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Navigator ins Ungewisse

Simons Rattles Zyklus "Zeitgenosse Beethoven"

Salzburg. Eine wirklich vortreffliche Idee war es, im Windschatten der neun Beethoven-Symphonien an fünf Abenden Werke von fünf britischen Tonsetzern unserer Tage unters feine Salzburger Publikum zu schmuggeln. Die forsche Aktion, durchgeführt vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter seinem scheidenden Music Director Simon Rattle, trug den sinnigen Decknamen Zeitgenosse Beethoven und setzte vor allem auf unmißverständlichen Kontrast. So verbreitete zwischen der Euphorie von Beethovens Erster und Eroica Mark-Anthony Turnages Kai für Solocello und Kammerensemble jazzig unterfütterten Trauerflor. Simon Rattle hielt seine Musiker – unter ihnen zwei Saxophone, Baßgitarre und Drumkit – in dem gegen Ende recht langatmigen Werk in den bewegteren Mittelteilen zu jazzigem Idiom an und berührte so etwas von jenem basic instinct, den Turnage zu treffen versucht. Anrührend, ohne in jämmerliche Sentimentalität zu verfallen, spielte Ulrich Heinen den Solopart aus. Tags darauf erklang mit …through the glass ein strukturell dicht gearbeitetes Werk für sechzehn Spieler des 1946 geborenen Colin Matthews – ein die Sinne verzauberndes l’art-pour-l’art-Elaborat fern der Bekenntniswelten der umgebenden Zweiten und Fünften Beethoven-Symphonien. Matthews hat sich in dem 1994 vollendeten Stück von den konstruktivistischen und minimalistischen Tendenzen früherer Tage losgelöst und zu zwangloser Fluidität, zu organischer Verflechtung gefunden. In spielerisch wechselnden, bezüglich Tempi und Charakteren sehr unterschiedlichen Abschnitten entwirft das kleine Ensemble ein fantastisches Spektrum an betörenden Farbkombinationen, zusammengehalten vom Prinzip melodischer Verwandtschaft. Der hymnische Schlußteil ist nicht aufgesetzt, sondern geht bezwingend aus dem Bestehenden hervor. Matthews hat hier zu einer Balance der Kräfte gefunden, die aktuelle Trends transzendiert.
Zwischen Achter Symphonie und Pastorale wurde – einem aus einer dunklen, verwundeten Welt hereingeplatzten Fremdkörper gleich – Simon Holts 1990 entstandenes Oktett Lilith plaziert. Alle Werke des 1958 geborenen Holt sind Reflexionen existentieller Innenschau. Intuitiv anverwandelte Musik, die in ihrer nicht voraussehbaren, gleichwohl innerlich folgerichtigen Dynamik Angst und Bedrohung geradezu greifbar klingende Gestalt verleiht. Knappe Floskeln wiederholen sich starr. Plötzliches Innehalten. Ein neuer Impuls, eine andere Kammer tut sich auf. Da kehrt der Anfang zurück – das Gleiche, aber verändert. Denn nie mehr kann es das Gleiche sein, wie im wirklichen Leben. Holts Kompositionen ähneln autonomen Prozessen der menschlichen Psyche. Sie konstituieren ihre Verläufe wie von selbst, bilden den Schlagschatten einer noch nicht erdachten, erschreckenden Rätselwelt. Das Beethoven-Publikum haben sie in ihrer wahrhaftigen Radikalität verschreckt wie kein anderer Beitrag des Zyklus.

Zwischen den strukturell so klaren Symphonien Nummer Vier und Sieben eingebettet, ernteten Oliver Knussens raffinierte Petitessen Coursing und Two Organa breite Zustimmung. Die musikantische Virtuosität fordert den Spielern weit mehr ab als den Hörern, die in den Genuß der Wiederholung des ersten Organums, einer launig-bizarren "Weiße-Tasten-Musik", kamen. Bunt, schnell und funny… Andere, ja unergründliche Tiefen visiert Harrison Birtwistles Triumph of Time an, eine 1972 abgeschlossene, halbstündige Vertonung des gleichnamigen Bildes von Pieter Brueghel d. Ä., die im großen Festspielhaus Beethovens Neunter vorangestellt war. In kryptischer Weise versucht Birtwistle hier mittels der Zeitkunst Musik, das nicht Vorstellbare heraufzubeschwören, die drei Ebenen der Zeit – ewige, zyklische und lineare – in einem großen Adagio-"Processional" aus einander durchdringenden Hinter-, Mittel- und Vordergrundschichten symbolisch zu kontrapunktieren. Simon Rattle gelang eine mitreißende Aufführung dieses "Kondukts auf Irrfahrt", der in der paradoxen Gleichzeitigkeit von abgründiger Unbestimmtheit und düsterer Konsequenz den brodelnden Untergrund für die leeren Quinten der Neunten Symphonie lieferte.
Mehr als in allen anderen Symphonien präsentierte Rattle hier einen zerrissenen, hysterisch verworfenen, von der Mahler-Erfahrung geprägten Beethoven mit wild auseinanderstrebenden Grundtempi und exzessiven Dynamikschüben. Es gelingen ihm spannungsgeladene Aufführungen, die letztlich vor allem eins vermissen lassen: die zusammenhängend erlebbare Entfaltung des lebendigen Formprozesses. Statt Klarheit herrscht kaum gezügelte Leidenschaft, statt Balance beharrende Divergenz. Ruhe kommt selbst in den langsamen Sätzen nur gelegentlich auf. Mit diesem ungestümen Zugriff vermag Rattle sein Orchester zu elektrisieren und die Hörer unmittelbar zu fesseln, die ihn längst zu ihrem Helden auserkoren haben. Rattle forciert die Kontraste aufs Extremste und holt so aus vielen Momenten ein Maximum an Wirkung, entfacht ein beständiges Wechselfeuer zwischen Inferno und Purgatorio. Seine Musiker folgen ihm mit feuriger Hingabe. Auch Chor und Solisten im Finale der Neunten, allen voran die strahlend glockenklare Sopranistin Ruth Ziesak, verdienen hohe Anerkennung. In dem unablässigen Bemühen um die Rekapitulation der authentischen Schockwirkung entwirft Rattle ein aufgewühltes Beethoven-Bild jenseits jeglichen Durchschnitts, dringt vor zu einer ins Ungewisse navigierenden Interpretationshaltung als sprichwörtlichem work-in-progress…

Christoph Schlüren, 1998

(gekürzt veröffentlicht in Frankfurter Rundschau)