Albert Roussels, jene mutwillige Widerborstigkeit, die so grazil formuliert sein kann, daß man an Walzer tanzende Geckos, Schneckengalopps oder Feldzüge bis an die Schnäbel bewaffneter Kolibris denken darf. Ein anderer Vorfahre - ein bis heute mißachteter, vergessener - schrieb 1919-20 seine zweite Symphonie, 'Prélude à la nouvelle journée': der Holländer Matthijs Vermeulen, der allen Ernstes alte Hoketus-Techniken mit modernsten Ausdrucksmitteln in nie gehörter Weise verknüpfte - auch sein Werk, das sieben Symphonien umspannt, blieb ein Seitenpfad der Musikgeschichte.
Ausschnitt aus: Matthijs Vermeulen: 2. Symphonie;
Philharmonisches Orchester Den Haag, Lucas Vis; Donemus CD CV-KN 1;
 
Ohne die Kenntnisse, ohne die subtilen Fähigkeiten ihrer Vorgänger eroberten sich Univers Zero einen in Kernfaçetten von Ausdruck und technischem Bedarf verwandten Raum, wobei sie die hellen, klaren Visionen zur Ausnahme erklärten und sich intensiv dem düsteren, schaurigen Spektrum zuwandten. Am weitesten, erbarmungslosesten führte die Reise in die Dunkelheit auf dem 1979 verfertigten zweiten Album, 'Heresie'. Im folgenden ein Ausschnitt aus 'La Faulx' - die Sense, Werkzeug von Gevatter Tod.
Ausschnitt aus: Univers Zero: 'La Faulx';
Album: Univers Zero, 'Heresie'; Cuneiform Rune 29 CD;
 

'Heresie' von Univers Zero: Drei Grenzgänge in diabolische Regionen, die in der bildhaften, überzeichneten Sprache beispiellos sein dürften: die Maske des Todes, die Pranken des Mörders, das Antlitz der Folter. Drei schwarze Monster, anspruchsvoll Hartgesottenen zum nächtlichen Hausgebrauch gebraut.
ªSie schlug ein grausames Gelächter an und zeigte ihre weißen Raubtierzähne, die zum Beutemachen geschaffen waren.´
So beschreibt Georges Rodenbach in Bruges-la-morte den dreisten Triumph Janes, der zugleich ihr Verhängnis wird. James Ensor prophezeite:
"Lauthalse Aufgeblasenheit endet wie beim Frosch im Zerplatzen."
Wohin die Obsession führen kann, davon spricht die zentrale Phase einer an den Nervensträngen ätzenden Komposition mit dem unmißverständlichen Titel 'Jack the Ripper'. Was sich in der nun vorzustellenden Szene auf der Basis eines 13/8-Ostinatos abspielt, bedarf keiner Einführung. Der Bogen ein Messer.
Ausschnitt aus: Univers Zero: 'Jack the Ripper';
Album: Univers Zero, 'Heresie'; Cuneiform Rune 29 CD;
 
Tagebucheintrag eines Wahnsinnigen: 'Jack the Ripper', bei der Arbeit beobachtet von der belgischen Gruppe Univers Zero. Symbolismus und Realismus gehen in Belgien schon lange Hand in Hand, Günter Metken spricht von der Inspiration durch flämische Mystik und den Herbst des Mittelalters und davon, daß Georges Rodenbachs 1892 verfaßte Erzählung 'Bruges-la-morte' ('Das tote Brügge') zum Symbol des Dekadenzgefühls in ganz Europa wurde. Hugo Viane umgibt in 'Bruges-la-morte' seine verstorbene Frau mit allgegenwärtigem Reliquienkult. Da tritt eine Doppelgängerin auf: Jane - der Toten beinahe gleich, lediglich niederträchtiger geraten. Der Versuch der Angleichung der Lebenden an die Tote scheitert, muß also im Tod vollzogen werden. Todesschwaden durchziehen die ganze Erzählung, verleihen ihr die bleiche, harte Grundfarbe hinter der Melancholie aus Nieselregen-Schleiern. Die düstere Atmosphäre des toten Brügge (die übrigens Korngold in seiner Oper 'Die tote Stadt' einzufangen versuchte), die Enge der gärenden Emotionen, die Unvermeidlichkeit des Eskalierens, die stagnierende, bröckelnde Zeit, die alles umschleiernde Dunkelheit - nichts entspricht den in 'Bruges-la-morte' angesprochenen Empfindungen und Zuständen so unmittelbar wie die Klangwelt von Univers Zero.
Ausschnitt aus: Univers Zero: 'Ronde';
Album: Univers Zero, '1313'; Cuneiform Rune 20 CD;
 
ªDie Schwäne, die sonst so weiß und so ruhig auf dem Wasser schwammen, bäumten auf und zogen lange Wasserstreifen durch das schwarze Band des Kanals. Sie schienen in fieberhafter Bestürzung auf einen der ihren zuzustreben, der mit den Flügeln schlug und, wie auf sie gestützt, sich aus dem Wasser aufreckte wie ein Kranker, der in plötzlicher Beängstigung aus seinem Bette will.
Er schien zu leiden und stieß klagende Laute aus. Nach einem letzten, mächtigen Aufschrei verklang sein Ruf in der Ferne. Es war eine leidende, fast menschliche Stimme, ein wirklicher, abgesetzter Gesang.
Hugo blieb verwirrt vor diesem geheimnisvollen Schauspiel stehen und lauschte. Er gedachte des alten Volksglaubens. Ja, der Schwan hatte gesungen! Er sollte also sterben, oder er ahnte zumindest den Tod in der Luft... Für was legte diese abergläubische Nacht ihre schwarzen Trauerkleider an? Sollte er zum zweiten Male Witwer werden?´
(Aus: Georges Rodenbach, 'Bruges-la-morte'.)
Erster Teil von: Univers Zero: 'Vous le saurez en temps voulu';
Album: Univers Zero, 'Heresie'; Cuneiform Rune 29 CD;
 
'Vous le saurez en temps voulu' von der belgischen Gruppe Univers Zero, komponiert von Gitarrist Roger Trigaux. Sogkräfte pflegeintensiven Unwohlseins mit Methode lauern in einer Musik für Instrumente als Hauptagierende, die uns skrupellos zu schmeicheln und zu peinigen verstehen, die sich die Seelen der Musiker nur ausgeliehen haben, um übereintönen zu können. Univers Zero, das ist musique noir aus dem Herzen des künftigen Europa, ein zeitversetztes Spektakel in geschlossenen Räumen E.T.A. Hoffmannscher Szenerien. Im geschlossenen Raum endet auch 'Bruges-la-morte'. In ihrer Rohheit hat Jane die Haarflechte der Verstorbenen aus dem geheiligten Glasschrein gerupft:
ªJane war, als er auf sie losstürzte, hinter den Tisch zurückgewichen, als ob sie mit ihm Haschen spielte. Sie hielt ihm den Zopf, wie um ihn zu necken, aus der Entfernung vor, dann führte sie ihn an ihr Gesicht und an ihren Mund, wie eine bezauberte Schlange, und wickelte ihn um ihren Hals, wie die Boa eines goldenen Vogels.
"Gib her, gib her!", schrie Hugo.
Aber Jane lief rechts und links um den Tisch herum wie ein Wirbelwind.
Bei diesem stürmischen Haschen, diesem Gespött und Gelächter riß Hugo schließlich die Geduld. Er bekam sie zu fassen. Sie hatte immer noch das Haar um den Hals geschlungen und wehrte sich, wollte es nicht hergeben und schimpfte jetzt wütend, denn die Umklammerung seiner Finger tat ihr weh.
"Willst du wohl?"
"Nein", sagte sie, halb erstickt, mit nervösem Lachen.
Da wurde Hugo rasend. Wie eine Flamme sang es in seinen Ohren, und das Blut brannte in seinen Augen. Ein Schwindel lief ihm durch den Kopf, eine plötzliche Tollwut, und seine Finger krallten sich zusammen; er mußte etwas fassen und würgen, mußte Blumen zerdrücken; er fühlte die Wollust eines Schraubstockes in seinen Händen.
Er hatte die Haarflechte gepackt, die Jane noch immer um ihren Hals geschlungen hielt, und wollte sie ihr entreißen. Er war wütend, verstört; er zog und schnürte ihr den Hals mit der Flechte zu, die straff gespannt wie ein Seil war.
Jane hatte aufgehört zu lachen. Sie stieß noch einen leisen Schrei aus, einen Seufzer, wie wenn eine Wasserblase auf dem Spiegel eines Teiches zerplatzt. Dann sank sie erwürgt um.´
(Aus: Georges Rodenbach, 'Bruges-la-morte'.)
Ausschnitt aus: Univers Zero: 'La Faulx';
Album: Univers Zero, 'Heresie'; Cuneiform Rune 29 CD;
Track 1 ab 19'o4" unter Text eingeblendet; Dauer: 1'35",
bei 20'39" attacca:
Henry Purcell, Symphony from 'King Arthur' (Act 5, scene 2);
The King's Musick, Roderick Skeaping;
harmonia mundi France CD HMC 90252.53;
 
ªSie war tot...
Die beiden Frauen waren wieder zu einer verschmolzen... Im Tode waren sie sich doppelt ähnlich. Der Tod hatte die nämliche Blässe auf beide gelegt; sie waren fortan nicht mehr zu unterscheiden; sie waren das zweieinige Gesicht seiner Liebe. Janes Leiche war das Gespenst der Toten von damals und für ihn allein sichtbar...
Die Stadt war wieder verödet. Und Hugo sprach immerfort vor sich hin: "Tot, tot... Tote Stadt..."´
(Aus: Georges Rodenbach, 'Bruges-la-morte'.)
Wie in Bleiglas gegossene Wehmut schwingt jene schwere Elegie von Univers Zero, die von 1981 stammt: 'La tête du corbeau'. Der Rabe als Symbol von Einsamkeit und Grauen. Die Gewänder der Schattenwelt singen ein letztes, fahles Lied in kräftigen, dunklen Farben.

Univers Zero: 'La tête du corbeau';
Album: Univers Zero, 'Ceux du dehors'; Cuneiform Rune 39 CD;

Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wolf Loeckle);
Produktion: 29.4.1997;
Erstsendung: 9.5.1997, 20:o5-21:oo

Christoph Schlüren, im April 1997