Introduktion des Stationssprechers:
Der Weg über den großen Teich ist ein weiter, und er verhindert auch
im Zeitalter der fortgeschrittenen Globalisierung nichts weniger als beispielsweise
eine seriöse Musikgeschichtsschreibung. In den USA ist die Jahrhundertfigur
Nicolas Slonimsky für alle Musikern und Musikkenner eine unumstößliche
Größe, deren Fans von Frank Zappa bis John Adams reichen, wogegen
man in Europa von seinen bahnbrechenden Taten kaum etwas mitbekommen hat. Slonimsky
wurde 1894 in St. Petersburg geboren und starb 1995 im Alter von 101 Jahren,
bis zuletzt aktiv, in Los Angeles. Soeben ist seine Autobiographie 'Perfect Pitch'
in einer erweiterten Edition wiederaufgelegt worden. Die Kenntnis dieses fesselnden
Buches ist für jeden, der sich in der Musikwelt des 20. Jahrhunderts orientieren
möchte, eine unabdingbare Voraussetzung, und zu Recht wurde es, was seine
epochale Bedeutung betrifft, mit den Memoiren von Hector Berlioz gleichgesetzt.
Doch eine deutsche Übersetzung ist auch fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen
von 'Perfect Pitch' nicht in Sicht. Das nun folgende Portrait widmet sich dem
in Nicolas Slonimsky verkörperten Brückenschlag zwischen der alten
und der neuen Welt, und soll als Gegengift zur behaglichen Nabelschau provinzieller
Ignoranz und etablierten musikalischen Spießbürgertums wirken.
1
Nicolas Slonimsky: 4 'Minitudes': Déjà entendu, Déjà vu,
Cabbage Waltz, A Bad Egg Polka
Nicolas Slonimsky (Klavier), (1972)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 6, 15'13-17'03 (Dauer: 1'50)
Vier sogenannte 'Minitudes', gespielt vom Komponisten selbst,
bildeten den Auftakt unseres Nicolas Slonimsky-Portraits: 'Déjà entendu',
'Déjà vu', 'Cabbage Waltz' und 'A Bad Egg Polka'.
Slonimsky spielte sie 1972 ein und veröffentlichte im Jahr
darauf einen Band mit 51 'Minitudes', der Kultstatus erreichte
und ihren Schöpfer in seiner naiv-raffinierten Skurrilität
in den Rang eines "neuen Satie" erhob.
Im Juli 1941 begab sich Slonimsky auf eine extensive Süd- und Mittelamerika-Exkursion,
von welcher er nicht nur hunderte exotischer Partituren mitbrachte; in seinem
akribischen Forscherdrang veröffentlichte er daraufhin eines jener für
ihn so typischen Grundlagenbücher, die sowohl absolute Pionierarbeit als
auch zeitloses Standardwerk sind: 'Musik in Lateinamerika', versehen mit einer
Landkarte, auf der statt der Ortsnamen die jeweils beheimateten Tänze
zu finden sind, und mit Kurzbiographien und Werkübersichten aller relevanten
Komponisten. Auf dem Flug ins equadorianische Quito geriet die Maschine in
ein schweres Unwetter. Das konnte das Ende bedeuten. Slonimsky überlegte:
"Ich bin ich; wenn ich ein Nicht-Ich werde, kann ich keine Trauer über
den Verlust meines früheren Ichs erleben; als ein Nicht-Ich kann ich nicht
die frühere Existenz eines Daseins vergegenwärtigen, mit dem ich mich
jetzt identifiziere. Daher kann ich auch, indem ich ich bin, nicht den Zustand
des Nicht-Ichs vorwegnehmen, und folglich gibt es keinen Übergang vom Ich
zum Nicht-Ich. Quod erat demonstrandum."
Das Flugzeug stürzte nicht ab, und im Frühjahr 1942 kehrte Nicolas
Slonimsky heim zu Frau und Tochter. Als er 1994 seinen hundertsten Geburtstag
beging, erschien eine Sammlung seiner Schriften mit dem Titel 'Nicolas Slonimsky — The
First Hundred Years'. Der 98-jährige, seit dem Tod seiner geliebten Frau
im Jahr 1964 von Boston nach Los Angeles übergesiedelt, hatte noch einmal
seine alte Heimat St. Petersburg besucht. Am ersten Weihnachtstag 1995 entschlief
er und hinterließ der Welt ein Œuvre, das in der Systematik und
Vielseitigkeit seinesgleichen nicht hat und aus dem noch viele weitere Generationen
schöpfen werden. Sein Hauptverdienst war es, der Welt führender Musiklexikograph
und Historiker der Musik des 20. Jahrhunderts zu sein. Hier setzte er mit seiner
unerschöpflichen Neugier, Offenheit und unbestechlichen Genauigkeit vollkommen
neue Maßstäbe. Die Lust am Musizieren, ob systematisch, experimentell
oder launig musikantisch, hat ihn dabei nie verlassen.
2
Nicolas Slonimsky: 'Modinha Russo-Brasileira'
Laurindo Almeida (Gitarre), (1972)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 3 (Dauer: 3'02)
Laurindo Almeida spielte Nicolas Slonimskys 'Modinha Russo-Brasileira'.
Nichts könnte für den Komponisten typischer sein als
der geographische Spagat dieser harmlos-schönen kosmopolitischen
Musik.
Slonimsky beginnt seine Autobiographie mit dem Satz: "Als ich sechs Jahre
alt war, sagte mir meine Mutter, daß ich ein Genie bin." Er wurde
am 27. April 1894 in St. Petersburg in eine jüdische Familie mit außergewöhnlicher
intellektueller und künstlerischer Tradition hineingeboren. Der Urgroßvater
Abraham Stern hatte eine mechanische Rechenmaschine erfunden, die er 1820 in
einer Audienz dem Zaren Alexander I. vorführte. Der Großvater Haim
Selig Slonimski erfand 1859, vor den Amerikanern Stirnes und Edison, den ersten
Telegraphen. Nicolas Slonimsky erhielt bald den vortrefflichsten Klavierunterricht,
der sich denken läßt. Seine Tante Isabelle Vengerova, spätere
Celebrity am Curtis Institute of Music in Philadelphia und Lehrerin u. a. von
Leonard Bernstein, Samuel Barber und Lukas Foss, nahm den Sechsjährigen
unter ihre Fittiche. Ein Versuch des Jugendlichen, den Selbstmord zweier Altersgenossen
zu imitieren, scheiterte kläglich. Er entwarf eine fiktive Autobiographie,
in welcher er seinen eigenen Tod für 1967 voraussagte, woran er sich zum
vereinbarten Zeitpunkt nicht halten sollte. Am Petersburger Konservatorium
studierte er Tonsatz und Orchestration mit den Rimsky-Korsakov-Zöglingen
Vassili Kalafati und Maximilian Steinberg. Nach der Oktoberrevolution 1917
verließ er die dahinsiechende Heimatstadt, die nun Petrograd hieß und
bald in Leningrad umgenannt wurde. Er ging nach Kiev, wo er sich in freidenkerischen
Künstlerkreisen aufhielt und 1919 Kompositionsunterricht bei Reinhold
Glière nahm. Dann schlug er sich auf die Krim nach Jalta durch, als
Jude immer von allen kämpfenden Lagern bedroht, ob russische Monarchisten,
ukrainische Nationalisten oder Bolschewiki. Er hatte Glück und kam per
Schiff nach Konstantinopel, in die freie Welt, wo er dank seines vortrefflichen
Klavierspiels keinen Hunger litt. Weiter ging die Odyssee nach Bulgarien, um
ihn endlich nach Paris zu führen. Dort hörte ihn der charismatische
Dirigent Serge Koussevitzky, ein Landsmann und, so Slonimsky, "superber
Animateur", und sicherte sich seine Dienste als Sekretär, Pianist
und musikalischer Berater. Die Geschichten über diese Zusammenarbeit sind
Legende. So begab es sich, daß Koussevitzky Igor Strawinskys 'Le sacre
du printemps' dirigieren wollte, doch Slonimsky merkte schnell, daß der
Maestro nie in der Lage sein werde, die kompliziert notierten Rhythmen schlagtechnisch
zu meistern. Also erstellte er eine vereinfachte Version, die Koussevitzky
in seiner Not nach einigem Zögern annahm und seither immer dirigierte.
Auch Koussevitzkys berühmtester Schüler in Boston, Leonard Bernstein,
hat die Slonimskysche Fassung des 'Sacre du printemps' übernommen und
schickte dem Urheber zu seinem 90. Geburtstag folgenden Gruß:
"Lieber Nicolas,
jedesmal wenn ich den 'Sacre' dirigiere — was ich das letzte Mal vor
zwei Wochen gemacht habe, und immer aus Koussys Partitur mit deiner Takteinteilung — bewundere
und verehre ich Dich wie beim ersten Mal. Dir alles Gute und noch mehr Kraft!
Lenny."
Slonimskys Name gewann in Fachkreisen schnell an Attraktion, und 1923 ging
er in die USA, wo er an der Eastman School of Music in Rochester als Coach
in der Opernschule verpflichtet wurde. Dort nahm er auch Kompositionsstunden
bei dem Finnen Selim Palmgren und lernte Dirigiertechnik bei dem legendären
Albert Coates. Inzwischen war Serge Koussevitzky Chefdirigent des nicht allzu
fernen Boston Symphony Orchestra geworden und holte Slonimsky wieder an seine
Seite. Allmählich verdichteten sich nicht ohne Grund überall Gerüchte,
Koussevitzky sei fachlich hilflos auf seinen geheimen Mentor Slonimsky angewiesen,
was 1927 dazu führte, daß ihn der ohnehin narzisstische und aller
konstruktiven Kritik unzugängliche Maestro feuerte. Slonimsky freilich
hatte längst anderweitig Wurzeln geschlagen. In Boston hatte er bald Dorothy
Adlow kennengelernt, seine künftige Frau, eine engagierte Kunstkritikerin,
die ihn — so sein autobiographisches Bekenntnis — "von meiner
russischen Neurasthenie reinigte und mich das Leben lehrte". Selbstverständlich
komponierte er, und, da er keinem Ulk abgeneigt war, vertonte 1925 fünf
Werbeanzeigen aus der Saturday Evening Post: Mit emphatischem Belcanto verkündete
er die Segnungen von Zahnpasta, Hautpflegecrème oder Bran Muffins. Kein
Klischee ist sicher vor ihm.
3
Nicolas Slonimsky: aus den 'Five Advertising Songs': 'Make This a Day for Plurodent',
'No More Shiny Nose!'
Deltra Eamon (Sopran), Nicolas Slonimsky (Klavier), (1972)
Orion LP 72100
Tracks 1 und 3 (Dauer: 2'03 und 1'51)
Nicolas Slonimsky begleitete Deltra Eamon in zwei seiner 'Advertising
Songs' von 1925. Bei Koussevitzky in Ungnade gefallen, war er nun
ein umworbener Klavierbegleiter, hatte begonnen, sich in der englischen
Sprache als Journalist zu betätigen und unterrichtete Musiktheorie
an zwei Bostoner Konservatorien. Jetzt stürzte er sich aufs
Dirigieren und führte zunächst ein Studentenorchester
der Harvard University zu ungeahnten Höhen. 1927 scharte er
Musiker des Boston Symphony Orchestra um sich, mit denen er das
Chamber Orchestra of Boston gründete, um moderne amerikanische
Musik in realisierbarem Umfang aufzuführen. Nach den Abenteuern
des Heranwachsens, der Revolution, des Überlebens und der
Neuen Welt kam nun, mit nicht zu zügelnder Lust und Energie,
das wahre Abenteuer der Musik. Eben hatte er Henry Cowell kennengelernt,
den zukunftsweisenden Erfinder der 'tone clusters' und Experimentator
am präparierten Klavier, ohne dessen Experimente das spätere
Wirken eines John Cage undenkbar ist. Als Henry Cowell 1936 wegen
Knabenliebe als neuer Oscar Wilde in die Schlagzeilen geriet und
bis 1940 in den Knast wanderte, war Slonimsky einer der wenigen,
die unverbrüchlich zu ihm hielten, an ihn glaubten und den
brieflichen Kontakt pflegten. Slonimsky beschrieb Cowell als "für
das musikalische Establishment völlig inakzeptables, typisches
Renaissance-Genie", und Cowell seinerseits gab Slonimsky ein
neues Forum:
"Er war es, der mich als Schriftsteller entdeckte. Er forderte mich auf,
etwas zu seinem Musikjournal New Music Quarterly beizutragen — vorausgesetzt,
daß es etwas sei, was kein anderer Verleger jemals akzeptieren würde!
Also hatte ich meinen schriftstellerischen Erstlingsauftritt 1928 in Cowells
Zeitschrift."
Das erste Stück von Cowell, das Slonimsky, natürlich als Uraufführung,
dirigierte, war die dreisätzige 'Sinfonietta' von 1928. Es folgt der Schluß des
ersten Satzes, 'Larghetto'.
4
Henry Cowell: Sinfonietta, 1. Satz 'Larghetto', Schluß
Radio-Sinfonieorchester Saarbrücken, Michael Stern (23. 8. 1999)
col legno CD WWE 20064 (Vertrieb: harmonia mundi; LC 07989)
Track 13, 6'40-7'22, schnell einblenden! (Dauer: 0'42)
Schnell erwarb sich Nicolas Slonimsky höchste Kompetenz und
Reputation als Dirigent der bislang völlig negierten nordamerikanischen
Avantgarde, aber auch in den Werken der Klassiker reüssierte
er mit untrüglicher Partiturkenntnis, höchster rhythmischer
Präzision und phänomenalem Gehör. Die Heroen der
neuen Musik, deren Namen er erstmals in die Schlagzeilen brachte,
waren Charles Ives, Edgard Varèse, Carl Ruggles, Henry Cowell,
Wallingford Riegger, der Mexikaner Carlos Chávez, die Kubaner
Amadeo Roldán und Alejandro García Caturla sowie
viele weitere weniger bekannte Namen. Doch der eigentliche Held
war in aller Augen Slonimsky. Als seine wichtigsten Entdeckungen
erkannte Slonimsky Ives und Varèse, und die Geschichte hat
ihm recht gegeben.
Der Musikschriftsteller Bradford Robinson hat 1987 ein Interview mit Slonimsky
geführt, welches in einer Sendung des SFB Verwendung fand und uns von
Robinson freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Wir möchten
Ihnen dieses Dokument mit rauschender Begleitung einer Klimaanlage nicht vorenthalten.
INTERVIEW MIT O-TON (CD 1, Track 2, 10'36 - 15'13):
"Charles Ives habe ich um 1928 durch Henry Cowell in New York kennengelernt,
als er schon Invalide war. Mit den vortrefflichen Musikern meines Chamber Orchestra
of Boston konnte ich beinahe alles Erdenkliche spielen. Ich ließ Ives wissen,
daß ich neue Werke suchte, und er zeigte mir seine zwischen 1903 und 1914
komponierten 'Three Places in New England'. Die Musik hat mich sofort intensiv
beeindruckt. Ich sah das Werk eines Genies. Ives erstellte auf meine Anfrage
eine Fassung für kleines Orchester. Angesichts der angehäuften Dissonanzen
in Ives’ Suite wäre natürlich ein herkömmliches Orchester
nie auf die Idee gekommen, diese Musik zu spielen. In der Folge habe ich das
Werk in New York am 10. Januar 1931 uraufgeführt. Ives selber saß im
Publikum. Ich glaube, es war das erste Mal, daß er ein Konzert mit seiner
Musik besuchte."
Im Mittelsatz aus Charles Ives’ 'Three Places in New England' läuft
die Musik zum Teil in verschiedenen, einander überlappenden Taktarten
gleichzeitig ab. Nachdem er dies in einem Kanon für Holzbläserquartett
von Wallingford Riegger erprobt hatte, dirigierte Slonimsky bei den weiteren
Aufführungen dieses Stücks tatsächlich mit der linken Hand den
einen, mit der rechten den anderen Takt — und trieb diese Akrobatik zu
einer unnachahmlichen Perfektion, die einen anspruchsvollen Berliner Kritiker
zu der Beschreibung "dirigiertechnisches Phänomen" veranlasste.
Es folgt jetzt dieser Satz, betitelt 'Putnam’s Camp, Redding, Connecticut'.
Eine Aufnahme unter Slonimsky ist leider nicht verfügbar, aber auch Michael
Tilson Thomas am Pult des San Francisco Symphony Orchestra bewegt sich hier
wie ein Fisch im Wasser.
5
Charles Ives: aus den 'Three Places in New England', 2. Satz 'Putnam’s
Camp'
San Francisco Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas (Oktober 1999)
RCA CD 09026 63703 2 (Vertrieb: BMG; LC 00316)
Track 8 (Dauer: 5'22)
INTERVIEW MIT O-TON (CD 1, Track 2, 22'46 - 25'03):
"Ives hat zwar amerikanische Lieder und Worte verwendet — fast alle
Werktitel beziehen sich auf Amerikanisches —, aber er verstand seine Musik
als universell. In diesem Milieu fühlte ich mich ziemlich frei. Ich wußte
zwar, daß die Stücke und Lieder, die er zitierte, amerikanisch waren,
aber ich habe diese Musik von einem universellen Standpunkt aus aufgefaßt,
wie der Böhme Dvorák oder der Finne Sibelius für mich auch nicht
in erster Linie Nationalkomponisten, sondern universelle Schöpfer sind.
Und das konnte ich nur so begreifen, weil Ives die nötigen Mittel eingesetzt
hatte, eine universelle Musik zu gestalten."
Die raumgreifende Entdeckung der amerikanischen Avantgarde muß ohne jeden
Zweifel zuallererst als Verdienst Nicolas Slonimskys verstanden werden.
INTERVIEW MIT O-TON (CD 2, 9'37 - 12'37):
"Wenn mein Beitrag zu dieser Entwicklung überhaupt eine Bedeutung hat,
dann liegt diese darin, daß ich meine eigene Karriere aufs Spiel setzte,
um eine Musik aufzuführen, die ich allerdings damals nicht etwa für
die »Musik der Zukunft« gehalten, sondern vielmehr als die eigentliche
Musik der Gegenwart betrachtet habe — vor 50 Jahren. Rückblickend
bin ich fest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben — vielleicht
war ich einfach derjenige, der den Sonnenaufgang etwas früher als die anderen
erblickte."
Auch die bedeutendste Komposition eines anderen, in seiner harschen Kompromißlosigkeit
von Ives hochgeschätzten amerikanischen Modernisten, hat Slonimsky als
erster dirigiert: den 'Sun-Treader' von Carl Ruggles, der seinerzeit als gewaltiges
dissonantes Ungetüm auf vehemente Ablehnung der etablierten Kritik stieß.
Als er das Werk nach der Pariser Uraufführung 1932 mit den Berliner Philharmonikern
machte, übersetzte Slonimsky den Titel mit 'Sonnenläufer', worauf
die Berliner Presse mit dem Vorschlag 'Latrinenläufer' konterte.
"Ein Schönberg-Anhänger war Ruggles zwar nie — eigentlich
hat er sich für spezifische Kompositionsverfahren gar nicht interessiert —,
aber er schrieb atonale Musik unabhängig von allen anderen Komponisten seiner
Zeit. Carl Ruggles war fest entschlossen, eine ganz eigene Art von Musik zu schöpfen."
Es folgt der Anfang von Carl Ruggles’ 1926-31 entstandenem, monumental-dissonantem
'Sun-Treader', gespielt vom Boston Symphony Orchestra unter Michael Tilson
Thomas, der als erster das Gesamtwerk von Ruggles aufgenommen hat.
6
Carl Ruggles: 'Sun-Treader', Anfang
Boston Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas (1970)
Deutsche Grammophon CD 429 860-2 (Vertrieb: Universal Classics; LC 0173)
Track 1, 0'00-3'07, ausblenden! (Dauer: 3'07)
Soweit ein Ausschnitt aus dem 'Sun-Treader' von Carl Ruggles,
eines Komponisten, der in Europa bis heute ein Insidertip geblieben
ist. Nicht so Edgard Varèse. Varèses Musik war wie
geschaffen für Slonimskys erklärte Ambition, dem entgegenzuwirken,
was er als 'non-acceptance of the unfamiliar' bezeichnete.
INTERVIEW MIT O-TON (CD 2, 0'32 - 6'00):
"Natürlich hat mir Varèse durch seine Briefe und Gespräche — wir
haben uns immer auf französisch verständigt — sehr geholfen.
Er schrieb seine Musik als eine Folge von Formeln. Manchmal waren diese Formeln
Dreiklänge, manchmal einfache oder chromatische Tonleitern; diese Elemente
konnten sowohl konsonant als auch dissonant sein. Aber sie durften nur in einem
logisch aufgebauten Gefüge auftreten. Und diese Art von Musik konnte ich
ohne jegliche Schwierigkeit begreifen, denn ich war selber zum Teil Mathematiker,
d. h. in meiner Denkweise. Ich hatte zwar meine Mathematikstudien an der Universität
von St. Petersburg nie abgeschlossen, aber ich konnte im Sinne von Formeln mathematisch
denken, auch wenn es sich um musikalische Formeln handelte. Von daher fiel mir
auch Varèses Musik nicht schwer. Einmal sagte ich ihm, seine Musik würde
eigentlich viel eher zur Notre-Dame-Schule des 11. und 12. Jahrhunderts gehören,
daß er der Leoninus und Perotinus der Gegenwart sei. Das hat ihm sehr gut
gefallen. "Ja", meinte er, "du hast mich richtig verstanden, denn
ich fühle mich diesen alten Meistern tatsächlich sehr nah, die eine
musikalische Welt errichteten, die vorher nicht existierte."
Varèses 'Ionisation' für Schlagzeug-Ensemble analysierte Slonimsky
als Sonatenform und mußte feststellen, daß die Schlagzeuger der
New Yorker Philharmoniker den Anforderungen der Partitur nicht gewachsen waren.
Er stellte nun ein Ensemble aus Komponistenkollegen für die Uraufführung
zusammen, in welchem unter anderen spielten: Carlos Salzedo: Chinese blocks,
Paul Creston: Amboß, Wallingford Riegger: Guiro, Henry Cowell: Klavier-Clusters,
William Schuman: Lion’s roar — und last not least bediente Varèse
selbst die Sirenen, die von der New Yorker Feuerwehr ausgeliehen wurden. Die
nun folgende Aufnahme wurde am 6. März 1933 direkt anschließend
an die Uraufführung gemacht. Sie durfte dann leider nicht gesendet werden,
weil die Rundfunkübertragung von New Yorker Feuerwehrsirenen exklusiv
der New Yorker Feuerwehr zustand. Es folgt Varèses 'Ionisation' mit
dem sagenhaften New Yorker Komponistenensemble unter Nicolas Slonimsky. |
INTERVIEW MIT O-TON
(CD 1, Track 1, 18'14 - 18'58):
"Ich stand kurz vor einer glänzenden Karriere. Meine Berliner Agentur
gab eine Broschüre heraus mit all diesen außerordentlichen Pressestimmen,
die ich heute nicht einmal erwähnen kann, ohne vor Verlegenheit zu erröten.
Meine Karriere fing also gerade an. Leider — wie wir heute nur allzu gut
wissen — ist Deutschland und der ganzen Welt 1933 etwas passiert, das mein
weiteres Auftreten in Deutschland unmöglich machte."
Zunächst sah es jedoch in Amerika so aus, als stünde dem Durchbruch
Slonimskys zum großen Dirigentenstar nichts im Wege. Er wurde für
den Sommer 1933 in die Hollywood Bowl engagiert und machte dort durchaus Furore.
Doch die Bevorzugung moderner Stücke, selbst gemäßigten Kalibers
wie etwa von Roy Harris, mißfiel den Organisatoren. Als Slonimsky sich
den Wünschen des Managements nicht beugte, verzichtete man auf seine weiteren
Dienste. Da sagte er sich: Wenn ich nicht dirigieren soll, was ich machen möchte,
dann hat es keinen Sinn mit dem Dirigieren. So blieb der Auftritt mit den Berliner
Philharmonikern der einsame Höhepunkt in Slonimskys Dirigierkarriere. In
der Folge machte er von diesem spektakulärsten Aspekt seiner Begabung nur
noch bei seltenen Gelegenheiten Gebrauch und wandte sich neuen Feldern zu. Er
hatte dann immerhin noch genug Zeit und Energie, um einer der beschlagensten
Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts und der eminenteste Musiklexikograph aller
Zeiten zu werden. Und natürlich komponierte er weiterhin. Eines seiner früheren
Werke verdient besondere Erwähnung: die 1928 veröffentlichten 'Studies
in Black and White' für Klavier, bitonale Miniaturen, bei denen eine Hand
auf den schwarzen, die andere auf den weißen Tasten herumturnt, die resultierenden
Zusammenklänge aber immer konsonant sind. Später hat Slonimsky diese
Stücke als 'Piccolo Divertimento No. 1' für kleines Ensemble mit Schreibmaschine
und miauender Katze arrangiert. Die acht Sätze heißen: 'Jazzelette',
'A Penny for Your Thoughts', 'A Merry Interlude', 'Fugato', 'Anatomy of Melancholy',
'Bitonal March', 'Valse très sentimentale' und 'Typographical Errors'.
Der vorliegende Mitschnitt wurde bei einer Party anläßlich von Slonimskys
95. Geburtstag gemacht. Die nicht allzu präzise Aufführung leitet William
Kraft.
8
Nicolas Slonimsky: 'Piccolo Divertimento No. 1'
Cal Arts Ensemble, William Kraft (Los Angeles, live, 27. 4. 1989)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 1, bis 8'21 (Dauer: ca. 8'20; Pausen zwischen Sätzen verkürzen!)
1937 veröffentlichte Nicolas Slonimsky sein erstes epochemachendes
Werk, ein Buch mit dem Titel 'Music Since 1900', de facto eine Musikgeschichte
des 20. Jahrhunderts in Tagesereignissen, oder, wie er es nannte,
eine 'Deskriptive Chronologie'. 1994 erschien die letzte von ihm
betreute Edition dieses Mammutwerks, beginnend mit der Uraufführung
von John Philip Sousas Oper 'Chris and the Wonderful Lamp' am 1.
Januar 1900 und endend mit dem Tode Ernst Kreneks am 23. Dezember
1991 in Palm Springs. Niemand wagte bisher, dieses Projekt fortzusetzen,
und wer könnte das schon auf einem adäquaten Niveau? Wie
es sein idiosynkratischer Ehrgeiz wollte, lieferte Slonimsky selbst
die umfangreichsten Beschreibungen stets in einem Satz, und Treffenderes
und anregender zu Lesendes wird sich in vergleichbaren Kompilationen — die
es eigentlich gar nicht gibt — nirgendwo finden lassen. Im
Anhang finden sich 'Letters and Documents', eine einmalige Sammlung
musikgeschichtlich relevanter Schriften, inklusive zahlreicher Briefe
und Stellungnahmen der komponierenden Prominenz, Manifeste und Deklarationen,
aber auch die Verhör-Protokolle der McCarthy-Häscher im
Fall Hanns Eisler. Und dann fügt Slonimsky ein 'Dictionary of
Terms' an. Der Wert des Letzteren kann gar nicht überschätzt
werden. Der Slonimsky-Kenner Bradford Robinson hat sich freundlicherweise
bereit erklärt, eine kleine Einführung in die Welt der
Slonimskyschen Definitionen zu geben, und wird zudem ein weiteres
Standardwerk ganz anderer Art von Slonimsky vorstellen.
¢¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[
Als Nicolas Slonimsky 1923 erstmals amerikanischen Boden betrat,
konnte er kein einziges Wort Englisch außer einigen wenigen
Phrasen, die er sich während der Schiffsreise mühevoll
eingepaukt hatte. Eine dieser Phrasen sollte zwar für sein späteres
Leben in der künftigen Wahlheimat bezeichnend sein — "I
came to cheer you up" (ich bin gekommen, um euch aufzuheitern) —,
aber selbst diese schlichte Formel verstand der 30-jährige damals
noch nicht. Getreu dem ihm eigenen Forschungsdrange machte er sich
bald auf den Weg, die neue Sprache so zu erlernen, als ob es sich
um einen längst ausgestorbenen Dialekt handelte. In einem Interview
gestand er zwei Jahrzehnte später, daß er ein vollständiges
Wörterbuch der englischen Sprache als Bettlektüre miflbrauchte
und Abend für Abend zwanzig der längsten und schwierigsten
Wörter der englischen Sprache auswendig lernte. Bald reichte
jedoch das Wörterbuch für seine entfesselte sprachliche
Fantasie nicht mehr aus: Mit Hilfe seiner Kenntnisse von Deutsch,
Russisch, Französisch, Altgriechisch und Latein baute er selber
Wörter zusammen, die zwar noch nie in der Geschichte der englischen
Sprache vorgekommen waren, die jedoch an Genauigkeit und Nützlichkeit
als Fachbegriffe nichts zu wünschen übrig ließen.
Kaum 14 Jahre nach seiner Ankunft in den USA sahen sich die Leser
von 'Music Since 1900' in einem Anhang von "musikalischen Fachbegriffen" mit
einer Vielzahl neuer Termini konfrontiert, die allesamt etwas über
das Wesen der Neuen Musik verrieten. Mit 'Anamnesis' wird beispielsweise
das Phänomen bezeichnet, in dem ein Thema in einer thematisch-motivisch
fremden Umgebung explosionsartig wieder in Erinnerung gerufen wird;
'sonic exuviation' hingegen bezieht sich auf das Verfahren, bei welchem
sich ein komplexes Klanggebilde gleichsam "häutet" und
in nackter, ureigener Schlichtheit erscheint — ein Verfahren,
das bei Charles Ives mehrfach vorkommt. Kompositionstechnisch noch
genauer ist etwa der Begriff 'imbricated counterpoint', der sich
ins Deutsche grob als "hohlziegelförmige Polyphonie" übersetzen
ließe und eine kanonisch geführte imitatorische Engführung
bezeichnet, in der sich die unveränderlichen Einzelteile alle
wie Dachziegel überlappen — ein Verfahren, das unmittelbar
auf die Mikropolyphonie eines György Ligeti hinweist. Die kompositiontechnischen
Wortprägungen Slonimskys gipfelten in einer grandiosen Selbstpersiflage
unter dem Begriff 'sesquipedalian macropolysyllabification', das
heißt der Verbreitung von überdimensionierten mehrsilbigen
Fachbegriffen in der wissenschaftlichen Beschreibung von Musik. Hier
Slonimskys Begriffsbestimmung dieses fachterminologischen Monstrums:
ZITAT: 'Sesquipedalian Macropolysyllabification'
Bloßes Wortspiel, akribische Analyse oder versteckte Selbstkritik?
Bei Slonimsky schwebt man oft seiltänzerisch zwischen diesen
drei Möglichkeiten, ohne zu wissen, wo man beim Absturz aus
den wortschöpferischen Höhen schließlich landen wird.
Ein ähnlicher Geist durchdringt sein 10 Jahre später erschienenes
Kompendium der Tonleitern, 'Thesaurus of Scales and Melodic Patterns'.
Angeregt wurde das bahnbrechende und allumfassende Werk durch zwei
Gedanken: Erstens hatte sich die bisherige abendländische Musikgeschichte
durch die Fixierung auf einige wenige Tonleitern — Dur/Moll
etwa oder die sogenannten Kirchentonarten — in eine hoffnungslose
Enge treiben lassen, von der es sie nun zu befreien galt. Zweitens
krankten alle bisherigen Tonleitern an einer asymmetrischen Unterteilung
der Oktave in eine Quinte und eine Quarte, während eine symmetrische
Unterteilung um den Tritonus eine unendlich größere Vielfalt
an Möglichkeiten ergeben würde. Mehr noch: Warum sollte
die einfache Oktave als unverrückbare Einheit der Tonleiter
gelten? Sicherlich gäbe es auch Tonleitern, die erst nach Ablauf
von zwei, drei oder noch mehr Oktaven an ihrem Endpunkt angelangen!
Das Ergebnis dieser neuartigen Gedanken war ein systematisch aufgebautes
Sammelsurium von nicht weniger als 1330 Tonleitern — die genaue
Anzahl läßt sich kaum festlegen, zumal jede Tonleiter
in mindestens zwölf weiteren Transpositionen erscheinen kann —,
das das Thema 'Tonleiter' im wahrsten Sinne des Wortes erschöpft.
Um die neuartigen Tonleitern zu benennen, musste Slonimsky wieder
zu neuen Wortschöpfungen greifen, von denen sich viele mittlerweile
in die musikalische Fachsprache eingebürgert haben. Noch mehr:
Aus den neuartigen Tonleitern lassen sich ebenso neuartige Akkordfolgen
bilden. Slonimskys 'Thesaurus' erwies sich als Fundgrube, aus der
seine Komponistenkollegen bald neue "Einfälle" schöpften.
Berühmtheit und Kultstatus erreichte das Werk jedoch erst mit
seiner Entdeckung durch die Jazzmusiker, die auf der Suche nach neuen
Melodiebildungen auf das Kompendium stießen und die es heute
als jazztheoretische Pflichtlektüre betrachten. Einer der großen
Fans von Slonimsky war Frank Zappa, und als in diesem Zusammenhang
passendes Stück hören wir nun einen kurzen Ausschnitt aus
Zappas 'Jazz from Hell'.
9
Frank Zappa: 'Jazz from Hell', Schluß
Frank Zappa (Lead Guitar) & Band (1986)
Zappa Records ZAP 32
Track 4, 2'26-2'56, einblenden! (Dauer: 0'30)
Der besondere Stolz Slonimskys in seinem 'Thesaurus' war die Entdeckung
des von ihm sogenannten 'Großmutterakkords'. Wie kam es dazu?
1921 hatte der österreichische Komponist Fritz Heinrich Klein
in seiner Komposition 'Die Maschine. Eine extonale Selbstsatire'
einen Akkord erfunden, in dem alle 12 Töne der chromatischen
Tonleiter sowie alle 11 Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur
großen Septime enthalten sind. Alban Berg nannte dieses Gebilde
in seiner Zwölftoneuphorie den "Mutterakkord". Slonimsky
aber wollte noch mehr. Der 'Mutterakkord' ließ ihn nicht zur
Ruhe kommen. Schließlich erfand er eine fundamentalere und
nur in dieser spezifischen Konstellation vorkommende Gestalt, in
der nicht nur alle Eigenschaften des Kleinschen Mutterakkords vertreten,
sondern überdies die elf Intervalle symmetrisch um die Mitte
als Umkehrungen gruppiert sind insofern, als jedes Paar aus Komplementärintervallen
besteht. Diesem stolzen Gebilde, das durch ein kleines Kunststück
der algebraischen Geometrie entstand, verlieh er — wohl auch
mit einem verschmitzten Lächeln — den Namen 'Großmutterakkord'.
¢¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[¢[
Slonimskys Großmutterakkord fand, wie übrigens seine
ganzen Skalen- und Patterngenerationen aus dem 'Thesaurus', unabsehbare
Verbreitung. So bemächtigte sich der hervorragende schwedische
Komponist Karl-Birger Blomdahl des Großmutterakkords für
seine 1959 uraufgeführte Oper 'Aniara', die erste Weltraum-Oper
der Geschichte. Von Anfang an ist in dem Werk die Großmutter
präsent — in den Streichern auf- und in den Holzbläsern
niedersteigend und eine unheimliche, bedrohliche Atmosphäre
verbreitend. Das Werk handelt von Menschen an Bord eines Raumschiffs,
welche nach einem Atomkrieg die unbewohnbar gewordene Erde verlassen
haben und, geleitet vom Elektronenhirn Mima, dem Mars entgegenfliegen.
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Karl-Birger Blomdahl: Aniara, Anfang
Symphonie-Orchester des Schwedischen Rundfunks, Stig Westerberg (1985)
Caprice CD 22016 (Vertrieb: Liebermann)
CD 1, Track 1, 0'02- (ausblenden bis:) 0'45 (Dauer: 0'43)
Slonimsky selbst hat selbstverständlich ausgiebigen kompositorischen
Gebrauch von den Errungenschaften seines 'Thesaurus' gemacht. In
seinen 51 'Minitudes' finden sich viele Beispiele praktischer Verwertung.
Die abschließende 'Minitude' mit dem Titel 'Orion' ist logischerweise
eine melodische Projektion des Großmutterakkords, in Slonimskys
Erläuterung: "The eponymous Grandmother is then stretched
out horizontally to the bursting point."
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Nicolas Slonimsky: 'Orion' from '51 Minitudes'
Nicolas Slonimsky (Klavier), (1972)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 6, Anfang bis 0’56 (Dauer: 0’56)
Im Frühjahr 1981 lud ihn sein Fan Frank Zappa zu sich in die
Hollywood Hills ein und zeigte ihm seine von Varèse und dem
'Thesaurus' beeinflußten Kompositionen. Er bat Slonimsky, ihm
auf dem Klavier etwas vorzuspielen. Dieser spielte das soeben erklungene
Stück 'Orion', worauf ihn Zappa aufforderte, es in seinem Konzert
am folgenden Tag vorzutragen. Und so geschah es: der fast 87-jährige
Nicolas Slonimsky gab mit Frank Zappas Band in Santa Monica sein
Rockkonzert-Debüt am E-Piano vor einem rasenden Publikum.
"Ich fühlte mich wie ein Eindringling in eine verrückte Szene
aus 'Alice in Wonderland'. Ich hatte mein Zeitalter der Absurdität betreten."
Eine aktuelle Reverenz an Slonimsky ist unlängst auf CD erschienen: John
Adams, auch er lange schon ein Fan Slonimskys und natürlich vertraut mit
allen Untiefen des 'Thesaurus', komponierte 1996 ein brillantes Orchesterstück
mit dem slonimskianischen Titel 'Slonimsky’s Earbox'.
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John Adams: 'Slonimsky’s Earbox', Schluß
Hallé Orchestra, Kent Nagano (1999)
Nonesuch CD 7559-79607-2 (Vertrieb: Warner)
Track 5, 12'48-13'17, schnell einblenden! (Dauer: 0'29)
Nicolas Slonimsky hat im Verlaufe seines langen Lebens viele Felder
bestellt. So wirkte er nach dem Zweiten Weltkrieg als Lehrbeauftragter
für slawische Sprachen an der Harvard University, bereiste,
seit 1931 amerikanischer Staatsbürger, 1962-63 im Auftrag des
Office of Cultural Exchange die kommunistischen Länder Osteuropas,
unterrichtete 1964-67 verschiedene musikalische Disziplinen an der
University of California und war Mitglied des Editorial Board der
Encyclopedia Britannica. In der ersten Auflage seines berühmten
Kompendiums 'Music Since 1900' von 1937 präsentierte er im Anhang
umfangreiche Listen von Korrekturen und Ergänzungen zu den arrivierten
Musiklexika Grove, Riemann und Hull. Es ging nicht um Kleinigkeiten,
sondern um Unmengen falscher Geburts- und Sterbedaten auch bei der
wirklichen Prominenz, wie etwa im Grove bei Mussorgsky oder Puccini.
Einer der lustigsten Vermerke lautet: "Alexander Siloti starb
nicht 1919. Er lebt und wohnt im Hotel Ansonia in New York."
Damit betrat Slonimsky das Feld, wo er am meisten geleistet hat und wohl für
immer das sein wird, was er gerne überall gewesen wäre: der Größte.
1946 übernahm er die Herausgabe von 'Thomson’s International Cyclopedia
of Music and Musicians', die er von der 4. bis zur 8. Edition betreute. Dann
wurde er 1958 Herausgeber von 'Baker’s Biographical Dictionary of Musicians'
und gab nun endgültig den Kurs für alle anderen Musiklexika vor.
Unter seiner Leitung wurden die 5. bis 7. Edition des 'Baker’s' herausgegeben,
das letzte Mal im Alter von 90 Jahren. Unbestechlich und mit unermüdlicher
Akribie und Verve erschloß er Quelle um Quelle und schuf so einen völlig
neuen Standard der Musiklexikographie, der heute zu halten versucht wird — was
mindestens in stilistischer Hinsicht nirgendwo mit solcher Kontinuität
eingelöst werden konnte. Slonimskys Lexika sind eben, so die einhellige
Einsicht der Fachleute, nicht nur zum Nachschlagen, sondern auch zum Lesen
da. Und er hat nicht nur die Fachwelt bedient, sondern gerade auch das Populärwissen
intensiv gefördert mit Publikationen wie 'The Road to Music', einem Grundlagenbuch
für jedermann; mit dem 'Lectionary of Music', einem unterhaltsamen Nachschlagewerk
voll Wissenswertem, das sich in keinem anderen Lexikon findet; mit dem 'Book
of Musical Anecdotes', das falsch überlieferte Legenden entlarvt und bislang
nicht Bekanntes über die großen Komponisten mitteilt; und mit dem
'Lexicon of Musical Invective', einer einzigartigen Sammlung schmählichster
Verunglimpfungen der großen Meisterwerke. Geistig kannte er kein Alter.
Und natürlich hat Slonimsky weiterhin Miniaturen komponiert und selbst
vorgetragen. Diese weisen ihn als eine einzigartige Kreuzung von raffiniertem
Experimentator, naivem Musikanten, skurrilem Humoristen und systematischem
Forscher aus. Es folgt eine weitere Serie von 4 'Minitudes' für Klavier,
gespielt von Slonimsky selbst: 'Bach in Fluid Tonality', 'Bach x 2 = Debussy',
'Schoenwagnerberg Boustrophedon' und 'La Tromperie ensourdinée'.
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Nicolas Slonimsky: 4 'Minitudes': 'Bach in Fluid Tonality', 'Bach x 2 = Debussy',
'Schoenwagnerberg Boustrophedon', 'La Tromperie ensourdinée'
Nicolas Slonimsky (Klavier), (1972)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 6, 0'57-3'21 (Dauer: 2'24)
Der Rang Nicolas Slonimskys als Musikforscher und Musiklexikograph
steht als ein überragender außer jedem Zweifel. Seine
historische Bedeutung als Pionierdirigent der amerikanischen Avantgarde
um Ives, Cowell, Varèse und Ruggles gleichfalls. Daß er
auch als Komponist von Interesse sein könnte, hat sich bislang
nicht herumgesprochen. Slonimsky wollte seine Autobiographie 'Perfect
Pitch' ursprünglich mit dem Titel 'Failed Wunderkind. A Rueful
Autopsy' versehen, also 'Gescheitertes Wunderkind. Eine reumütige
Autopsie'. Das ist nicht nur der eitle Scherz eines alten Mannes.
Am Ende der Autobiographie geht er darauf noch einmal ein und bilanziert:
Um Weltklasse zu sein, hatte er als Pianist in Oktavpassagen nicht
genug Bravura; als Komponist schrieb er nur Miniaturen; als Dirigent
scheiterte er an der Unbedingtheit seiner Ambitionen, was er am traurigsten
findet; aber als Lexikograph, das weiß er, hat er es geschafft,
der Welt Erster zu sein. Und ein Kind ist er geblieben, was mit dem
abschließenden Musikstück nicht schwer zu unterstreichen
ist: einem Variationensatz über ein brasilianisches Karnevalslied,
welches er 1942 auch mit dem ins Englische übersetzten Liedtitel
'My Toy Balloon' für ein Orchester gesetzt hat, dessen Spieler
auf dem finalen Sforzato jeder einen Luftballon platzen lassen sollen.
In der Klavierfassung, die Nicolas Slonimsky selbst vorträgt,
heißt das Stück schlicht 'Variations on a Kindergarten
Tune'.
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'Variations on a Kindergarten Tune (My Toy Balloon)'
Nicolas Slonimsky (Klavier), (1971)
Cambria CD (www.cambriamus.com)
Track 5 (Dauer: 4'34)
Unser besonderer Dank für die intensive Unterstützung
und freundliche Überlassung von Materialien und Informationen
gilt Nicolas Slonimskys in Manhattan lebender Tochter Electra Slonimsky
Yourke.
Sendemanuskript für BR 4 (Redaktion: Wolf Loeckle)
Produktion: 29.09..2003
Erstsendung: 04.10..2003, 20'05 - 21'30
Sprecher: Friedrich Schloffer & die Autoren.
Christoph Schlüren mit einem Beitrag von Bradford Robinson, 09/2003 |