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Musikhelden in der Axtfabrik

Debüt der Scuola di Rony Rogoff beim Bologna Festival Musica

Italien steht vor einem Scherbenhaufen, der sich Orchesterlandschaft nennt, seit die nationale Rundfunkanstalt Rai drei ihrer vier Symphonieorchester aufgelassen und die Spitzenkräfte aller vier bisherigen Einrichtungen in Turin zu einem einzigen Repräsentationsorchester zusammengezogen hat. Neapel ist so nun symphonisches Niemandsland, Rom wird einzig durch das Santa-Cecilia-Orchester versorgt, Mailand durch die Philharmoniker der Scala. Insgesamt ists um die klassische italienische Musikkultur schlechter denn je bestellt, und auch der weithin beliebte Riccardo Muti hat sich kürzlich als abonnentenfreundlicher Streikbrecher keineswegs als weitblickender Stratege erwiesen. Eine der gravierendsten Folgen des Kahlschlags ist natürlich, daß der musikalische Nachwuchs sich ins Leere entwickelt - wo eine Stelle bekommen, wenn die Institutionen verschwinden?
Notstand wirkt nicht auf alle lähmend: manchen verleiht er erst die rechte Dynamik, manche Gruppe schweißt das erst richtig zusammen. In jahrelanger Kleinarbeit hatte der junge Dirigent Leonardo Gasparini in Venedig seine Sinfonietta Veneta aufgebaut, ein Streicherensemble aus ambitionierten jungen Talenten. Allmählich kam man in Italien zu einem ausgezeichneten Ruf, wurde für Kantabilität und Legato-Kultur bewundert. Doch plötzlich, im Herbst 1992, verschwand Gasparini von einem Tag auf den anderen in der Versenkung, und das Orchester war ohne jede Ankündigung völlig auf sich selbst gestellt. Gasparini ist später wieder in Paris aufgetaucht, hat jedoch seither mit seinen Musikern nichts mehr zu tun. Die wissen nach wie vor nicht, was damals eigentlich vorgegangen ist. Bella Italia...
Einige Mitglieder des Ensembles waren da schon seit längerem Schüler des israelischen Geigenvirtuosen Rony Rogoff, dessen Vater Mitgründer des Israel Philharmonic Orchestra war, dessen Mutter und dessen Bruder Ilan exzellente Pianisten sind. Als Sproß einer echten Musikerfamilie sog Rony die kammermusikalische Realität sozusagen mit der Muttermilch ein. Er studierte mit Szigeti, Galamian und Dorothy DeLay. Früh gab ihn sein Vater in die künstlerische Obhut von Sergiu Celibidache, mit dem er seit den siebziger Jahren auch als Solist konzertierte, so in Konzerten von Mozart und Berg. Was an Musikantentum bei Rogoff so reich angelegt war, wurde in der Auseinandersetzung mit diesem Übervater erst ausgeformt. Rogoff, der vielbeachtete Solorecitals im New Yorker Lincoln Center (mit Bach und Stockhausen) gab, verspürte danach immer mehr den Drang, sein musikalisches Wissen weiterzuvermitteln. Heute ist er als Pädagoge eine unumstößliche Autorität, als konzertierender Musiker aber - zumindest in Europa - relativ unbekannt. Seine italienischen Schüler besuchten die Meisterklassen, die er zweimal jährlich in Deutschland abhielt. Da die Italiener sich als das treueste und begeisterungsfähigste Schülerkontingent herauskristallisierten, entschloß sich Rogoff vergangenen Herbst schließlich, die ganze Aktivität endgültig nach Italien zu verlagern und einen lange gehegten Traum wahrzumachen: eine Heimstatt für Fortgeschrittene, die zugleich solistisches Forum, kammermusikalischer Zirkel und Kammerorchester der Spitzenklasse sein sollte.

Im November letzten Jahres wurde in Arcugnano, einem kleinen Dorf bei Vicenza, die Scuola di Rony Rogoff ins Leben gerufen - in den Räumen einer ehemaligen Axtfabrik, unter den bescheidenen Gönnerhänden der Familien einiger Mitwirkender. Das Projekt machte so grandiose Fortschritte, daß man aus dem nahegelegenen Bologna Beobachter ausschickte, um eine künftige Einbindung in das jährliche Festival zu erwägen. Die Festivalmacher befanden, daß hier nichts abzuwarten sei. Da das Bologna Festival Musica aber zur traditionellen Laufzeit zwischen April und Juni bereits ausgelastet war, entschloß man sich zu einem Appendix: erstmals fand das Festival im September eine herbstliche Fortsetzung, die mit fünf Konzerten an drei Abenden ausschließlich der Präsentation der Scuola di Rony Rogoff vorbehalten war.
Die Veranstaltungen im ehrwürdigen Teatro Comunale wurden durchgehend ein bedeutender Erfolg, nicht nur bei Fachleuten, die die starke Akzentsetzung auf das Schaffen des 20. Jahrhunderts lobten: Bartók, Schönberg, Webern, Berg, Stockhausen - alles ganz spezifisch gereift in der intensiven und langen Auseinandersetzung, waren dies doch die ersten offiziellen Konzerte der Scuola. Höhepunkte waren das Schubert-Oktett in höchster Verfeinerung, bezwingend gespannten weiten Bögen; ein zweites Bartók-Quartett, das hohe klangliche Verschmelzung und selbstverständliches Sich-Bewegen im vierstimmigen Geflecht offenbarte; die durchweg bezwingende Entwicklung der Gedanken in der Cellosonate von Debussy durch Giuseppe Barutti, der am Anfang einer vielversprechenden Solokarriere steht; und natürlich Rogoffs Auftritte, sei es als Solist mit Mozarts G-Dur-Konzert oder Stockhausens Tierkreis, sei es als impulsiver Dirigent einer farbenprächtig schillernden Dvorák-Streicherserenade. Beileibe nicht alles war perfekt, was bei den langen Programmen und der vielfältigen Einbindung der meisten Mitwirkenden kein Wunder ist. Doch genügt das technische Niveau erstrangigen Ansprüchen, und die gestalterische Potenz ist außerordentlich.
Nun kann man nur hoffen, daß der Enthusiasmus für die Sache so weiterträgt, nicht für einige zu einer bedingungslosen Vergötterung von Maestro Rogoff führt. Denn bisher geht es nicht primär um seine Person, ist aber auch nicht von ihr zu trennen. Die Italiener brauchen Helden, und Rogoffs Aufgabe besteht nach dem aufsehenerregenden Debüt nicht nur darin, der Region einen herausragenden Klangkörper zu schenken, sondern auch das Potential starker Einzelbegabungen sich frei entfalten zu lassen.

Christoph Schlüren im September 1995

(gekürzt veröffentlicht in Frankfurter Rundschau)