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"Ich bin ein glücklicher Mensch geworden"

Interview mit Lorin Maazel (April 1998)

Als Dirigent schon immer einer der ganz großen Stars, hat Lorin Maazel vor einiger Zeit mit einem Album gehobener Salonpiècen bewiesen, daß er als Geiger nach wie vor ein ernstzunehmender Virtuose ist, der für ein mittlerweile kaum mehr gepflegtes Klang- und Musizierideal in der Nachfolge Fritz Kreislers steht. Doch wer hätte erwartet, daß er kurz darauf als Komponist von Orchesterwerken eindrucksvollen Formats hervortreten würde? Maazel setzt als Komponist eine Tradition fort, die sich hauptsächlich von der sinfonischen Dichtung ableitet, deren gewaltigster Vertreter Richard Strauss war, dessen Einflüsse zwar indirekt, aber doch unüberhörbar bis zu Maazels drei Musiken für Solist und Orchester reichen, die kürzlich hochkarätig besetzt auf CD erschienen sind. In einem Alter, in dem man üblicherweise in den Ruhestand geht, hat Maazel noch einmal ein neues Leben begonnen, als Komponist. Für manche ist es anscheinend nie zu spät.
CS: Es war ja schon überraschend, als sie plötzlich als Komponist in Erscheinung traten und dann gleich drei großformatige Werke nacheinander präsentierten. Es handelt sich dabei um Ihre Opusnummern zehn bis zwölf. Was ging dem kompositorisch voraus?
LM: Ich habe als junger Mensch gründlich Komposition studiert, Kontrapunkt, Harmonielehre usw. Und ich versuchte, kleinere Werke zu schreiben. Aber ich war so sehr von den großen Meistern beeindruckt, daß mich das völlig einschüchterte in meinem bescheidenen Können. Ich sagte mir: Ich stehe so weit unter denen, und es hat keinen Sinn, in dieser Gesellschaft so etwas zu schreiben. Was natürlich nicht richtig war – die Meister verehren ist schön und recht. Aber es ist auch versteckter Hochmut dabei, wenn du glaubst, daß man dich mit einem großen Meister vergleichen würde. Denn letztlich mußt du das machen, was du zu machen gezwungen bist. Wie dem auch sei: Ich hatte wahnsinnige Hemmungen als Komponist – übrigens auch als Dirigent! Über das Letztere kam ich dank Maestro de Sabata hinweg, der zu mir sagte: "Du mußt weitermachen. Es ist an den anderen, über dich zu urteilen." Denn auch da hatte ich mich gefragt: Wie wage ich zu dirigieren, wenn dieser große Meister dirigiert? Solche Vergleiche sind schädlich. Wenn einer wirklich dirigieren muß und weiß, daß er dafür begabt ist, dann lautet die Devise zunächst einfach "weitermachen!".
CS: Also, als Komponist gaben Sie sich vorerst keine Chance. Wie kam es trotzdem noch dazu?
LM: Eigentlich ganz harmlos. Vor zehn Jahren hörte Rostropowitsch so ein kleines Stück, das ich geschrieben hatte, einen Walzer. Nach der Aufführung sagte er zu mir: "Ich höre einen echten Komponisten in deiner Musik. Du mußt etwas für mich schreiben." Nun ist er berühmt für seine Witze, und natürlich dachte ich, daß er einen Witz gemacht hat. Schließlich hatte ich nur ein kleines Stückchen Gebrauchsmusik geschrieben. Doch von da an verfolgte er mich fünf Jahre lang mit der Idee, daß ich etwas für ihn komponieren sollte. Einmal lud Rostropowitsch zu einer Party ein. Ich hatte ein bißchen zu viel Wodka getrunken und sagte ihm zu, seinen Wunsch zu erfüllen. Gesagt, getan. Ich erschrak richtig, als ich feststellte, daß das Musikschreiben ein ganz anderer Beruf ist. Es hat mit Dirigieren nichts zu tun. Ich ging also durch diesen Prozeß durch, überwand meine Hemmungen, und jetzt komponiere ich. Und ich schreibe nie etwas nieder, was ich nicht bereits in meinem Innern gehört habe. Ich schreibe nur, was ich höre. Und wenn ich nichts höre, schreibe ich nichts. Ich weiß, das klingt sehr lapidar. Aber ich kenne so viel Musik, bin mit so vielen Techniken vertraut, und daher weiß ich, wie einfach es ist, etwas niederzuschreiben, was nur einen optischen Reiz hat.
Natürlich benutzen wir alle allerlei Techniken. Ich schreibe sogar gelegentlich zwölftönig, aber nicht schematisch. Denn die Kombination aus Zwölftönigem und Diatonischem wie zum Beispiel in meiner Flötenmusik bringt auch ein Gleichgewicht herein. Ich höre das so.
CS: Sie haben gerade ein neues Werk vollendet, "The Giving Tree" für Sprecher und Orchester mit obligatem Solocello.
LM: Das ist eine Geschichte für Kinder. Ich habe drei kleine Kinder zuhause, denen ich sehr viele Geschichten vorlese. Wir haben das Werk soeben mit meiner Frau als Erzählerin und Han-Na Chang am Cello uraufgeführt, in der Ostermontagssendung "Tausendund" der ARD. Es ist jetzt schon eine Tradition, daß ich dort einen jungen Solisten vorstelle. Es geht nicht nur darum, jungen Musikern eine Chance zu geben. Ich will damit auch zeigen, daß es in der Welt der Musik keine trennenden Schwellen zwischen den Generationen gibt. Wir verstehen uns perfekt. Nun also, wo mir Han-Na Chang, dieses phänomenal begabte Mädchen, zur Verfügung stand, entschied ich mich für das obligate Solocello. Die Hauptrolle hat natürlich die Erzählerin.
Es ist die Geschichte eines Baums, der sich in einen kleinen Buben verliebt hat. Das Zwiegespräch der beiden durchzieht das ganze Stück. Zuerst ist alles ganz idyllisch. Dann braucht der Junge Geld, und der Baum schenkt ihm seine Äpfel, damit er sie verkaufen kann. Später gründet er eine Familie und will ein Haus bauen, und der Baum überläßt ihm das Holz seiner Äste. Irgendwann scheint alles schiefgegangen zu sein im Leben, und wieder kommt er zum Baum: "Ich muß weg. Ich brauche ein Boot." – "Na gut. Nimm den Rest von mir." Aus dem Stamm macht er ein Boot. Irgendwann kommt er wieder zurück, als alter, gebrochener Mann. Der Baum kann ihm nichts mehr geben. Doch der Alte ist einfach nur noch schwach und müde. Da lädt der Baum ihn ein, auf seinem Stumpf zu sitzen. Im Epilog heißt es: "Und der Baum war glücklich." Diese Geschichte hat mich tief berührt. Sie ist ein Spiegel des Lebens. Als Kind denkt er nur, was es braucht. Immer. Er ist noch ganz unschuldig. Aber auch später sagt er nie "Dankeschön" und nimmt alles, was er bekommen kann. Und am Ende seines Lebens versteht er es auch nicht und setzt sich hin auf den Rest seines Opfers. Das versteht jeder. Allerdings wollte ich ein leichtes Stück schreiben, für Kinder, und am Ende ist es wieder ein tragisches Stück geworden. Und einfach sollte die Musik sein, aber nun ist sie doch ziemlich kompliziert zu dirigieren, zu spielen, obwohl das Ergebnis nicht kompliziert wirkt.
CS: Ihre Violinmusik wirkt etwas abstrakter als die Cellomusik.
LM: Aber es ist mit sehr viel Liebe geschrieben. Es ist kompakter, das dichteste der drei eingespielten Werke. Also, sehen Sie, ich mache Fortschritte… Obwohl ich in jedem der Stücke nicht eine einzige Note ändern würde. Jedes Stück repräsentiert einen Zeitraum und einen bestimmten seelischen Zustand.
CS: Die Cellomusik ist Ihr Opus 10. Ab wann haben Sie gezählt?
LM: Naja, Opus 1 bis 5, diese Stücke würde ich Ihnen nicht zeigen. Ich hab’ sie geschrieben, aber viel früher. Später waren da die "Fanfaren", ein kurzes Werk für Blechblasorchester. Und dann "Vapours and Capers" für James Galway, eine symphonische Synthese von zwölf traditionellen irischen Liedern mit Sprecher. Aber die Musik für Cello und Orchester ist mein erstes großes Werk.
CS: Das neue Werk "The Giving Tree" trägt die Opusnummer 15, die Violinmusik die Nummer 12. Was ist in der Zwischenzeit entstanden?
LM: Opus 13 ist die Vertonung eines Gedichts von Robert Browning, die ich zur Eröffnung eines Perlengeschäfts in Tokyo schrieb. Eigentlich nicht unbedingt ein reizvoller Auftrag. Aber die Firmenkette, zu der das neue Geschäft gehört, unterstützt das exzellente Studentenorchester der Keio-Universität, mit dem ich zuvor ein paar Mal Proben abgehalten hatte. Ich schrieb das Stück für den Universitätschor und klassisch besetztes Orchester. Es war eine besondere Herausforderung für mich, unter Berücksichtigung limitierter technischer Möglichkeiten zu schreiben, für junge, begabte Musiker, die noch nicht so selbstverständlich alles ausführen wie routinierte, reife Berufsmusiker, für die ich normalerweise zu schreiben gewohnt bin. Es wurde ein großer Erfolg. Eigentlich wollte ich es gar nicht dirigieren, wollte nicht nach Tokyo fliegen, denn es war mitten in meinem Sabbatical, meinem freien Jahr, das ich ausschließlich der Komposition widmen wollte. Jetzt aber bin ich sehr froh, daß ich es gemacht habe, denn ohne diese kleine Erfahrung wäre es mir nicht möglich gewesen, "The Giving Tree" zu schreiben. Ich wurde dort einfach gezwungen, die Sprache zu vereinfachen. Jeder Komponist – das würde er natürlich nie laut sagen! – sucht ein Versteck, wenn er das Gefühl hat, nichts Wesentliches zu sagen zu haben. Dieses Versteck heißt Kompliziertheit. Nun, ich fand etwas Selbstvertrauen und sagte mir: Ich habe Motive, Themen, Melodien – ich werde das Stück auf klassische Art schreiben. Und es ist mir gelungen, obwohl das grundsätzlich nicht so einfach ist.
CS: Was heißt "auf klassische Art"?
LM: Das war das Vorhaben. Auch da habe ich meine eigene Sprache. Auch mit den limitierten Mitteln klingt es unverwechselbar. Ob gut oder schlecht, das müssen andere beurteilen.
Mein Opus 14 ist etwas ganz anderes. Es ist die Symphonie, die ich noch nicht vollendet habe, ein Auftragswerk der Wiener Philharmoniker, das ich im September ’99 in Wien uraufführen werde. Danach werden wir es auch in der Carnegie Hall spielen. Etwa 35 Prozent der Symphonie sind schon fertig. Der Rest ist ungefähr in meinem Kopf.
CS: Ist es eine einsätzige Symphonie, oder eine in vier Sätzen?
LM: Es wird ein symphonisches Werk sein. Wie ich es am Ende nennen werde, weiß ich noch nicht. Aber es ist ein großes Stück, so 37 bis 38 Minuten lang. Könnte gut sein, daß es in einem Satz ist…
CS: In der formalen Psychologie ist bei Ihnen der Einfluß von Richard Strauss zu spüren – auch in den erzählerischen, gegenständlichen Komponenten.
LM: Ich bin ein großer Anhänger seiner Musik. An meiner Musik für Flöte und Orchester schrieb ich, während ich in Salzburg den Rosenkavalier dirigierte. Wie sehr mich das da wieder beeindruckt hat! Auch Elektra ist eine unglaubliche Partitur – er ist fähig, die Fäden von drei oder vier Motiven immerzu weiterzuführen und zusammenzuhalten, und der ganze Stoff ist so lebendig. Von Strauss angeregt zu sein nehme ich als Kompliment.
CS: Wie sehen Sie das überhaupt mit der Auswirkung von Einflüssen? Jeder unterliegt ihnen, ein Dirigent erst recht, ja alltäglich.
LM: Ich versuche nicht, über die Musik zu philosophieren. Die Musik ist für mich eine unabhängige Sprache, die man kaum mit Worten beschreiben kann. Dabei komme ich durchaus zurecht mit Worten, in meiner Muttersprache wenigstens. Ich finde die richtigen Worte, was Sie sicher bei den Einführungen zu meinen Stücken feststellen konnten.
CS: Weniger bei der Violinmusik.
LM: Die war vielleicht doch ein zu persönliches Werk. Außerdem muß die Musik sowieso alleine dastehen können.
CS: Können Sie beschreiben, worauf das Gelingen einer Form beruht? Sibelius ist in dieser Hinsicht ja sehr faszinierend, die Stimmigkeit seiner Formen entzieht sich beschreibendem Zugriff.

LM: Die Formprobleme sind gelöst, wenn man das niederschreibt, was man zusammenhängend hört. Und einer, der die Form draufhat, findet automatisch ein inneres Gleichgewicht. Geht man formalistisch von einer starren Struktur aus, so funktioniert es nicht. Dann klingt es künstlich zusammengestellt. Viele Stücke sind so: Die Form ist perfekt, aber der Inhalt? Null! Bei Sibelius dagegen war nur Inhalt. Er war ein großer intuitiver Musiker. Er hörte ganz deutlich die Musik in seinem Innern. Nie ist eine falsche Note bei ihm. Seine Form ist manchmal nicht mehr zu erkennen, aber sie stimmt, weil die Musik stimmt. Die Musik ist es, die die Form diktiert. Sie zwingt den Komponisten, so zu schreiben und nicht anders, mit so vielen Takten, nicht weniger und nicht mehr.
CS: Können Sie ein bißchen mehr verraten über Ihre Symphonie?
LM: Das ist zu früh. Die Arbeit daran ruht im Moment völlig. Dieses Werk verlangt extrem viel Konzentration von mir, wie das in einer so umtriebigen Zeit einfach unmöglich ist.
CS: Bei dem "Song" aus der Flötenmusik dachte ich, das könnte ein potentieller Keim einer längeren, kontinuierlicheren Entwicklung sein. Verfolgen Sie – im Gegensatz zu den bildhaft kontrastierenden Sätzen der Musiken für Solist und Orchester – in der Symphonie die Idee einer größeren, aus sich selbst wachsenden Artikulation?
LM: Ich versuche es. Ich weiß nicht, was dabei rauskommt. Ich habe die Komponisten immer besonders bewundert, die fähig sind, die Musik immer weiter tragen zu lassen, immer das Interesse wachzuhalten, immerzu: eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, vierzig Minuten… Das ist Größe. Davor verneige ich mich, bei Wagner, Bruckner, Sibelius. Aber ich versuche nicht, etwas zu machen, was ich nicht machen kann. Denn ich bin als Dirigent ja auch sehr streng, mit aller Musik.
CS: Ich denke, daß das auch dadurch erschwert wird, daß Sie nicht die Zeit finden, sich ausschließlich über einen bestimmten Zeitraum auf das Stück zu konzentrieren.
LM: Das stimmt. Wahrscheinlich hätte ich die Symphonie schon vollendet, hätte ich noch vier, fünf weitere Monate mit dem Dirigieren ausgesetzt. Ich war wirklich völlig drin, und es war peinigend für mich, das abbrechen zu müssen: Die Pflicht ruft! Es muß sein.
CS: War die Zusammenstellung symphonischer Synthesen von Wagners "Ring" und Tannhäuser hilfreich für Ihr Komponieren, für die Orientierung in der großen Form?
LM: Nein. Obwohl ich den "Ring ohne Worte" am Ende fast gerne mochte, die Tannhäuser-Reduktion hingegen weniger. Ich bin überzeugt, daß es mir im Rahmen des Möglichen wirklich gut gelungen ist, aber so etwas schmeckt mir eigentlich nicht. Es hat einen sozialen Vorteil: Viele Leute, die Wagner in der Oper nicht aushalten können, konnten auf diesem Wege entdecken, wie großartig seine Musik ist. Und inzwischen hören sie vielleicht den echten "Ring" mit Freude und Verständnis. Es ist also nützliche pädagogische Arbeit gewesen. Denn einer, der den "Ring" draufhat wie ich, verspürt normalerweise keine Lust, ihn als Konzertstück aufzuführen. Ich habe es einige Male gemacht. Es ist sehr anstrengend für das Orchester, aber dafür auch sehr effektvoll. Nicht eine einzige Note übrigens in der ganzen Fassung stammt von meiner Hand! Außerdem folgt es dem Geschehen chronologisch. Jetzt aber habe ich mit den Berliner Philharmonikern wieder eine richtige Wagner-Platte gemacht.
CS: Sie feiern dort Ihr Comeback mit Ihrer Cellomusik und der Fünften Mahler.
LM: Ich feiere kein Comeback. Ich gebe ein Benefizkonzert für die Frau Bundespräsidentin. Mit Rostropowitsch. Ich habe nur das eingehalten, was ich vor vielen Jahren sagte: Ich werde in Berlin nicht musizieren, bis der neue Direktor Zeit genug hatte, seinen Stempel drauf zu hinterlassen. Dann komme ich zurück. Ich hatte so viele Konzerte, Aufnahmen usw., daß es für ihn nur ein Hindernis gewesen wäre. Ich bin sehr zufrieden, so entschieden zu haben.
CS: Werden Sie künftig mehr mit den Berliner Philharmonikern arbeiten?
LM: Ich habe recht viele Konzerte in der kommenden Saison in Berlin. Man hat mich darum gebeten.
CS: Können Sie spezielle Vorbilder Ihrer Orchestration benennen?
LM: Nein. Aber das ist wirklich meine Welt: der Orchesterklang in all’ seinen Facetten und Möglichkeiten. Ich bin Tag und Nacht mit Orchestern beschäftigt. Ich führe so ein Skizzenbuch mit mir – für komplizierte kontrapunktische und harmonische Sachen usw. Die probiere ich da vorher aus. Aber ich schreibe grundsätzlich direkt in die große Orchesterpartitur, komponiere also unmittelbar für den Klang, der zur Verfügung steht. Ohne die Herausforderung des kompletten Arsenals kann ich gar nicht komponieren. Das geht auch anders: Mahler hat seine ganzen Symphonien zuerst in Particell notiert. Ich kann das nicht so. Ich muß alles gleichzeitig machen, und bis jetzt fahre ich sehr gut damit. "The Giving Tree" habe ich in sehr kurzer Zeit geschrieben, und es ist ein ausgezeichnetes Stück geworden.
CS: Ist eine zweite CD mit Ihrer Musik geplant?
LM: Das wäre sinnvoll. Die Firma hat so viele Millionen in die erste CD investiert – nicht meinetwegen, aber: Rostropowitsch, Galway, das große Orchester – mein Gott, wie sie das amortisieren wollen, weiß ich nicht. Es war ein großes Wagnis. Und ich bin erstaunt über die überwiegend positive Resonanz. Irgendwie erkennt man, daß die Musik nicht nur professionell komponiert ist, sondern von Herzen kommt. Es ist echt. Es kann vielleicht furchtbar sein, aber es ist echt. Wahrscheinlich war es gut, daß ich so lange gewartet habe, bis ich endlich als Komponist hervortrat. Denn früher hätte ich den Mut nicht gehabt, das zu schreiben, was ich wirklich schreiben wollte.
CS: Geiger, Dirigent und Komponist – es liegt bei dieser "Trinität" nahe, an George Enescu zu denken, ohne daß mir weitere Berührungspunkte in den Sinn kämen. Was halten Sie von ihm?
LM: Er war der größte Musiker seiner Zeit. Ich habe ihn erlebt. Ich hoffe, daß ich die Ruhe und Zeit finde, mich intensiver mit seiner Musik zu beschäftigen. Gerne würde ich mich als Dirigent dafür einsetzen.
CS: Können Sie andere geheime Lieben nennen?
LM: Benjamin Britten. Er hat große Augenblicke. Und Gabriel Fauré. So etwas Delikates, Feines! Er hat leider sehr wenig für Orchester geschrieben.
CS: Haben Sie, außer der Symphonie, konkrete weitere Kompositionspläne?
LM: Irgendwo las ich, man wolle mich beauftragen, eine Oper zu schreiben. Das könnte tatsächlich eines Tages wahr werden. Ich möchte auch ein Klavierkonzert komponieren, außerdem ein Streichquartett und ein großes Stück für dramatischen Sopran und Orchester – vielleicht über eine klassische Legende, griechisch oder japanisch –, wie "Der Wein" von Alban Berg. Noch habe ich den Text dafür nicht gefunden. Und ich habe keine Zeit, alle diese Projekte zu verfolgen – ich hatte auch vor, zwei Bücher zu schreiben während meines Sabbatical, aber ich habe nicht ein Wort aufgeschrieben.
CS: Autobiographisches?
LM: Nein. Zwei Romane. Natürlich ist letztlich alles irgendwie autobiographisch, auch Strindberg sagte das. Aus welcher Erfahrung soll man schließlich schreiben? Aber der Autor hat auch eine Funktion als Berichterstatter zu erfüllen, ohne dezidiert für oder gegen etwas zu sein: "So ist es." Doch auch da steckt stets ein verstecktes Urteil drin.
CS: Haben Sie sich in Ihren Musiken für Solist und Orchester bewußt an Strauss’ Don Quixote angelehnt, indem dem Solisten ein Gefährte beigegeben ist?
LM: Das ist unglaublich: Ich habe nie daran gedacht. Das haben wir unbewußt gemeinsam. Don Quixote ist jedenfalls ein Stück, das ich heiß liebe, und auch Blochs Schelomo. Beide Stücke habe ich vor Beginn der Arbeit an meiner Musik für Cello und Orchester studiert, und ich stellte fest, daß ich keine Note davon nehmen würde. Aber vielleicht doch einiges von der Psychologie und der Atmosphäre. Ich hatte ja Sorgen, daß ich mich plötzlich unbewußt irgendwoanders bedienen würde. Aber es scheint, daß ich das nicht mache. Von meiner ganzen Intuition her komme ich nicht in die Reviere der anderen hinein. Es kommen entweder frische Noten aus meiner Quelle, oder gar keine. Das ist eben ein Vorteil, den man als erfahrener Dirigent hat, der so vieles schon gemacht hat: Man weiß Bescheid. Ich glaube, daß es mir bis jetzt gelungen ist, nicht zu klauen, obwohl ich darauf nicht achte. Aber ich würde dann die Musik sofort erkennen: "Was schreibst du denn da? Das ist doch das dritte Thema aus dem zweiten Satz der siebten Symphonie von Egon Bernlicht. Nein, nein."
CS: Interessant ist, daß irgendwie die Thematik von Ravels "L’enfant et les sortilèges" in ihren Musiken für Solist und Orchester herumgeistert: Der Protagonist, also der Mensch, und die oft fremde, ja feindliche Umwelt – vor allem in der Cellomusik. Vielleicht auch: Mensch und Maschine. Wie bei Ravel das Kind und das Spielzeug.
LM: Das stimmt. Diese Verbindung hätte ich nie herausgefunden. In der Tat war ich sehr von diesem Stück beeinflußt in meiner Jugend. Und ohne diese intensive Erfahrung hätte ich wahrscheinlich meine Musik heute nicht so schreiben können. Ja, so muß es wohl sein. Revolution heißt eben, wie auch Strawinskij betonte, Herumdrehen. Es ist ein Rad, das sich dreht.
Letztlich ist es sehr schwer für mich, nachzuvollziehen, daß ich diese Stücke geschrieben habe. Denn nach der Geburt verschwindet alles so schnell aus der Erinnerung. Die Noten bleiben. Aber wie es dazu gekommen ist? Jetzt höre ich meine Musik mit sehr viel Abstand. Und ich bin sehr glücklich über das, was ich getan habe. Es hat sehr viel Energie gekostet, denn es war nicht vorgesehen. Ich schreibe zum Beispiel Musik in einer Woche, wo ich eventuell vier, fünf Konzerte habe und drei, vier Proben, vielleicht sogar auf Reise. Und dann spiele ich gleichzeitig sehr viel Geige. Und ich nehme meine Aufgabe als Vater sehr ernst und verbringe so viel Zeit wie möglich mit meinen Kindern. Das heißt, daß ich um fünf Uhr aufstehen muß, um die Musik eigentlich in der Nacht zu schreiben. Ich habe dafür keine andere Zeit zur Verfügung. Das frißt natürlich sehr viel Energie. Aber es lohnt sich. Nicht, weil das Ergebnis so außerordentlich wäre. Ich bin jetzt einfach ein glücklicher Mensch geworden – in einem Bereich, wo ich immer ein bißchen unruhig war. Bis dahin fühlte ich mich irgendwie nicht erfüllt. Dieses unterschwellig belastende Gefühl ist jetzt weg: Ich schöpfe etwas. Das ist schön.

Interview: Christoph Schlüren

(veröffentlicht in Klassik Heute, 1998)