Als Dirigent schon immer einer der
ganz großen Stars, hat Lorin Maazel vor einiger Zeit mit einem
Album gehobener Salonpiècen bewiesen, daß er als Geiger
nach wie vor ein ernstzunehmender Virtuose ist, der für ein
mittlerweile kaum mehr gepflegtes Klang- und Musizierideal in der
Nachfolge Fritz Kreislers steht. Doch wer hätte erwartet, daß
er kurz darauf als Komponist von Orchesterwerken eindrucksvollen
Formats hervortreten würde? Maazel setzt als Komponist eine
Tradition fort, die sich hauptsächlich von der sinfonischen
Dichtung ableitet, deren gewaltigster Vertreter Richard Strauss
war, dessen Einflüsse zwar indirekt, aber doch unüberhörbar
bis zu Maazels drei Musiken für Solist und Orchester reichen,
die kürzlich hochkarätig besetzt auf CD erschienen sind.
In einem Alter, in dem man üblicherweise in den Ruhestand geht,
hat Maazel noch einmal ein neues Leben begonnen, als Komponist.
Für manche ist es anscheinend nie zu spät.
CS: Es war ja schon überraschend, als sie plötzlich als
Komponist in Erscheinung traten und dann gleich drei großformatige
Werke nacheinander präsentierten. Es handelt sich dabei um
Ihre Opusnummern zehn bis zwölf. Was ging dem kompositorisch
voraus?
LM: Ich habe als junger Mensch gründlich Komposition studiert,
Kontrapunkt, Harmonielehre usw. Und ich versuchte, kleinere Werke
zu schreiben. Aber ich war so sehr von den großen Meistern
beeindruckt, daß mich das völlig einschüchterte
in meinem bescheidenen Können. Ich sagte mir: Ich stehe so
weit unter denen, und es hat keinen Sinn, in dieser Gesellschaft
so etwas zu schreiben. Was natürlich nicht richtig war
die Meister verehren ist schön und recht. Aber es ist auch
versteckter Hochmut dabei, wenn du glaubst, daß man dich mit
einem großen Meister vergleichen würde. Denn letztlich
mußt du das machen, was du zu machen gezwungen bist. Wie dem
auch sei: Ich hatte wahnsinnige Hemmungen als Komponist übrigens
auch als Dirigent! Über das Letztere kam ich dank Maestro de
Sabata hinweg, der zu mir sagte: "Du mußt weitermachen.
Es ist an den anderen, über dich zu urteilen." Denn auch
da hatte ich mich gefragt: Wie wage ich zu dirigieren, wenn dieser
große Meister dirigiert? Solche Vergleiche sind schädlich.
Wenn einer wirklich dirigieren muß und weiß, daß
er dafür begabt ist, dann lautet die Devise zunächst einfach
"weitermachen!".
CS: Also, als Komponist gaben Sie sich vorerst keine Chance. Wie
kam es trotzdem noch dazu?
LM: Eigentlich ganz harmlos. Vor zehn Jahren hörte Rostropowitsch
so ein kleines Stück, das ich geschrieben hatte, einen Walzer.
Nach der Aufführung sagte er zu mir: "Ich höre einen
echten Komponisten in deiner Musik. Du mußt etwas für
mich schreiben." Nun ist er berühmt für seine Witze,
und natürlich dachte ich, daß er einen Witz gemacht hat.
Schließlich hatte ich nur ein kleines Stückchen Gebrauchsmusik
geschrieben. Doch von da an verfolgte er mich fünf Jahre lang
mit der Idee, daß ich etwas für ihn komponieren sollte.
Einmal lud Rostropowitsch zu einer Party ein. Ich hatte ein bißchen
zu viel Wodka getrunken und sagte ihm zu, seinen Wunsch zu erfüllen.
Gesagt, getan. Ich erschrak richtig, als ich feststellte, daß
das Musikschreiben ein ganz anderer Beruf ist. Es hat mit Dirigieren
nichts zu tun. Ich ging also durch diesen Prozeß durch, überwand
meine Hemmungen, und jetzt komponiere ich. Und ich schreibe nie
etwas nieder, was ich nicht bereits in meinem Innern gehört
habe. Ich schreibe nur, was ich höre. Und wenn ich nichts höre,
schreibe ich nichts. Ich weiß, das klingt sehr lapidar. Aber
ich kenne so viel Musik, bin mit so vielen Techniken vertraut, und
daher weiß ich, wie einfach es ist, etwas niederzuschreiben,
was nur einen optischen Reiz hat.
Natürlich benutzen wir alle allerlei Techniken. Ich schreibe
sogar gelegentlich zwölftönig, aber nicht schematisch.
Denn die Kombination aus Zwölftönigem und Diatonischem
wie zum Beispiel in meiner Flötenmusik bringt auch ein Gleichgewicht
herein. Ich höre das so.
CS: Sie haben gerade ein neues Werk vollendet, "The Giving
Tree" für Sprecher und Orchester mit obligatem Solocello.
LM: Das ist eine Geschichte für Kinder. Ich habe drei kleine
Kinder zuhause, denen ich sehr viele Geschichten vorlese. Wir haben
das Werk soeben mit meiner Frau als Erzählerin und Han-Na Chang
am Cello uraufgeführt, in der Ostermontagssendung "Tausendund"
der ARD. Es ist jetzt schon eine Tradition, daß ich dort einen
jungen Solisten vorstelle. Es geht nicht nur darum, jungen Musikern
eine Chance zu geben. Ich will damit auch zeigen, daß es in
der Welt der Musik keine trennenden Schwellen zwischen den Generationen
gibt. Wir verstehen uns perfekt. Nun also, wo mir Han-Na Chang,
dieses phänomenal begabte Mädchen, zur Verfügung
stand, entschied ich mich für das obligate Solocello. Die Hauptrolle
hat natürlich die Erzählerin.
Es ist die Geschichte eines Baums, der sich in einen kleinen Buben
verliebt hat. Das Zwiegespräch der beiden durchzieht das ganze
Stück. Zuerst ist alles ganz idyllisch. Dann braucht der Junge
Geld, und der Baum schenkt ihm seine Äpfel, damit er sie verkaufen
kann. Später gründet er eine Familie und will ein Haus
bauen, und der Baum überläßt ihm das Holz seiner
Äste. Irgendwann scheint alles schiefgegangen zu sein im Leben,
und wieder kommt er zum Baum: "Ich muß weg. Ich brauche
ein Boot." "Na gut. Nimm den Rest von mir."
Aus dem Stamm macht er ein Boot. Irgendwann kommt er wieder zurück,
als alter, gebrochener Mann. Der Baum kann ihm nichts mehr geben.
Doch der Alte ist einfach nur noch schwach und müde. Da lädt
der Baum ihn ein, auf seinem Stumpf zu sitzen. Im Epilog heißt
es: "Und der Baum war glücklich." Diese Geschichte
hat mich tief berührt. Sie ist ein Spiegel des Lebens. Als
Kind denkt er nur, was es braucht. Immer. Er ist noch ganz unschuldig.
Aber auch später sagt er nie "Dankeschön" und
nimmt alles, was er bekommen kann. Und am Ende seines Lebens versteht
er es auch nicht und setzt sich hin auf den Rest seines Opfers.
Das versteht jeder. Allerdings wollte ich ein leichtes Stück
schreiben, für Kinder, und am Ende ist es wieder ein tragisches
Stück geworden. Und einfach sollte die Musik sein, aber nun
ist sie doch ziemlich kompliziert zu dirigieren, zu spielen, obwohl
das Ergebnis nicht kompliziert wirkt.
CS: Ihre Violinmusik wirkt etwas abstrakter als die Cellomusik.
LM: Aber es ist mit sehr viel Liebe geschrieben. Es ist kompakter,
das dichteste der drei eingespielten Werke. Also, sehen Sie, ich
mache Fortschritte
Obwohl ich in jedem der Stücke nicht
eine einzige Note ändern würde. Jedes Stück repräsentiert
einen Zeitraum und einen bestimmten seelischen Zustand.
CS: Die Cellomusik ist Ihr Opus 10. Ab wann haben Sie gezählt?
LM: Naja, Opus 1 bis 5, diese Stücke würde ich Ihnen nicht
zeigen. Ich hab sie geschrieben, aber viel früher. Später
waren da die "Fanfaren", ein kurzes Werk für Blechblasorchester.
Und dann "Vapours and Capers" für James Galway, eine
symphonische Synthese von zwölf traditionellen irischen Liedern
mit Sprecher. Aber die Musik für Cello und Orchester ist mein
erstes großes Werk.
CS: Das neue Werk "The Giving Tree" trägt die Opusnummer
15, die Violinmusik die Nummer 12. Was ist in der Zwischenzeit entstanden?
LM: Opus 13 ist die Vertonung eines Gedichts von Robert Browning,
die ich zur Eröffnung eines Perlengeschäfts in Tokyo schrieb.
Eigentlich nicht unbedingt ein reizvoller Auftrag. Aber die Firmenkette,
zu der das neue Geschäft gehört, unterstützt das
exzellente Studentenorchester der Keio-Universität, mit dem
ich zuvor ein paar Mal Proben abgehalten hatte. Ich schrieb das
Stück für den Universitätschor und klassisch besetztes
Orchester. Es war eine besondere Herausforderung für mich,
unter Berücksichtigung limitierter technischer Möglichkeiten
zu schreiben, für junge, begabte Musiker, die noch nicht so
selbstverständlich alles ausführen wie routinierte, reife
Berufsmusiker, für die ich normalerweise zu schreiben gewohnt
bin. Es wurde ein großer Erfolg. Eigentlich wollte ich es
gar nicht dirigieren, wollte nicht nach Tokyo fliegen, denn es war
mitten in meinem Sabbatical, meinem freien Jahr, das ich ausschließlich
der Komposition widmen wollte. Jetzt aber bin ich sehr froh, daß
ich es gemacht habe, denn ohne diese kleine Erfahrung wäre
es mir nicht möglich gewesen, "The Giving Tree" zu
schreiben. Ich wurde dort einfach gezwungen, die Sprache zu vereinfachen.
Jeder Komponist das würde er natürlich nie laut
sagen! sucht ein Versteck, wenn er das Gefühl hat, nichts
Wesentliches zu sagen zu haben. Dieses Versteck heißt Kompliziertheit.
Nun, ich fand etwas Selbstvertrauen und sagte mir: Ich habe Motive,
Themen, Melodien ich werde das Stück auf klassische
Art schreiben. Und es ist mir gelungen, obwohl das grundsätzlich
nicht so einfach ist.
CS: Was heißt "auf klassische Art"?
LM: Das war das Vorhaben. Auch da habe ich meine eigene Sprache.
Auch mit den limitierten Mitteln klingt es unverwechselbar. Ob gut
oder schlecht, das müssen andere beurteilen.
Mein Opus 14 ist etwas ganz anderes. Es ist die Symphonie, die ich
noch nicht vollendet habe, ein Auftragswerk der Wiener Philharmoniker,
das ich im September 99 in Wien uraufführen werde. Danach
werden wir es auch in der Carnegie Hall spielen. Etwa 35 Prozent
der Symphonie sind schon fertig. Der Rest ist ungefähr in meinem
Kopf.
CS: Ist es eine einsätzige Symphonie, oder eine in vier Sätzen?
LM: Es wird ein symphonisches Werk sein. Wie ich es am Ende nennen
werde, weiß ich noch nicht. Aber es ist ein großes Stück,
so 37 bis 38 Minuten lang. Könnte gut sein, daß es in
einem Satz ist
CS: In der formalen Psychologie ist bei Ihnen der Einfluß
von Richard Strauss zu spüren auch in den erzählerischen,
gegenständlichen Komponenten.
LM: Ich bin ein großer Anhänger seiner Musik. An meiner
Musik für Flöte und Orchester schrieb ich, während
ich in Salzburg den Rosenkavalier dirigierte. Wie sehr mich das
da wieder beeindruckt hat! Auch Elektra ist eine unglaubliche Partitur
er ist fähig, die Fäden von drei oder vier Motiven
immerzu weiterzuführen und zusammenzuhalten, und der ganze
Stoff ist so lebendig. Von Strauss angeregt zu sein nehme ich als
Kompliment.
CS: Wie sehen Sie das überhaupt mit der Auswirkung von Einflüssen?
Jeder unterliegt ihnen, ein Dirigent erst recht, ja alltäglich.
LM: Ich versuche nicht, über die Musik zu philosophieren. Die
Musik ist für mich eine unabhängige Sprache, die man kaum
mit Worten beschreiben kann. Dabei komme ich durchaus zurecht mit
Worten, in meiner Muttersprache wenigstens. Ich finde die richtigen
Worte, was Sie sicher bei den Einführungen zu meinen Stücken
feststellen konnten.
CS: Weniger bei der Violinmusik.
LM: Die war vielleicht doch ein zu persönliches Werk. Außerdem
muß die Musik sowieso alleine dastehen können.
CS: Können Sie beschreiben, worauf das Gelingen einer Form
beruht? Sibelius ist in dieser Hinsicht ja sehr faszinierend, die
Stimmigkeit seiner Formen entzieht sich beschreibendem Zugriff.
LM: Die Formprobleme sind gelöst,
wenn man das niederschreibt, was man zusammenhängend hört.
Und einer, der die Form draufhat, findet automatisch ein inneres
Gleichgewicht. Geht man formalistisch von einer starren Struktur
aus, so funktioniert es nicht. Dann klingt es künstlich zusammengestellt.
Viele Stücke sind so: Die Form ist perfekt, aber der Inhalt?
Null! Bei Sibelius dagegen war nur Inhalt. Er war ein großer
intuitiver Musiker. Er hörte ganz deutlich die Musik in seinem
Innern. Nie ist eine falsche Note bei ihm. Seine Form ist manchmal
nicht mehr zu erkennen, aber sie stimmt, weil die Musik stimmt.
Die Musik ist es, die die Form diktiert. Sie zwingt den Komponisten,
so zu schreiben und nicht anders, mit so vielen Takten, nicht weniger
und nicht mehr.
CS: Können Sie ein bißchen mehr verraten
über Ihre Symphonie?
LM: Das ist zu früh. Die Arbeit daran ruht im Moment völlig.
Dieses Werk verlangt extrem viel Konzentration von mir, wie das
in einer so umtriebigen Zeit einfach unmöglich ist.
CS: Bei dem "Song" aus der Flötenmusik dachte ich,
das könnte ein potentieller Keim einer längeren, kontinuierlicheren
Entwicklung sein. Verfolgen Sie im Gegensatz zu den bildhaft
kontrastierenden Sätzen der Musiken für Solist und Orchester
in der Symphonie die Idee einer größeren, aus
sich selbst wachsenden Artikulation?
LM: Ich versuche es. Ich weiß nicht, was dabei rauskommt.
Ich habe die Komponisten immer besonders bewundert, die fähig
sind, die Musik immer weiter tragen zu lassen, immer das Interesse
wachzuhalten, immerzu: eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, vierzig
Minuten
Das ist Größe. Davor verneige ich mich,
bei Wagner, Bruckner, Sibelius. Aber ich versuche nicht, etwas zu
machen, was ich nicht machen kann. Denn ich bin als Dirigent ja
auch sehr streng, mit aller Musik.
CS: Ich denke, daß das auch dadurch erschwert wird, daß
Sie nicht die Zeit finden, sich ausschließlich über einen
bestimmten Zeitraum auf das Stück zu konzentrieren.
LM: Das stimmt. Wahrscheinlich hätte ich die Symphonie schon
vollendet, hätte ich noch vier, fünf weitere Monate mit
dem Dirigieren ausgesetzt. Ich war wirklich völlig drin, und
es war peinigend für mich, das abbrechen zu müssen: Die
Pflicht ruft! Es muß sein.
CS: War die Zusammenstellung symphonischer Synthesen von Wagners
"Ring" und Tannhäuser hilfreich für Ihr Komponieren,
für die Orientierung in der großen Form?
LM: Nein. Obwohl ich den "Ring ohne Worte" am Ende fast
gerne mochte, die Tannhäuser-Reduktion hingegen weniger. Ich
bin überzeugt, daß es mir im Rahmen des Möglichen
wirklich gut gelungen ist, aber so etwas schmeckt mir eigentlich
nicht. Es hat einen sozialen Vorteil: Viele Leute, die Wagner in
der Oper nicht aushalten können, konnten auf diesem Wege entdecken,
wie großartig seine Musik ist. Und inzwischen hören sie
vielleicht den echten "Ring" mit Freude und Verständnis.
Es ist also nützliche pädagogische Arbeit gewesen. Denn
einer, der den "Ring" draufhat wie ich, verspürt
normalerweise keine Lust, ihn als Konzertstück aufzuführen.
Ich habe es einige Male gemacht. Es ist sehr anstrengend für
das Orchester, aber dafür auch sehr effektvoll. Nicht eine
einzige Note übrigens in der ganzen Fassung stammt von meiner
Hand! Außerdem folgt es dem Geschehen chronologisch. Jetzt
aber habe ich mit den Berliner Philharmonikern wieder eine richtige
Wagner-Platte gemacht.
CS: Sie feiern dort Ihr Comeback mit Ihrer Cellomusik und der Fünften
Mahler.
LM: Ich feiere kein Comeback. Ich gebe ein Benefizkonzert für
die Frau Bundespräsidentin. Mit Rostropowitsch. Ich habe nur
das eingehalten, was ich vor vielen Jahren sagte: Ich werde in Berlin
nicht musizieren, bis der neue Direktor Zeit genug hatte, seinen
Stempel drauf zu hinterlassen. Dann komme ich zurück. Ich hatte
so viele Konzerte, Aufnahmen usw., daß es für ihn nur
ein Hindernis gewesen wäre. Ich bin sehr zufrieden, so entschieden
zu haben.
CS: Werden Sie künftig mehr mit den Berliner Philharmonikern
arbeiten?
LM: Ich habe recht viele Konzerte in der kommenden Saison in Berlin.
Man hat mich darum gebeten.
CS: Können Sie spezielle Vorbilder Ihrer Orchestration benennen?
LM: Nein. Aber das ist wirklich meine Welt: der Orchesterklang in
all seinen Facetten und Möglichkeiten. Ich bin Tag und
Nacht mit Orchestern beschäftigt. Ich führe so ein Skizzenbuch
mit mir für komplizierte kontrapunktische und harmonische
Sachen usw. Die probiere ich da vorher aus. Aber ich schreibe grundsätzlich
direkt in die große Orchesterpartitur, komponiere also unmittelbar
für den Klang, der zur Verfügung steht. Ohne die Herausforderung
des kompletten Arsenals kann ich gar nicht komponieren. Das geht
auch anders: Mahler hat seine ganzen Symphonien zuerst in Particell
notiert. Ich kann das nicht so. Ich muß alles gleichzeitig
machen, und bis jetzt fahre ich sehr gut damit. "The Giving
Tree" habe ich in sehr kurzer Zeit geschrieben, und es ist
ein ausgezeichnetes Stück geworden.
CS: Ist eine zweite CD mit Ihrer Musik geplant?
LM: Das wäre sinnvoll. Die Firma hat so viele Millionen in
die erste CD investiert nicht meinetwegen, aber: Rostropowitsch,
Galway, das große Orchester mein Gott, wie sie das
amortisieren wollen, weiß ich nicht. Es war ein großes
Wagnis. Und ich bin erstaunt über die überwiegend positive
Resonanz. Irgendwie erkennt man, daß die Musik nicht nur professionell
komponiert ist, sondern von Herzen kommt. Es ist echt. Es kann vielleicht
furchtbar sein, aber es ist echt. Wahrscheinlich war es gut, daß
ich so lange gewartet habe, bis ich endlich als Komponist hervortrat.
Denn früher hätte ich den Mut nicht gehabt, das zu schreiben,
was ich wirklich schreiben wollte.
CS: Geiger, Dirigent und Komponist es liegt bei dieser "Trinität"
nahe, an George Enescu zu denken, ohne daß mir weitere Berührungspunkte
in den Sinn kämen. Was halten Sie von ihm?
LM: Er war der größte Musiker seiner Zeit. Ich habe ihn
erlebt. Ich hoffe, daß ich die Ruhe und Zeit finde, mich intensiver
mit seiner Musik zu beschäftigen. Gerne würde ich mich
als Dirigent dafür einsetzen.
CS: Können Sie andere geheime Lieben nennen?
LM: Benjamin Britten. Er hat große Augenblicke. Und Gabriel
Fauré. So etwas Delikates, Feines! Er hat leider sehr wenig
für Orchester geschrieben.
CS: Haben Sie, außer der Symphonie, konkrete weitere Kompositionspläne?
LM: Irgendwo las ich, man wolle mich beauftragen, eine Oper zu schreiben.
Das könnte tatsächlich eines Tages wahr werden. Ich möchte
auch ein Klavierkonzert komponieren, außerdem ein Streichquartett
und ein großes Stück für dramatischen Sopran und
Orchester vielleicht über eine klassische Legende, griechisch
oder japanisch , wie "Der Wein" von Alban Berg.
Noch habe ich den Text dafür nicht gefunden. Und ich habe keine
Zeit, alle diese Projekte zu verfolgen ich hatte auch vor,
zwei Bücher zu schreiben während meines Sabbatical, aber
ich habe nicht ein Wort aufgeschrieben.
CS: Autobiographisches?
LM: Nein. Zwei Romane. Natürlich ist letztlich alles irgendwie
autobiographisch, auch Strindberg sagte das. Aus welcher Erfahrung
soll man schließlich schreiben? Aber der Autor hat auch eine
Funktion als Berichterstatter zu erfüllen, ohne dezidiert für
oder gegen etwas zu sein: "So ist es." Doch auch da steckt
stets ein verstecktes Urteil drin.
CS: Haben Sie sich in Ihren Musiken für Solist und Orchester
bewußt an Strauss Don Quixote angelehnt, indem dem Solisten
ein Gefährte beigegeben ist?
LM: Das ist unglaublich: Ich habe nie daran gedacht. Das haben wir
unbewußt gemeinsam. Don Quixote ist jedenfalls ein Stück,
das ich heiß liebe, und auch Blochs Schelomo. Beide Stücke
habe ich vor Beginn der Arbeit an meiner Musik für Cello und
Orchester studiert, und ich stellte fest, daß ich keine Note
davon nehmen würde. Aber vielleicht doch einiges von der Psychologie
und der Atmosphäre. Ich hatte ja Sorgen, daß ich mich
plötzlich unbewußt irgendwoanders bedienen würde.
Aber es scheint, daß ich das nicht mache. Von meiner ganzen
Intuition her komme ich nicht in die Reviere der anderen hinein.
Es kommen entweder frische Noten aus meiner Quelle, oder gar keine.
Das ist eben ein Vorteil, den man als erfahrener Dirigent hat, der
so vieles schon gemacht hat: Man weiß Bescheid. Ich glaube,
daß es mir bis jetzt gelungen ist, nicht zu klauen, obwohl
ich darauf nicht achte. Aber ich würde dann die Musik sofort
erkennen: "Was schreibst du denn da? Das ist doch das dritte
Thema aus dem zweiten Satz der siebten Symphonie von Egon Bernlicht.
Nein, nein."
CS: Interessant ist, daß irgendwie die Thematik von Ravels
"Lenfant et les sortilèges" in ihren Musiken
für Solist und Orchester herumgeistert: Der Protagonist, also
der Mensch, und die oft fremde, ja feindliche Umwelt vor
allem in der Cellomusik. Vielleicht auch: Mensch und Maschine. Wie
bei Ravel das Kind und das Spielzeug.
LM: Das stimmt. Diese Verbindung hätte ich nie herausgefunden.
In der Tat war ich sehr von diesem Stück beeinflußt in
meiner Jugend. Und ohne diese intensive Erfahrung hätte ich
wahrscheinlich meine Musik heute nicht so schreiben können.
Ja, so muß es wohl sein. Revolution heißt eben, wie
auch Strawinskij betonte, Herumdrehen. Es ist ein Rad, das sich
dreht.
Letztlich ist es sehr schwer für mich, nachzuvollziehen, daß
ich diese Stücke geschrieben habe. Denn nach der Geburt verschwindet
alles so schnell aus der Erinnerung. Die Noten bleiben. Aber wie
es dazu gekommen ist? Jetzt höre ich meine Musik mit sehr viel
Abstand. Und ich bin sehr glücklich über das, was ich
getan habe. Es hat sehr viel Energie gekostet, denn es war nicht
vorgesehen. Ich schreibe zum Beispiel Musik in einer Woche, wo ich
eventuell vier, fünf Konzerte habe und drei, vier Proben, vielleicht
sogar auf Reise. Und dann spiele ich gleichzeitig sehr viel Geige.
Und ich nehme meine Aufgabe als Vater sehr ernst und verbringe so
viel Zeit wie möglich mit meinen Kindern. Das heißt,
daß ich um fünf Uhr aufstehen muß, um die Musik
eigentlich in der Nacht zu schreiben. Ich habe dafür keine
andere Zeit zur Verfügung. Das frißt natürlich sehr
viel Energie. Aber es lohnt sich. Nicht, weil das Ergebnis so außerordentlich
wäre. Ich bin jetzt einfach ein glücklicher Mensch geworden
in einem Bereich, wo ich immer ein bißchen unruhig
war. Bis dahin fühlte ich mich irgendwie nicht erfüllt.
Dieses unterschwellig belastende Gefühl ist jetzt weg: Ich
schöpfe etwas. Das ist schön.
Interview: Christoph Schlüren
(veröffentlicht in Klassik Heute, 1998)
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