CD-Tips: Als exklusiver EMI-Künstler hat Jansons
viele Aufnahmen mit den Osloer Philharmonikern gemacht, die er seit
18 Jahren leitet. Zuletzt die drei römischen Tongedichte Respighis:
äußerst kraftvoll, brillant, extrovertiert (555600-2).
Schostakowitschs Musik liegt Jansons besonders: dunkles Timbre,
Wucht, schroffe Kontraste. Besonders gelungen das Konzert für
Klavier, Trompete und Streicher mit Mikhail Rudy, Ole Edvard Antonsen
und den Berliner Philharmonikern, gekoppelt mit der ersten Symphonie
(555361-2). In Oslo wurden die zwei Symphonien von Johan Severin
Svendsen eingespielt: Eigenartige nordische Romantik, die jedem
zugänglich ist (749769-2).
Der Lette Mariss Jansons ist einer impulsivsten, feurigsten Maestri
unserer Zeit. Der Sohn eines angesehenen Dirigenten wuchs inmitten
hochprofessionellen Musikertums auf. Als Dirigent verdankt er Jewgenij
Mrawinskij und Herbert von Karajan Entscheidendes. Jansons ist seit
1979 Chefdirigent der Osloer Philharmoniker, die er zu weltweiter
Anerkennung führte. Seit dieser Saison wirkt der Vielbeschäftigte
überdies als Musikdirektor der Pittsburgher Symphoniker.
CS: Wenn Sie, wie jetzt in München, mit Werken gastieren, die
Sie schon oft dirigiert haben: Was reizt Sie daran? Was verändert
sich?
MJ: Ich glaube, daß es zwei generelle Richtungen gibt. Man
kann es so halten, wie der späte Mrawinskij es gemacht hat
- er hat nicht viel dirigiert: Sehr schmales Repertoire, immer wieder
dieselben Werke, aber auch: immer von Neuem. Oder Sie können
in die andere Richtung gehen und versuchen, ein möglichst weites
Repertoire zu beherrschen. Und das ist sehr wichtig: Sie sind dann
in den verschiedenen Stilen zuhause, lernen, sich extrem unterschiedlich
auszudrücken. Das hält auch die immer lauernde Gefahr
der Routine in Schach. Es ist zum Beispiel sinnvoll, für eine
gewisse Periode viele Experimente zu machen, viele unbekannte Werke
zu dirigieren. Und dann können Sie nach und nach darauf zurückkommen,
es nochmals lesen, wie einen besonders faszinierenden Roman. Sie
müssen beides tun, wiederholen und Neues aufführen. Ich
mache in jeder Saison Werke, die ich nie vorher dirigiert habe.
Das ist eine Frage der Balance, und irgendwo natürlich auch
eine Zeitfrage. Musik jedenfalls, die Sie noch nicht kennen und
die interessant genug ist, um sie kennenzulernen, davon gibt's genug.
CS: Wer und was hat Sie als Musiker entscheidend geprägt?
MJ: Zunächst einmal, in meiner Kindheit, schon als Dreijähriger,
das ganze Umfeld. Ich verbrachte den ganzen Tag im Opernhaus von
Riga. Mein Vater, Arvid Jansons, war Dirigent, meine Mutter war
Solistin. Es war der Ort meiner Kinderspiele, denn sie hatten keinen
Babysitter und brachten mich immer mit. Und ich sah jeden Tag die
Proben, die Vorstellungen - meistens Ballett, Oper war ziemlich
schwierig für mich. Ich kannte alle Ballette auswendig, konnte
sie tanzen und singen.
CS: Was hat Ihnen Ihr Vater vermittelt?
MJ: Er ging dann nach Petersburg, und vier Jahre später folgten
wir ihm nach. Natürlich hat mir mein Vater sehr viel erzählt,
darüber, was Dirigieren ist, über die Beziehungen mit
den Musikern, mit dem Orchester. Ich habe ihn über alles ausgefragt
und seine Proben und Konzerte verfolgt. Natürlich haben wir
auch über Interpretation gesprochen. Mein Vater war ein Romantiker,
sehr emotional und sehr spontan, ganz anders als Mrawinskij. Er
war nie ein eigentlicher Lehrer, der mich geregelt unterrichtet
hätte.
CS: Wer hat Sie am stärksten beeinflußt?
MJ: Mrawinskij natürlich. Ich war Assistent bei ihm. 1956 lernte
ich ihn kennen, dreizehnjährig, und war mit ihm zusammen, bis
er 1985 starb. Damals arbeitete mein Vater mit ihm. Wir waren bei
ihm zuhause, und ich war natürlich immer dabei, bei allem,
was gesprochen wurde. Und während der zweimonatigen Sommerkonzerte
im Süden trafen sich alle großen Künstler: Oistrach,
Gilels, Richter, Kondraschin usw. Ich habe da schon als ganz kleiner
Junge alles mitbekommen: über das Musikleben und alles, was
dazugehört, auch Intrigen, alles.
CS: Was haben Sie von Mrawinskij gelernt?
MJ: Der war ein fantastischer Orchestererzieher. Seine Proben waren
etwas Unglaubliches. Er konnte dem Orchester nicht nur sagen, was
er wollte, sondern - wie ein Arzt, der eine Diagnose stellt und
therapiert - was die Musiker wie anders machen mußten, damit
er ein bestimmtes Resultat erhielt. Er hat immer richtige Methoden
gefunden, um das durchzusetzen, und er war eine ungeheure Persönlichkeit,
ist immer sehr in die Tiefe der Musik gegangen.
Für eine Symphonie, die er schon
200 mal dirigiert hatte, bereitete er sich womöglich einen
Monat lang vor, obwohl er das Werk längst in- und auswendig
konnte. Überhaupt habe ich nie in meinem Leben einen Menschen
getroffen, der so viel so intensiv gedacht hat - in völliger
Versenkung - wie Mrawinskij. Er konnte zwei, drei Stunden dasitzen
und nur denken, und kein Wort sagen. Und Sie sitzen mit ihm. Das
war eventuell unangenehm. Ja, das war seine Stärke - und dann
sagt er irgendwann ein Wort - und dann wieder: denkt und denkt.
Mrawinskij war kein spontaner Musiker. Er hat in den Proben alles
vorbereitet. Im Konzert hatte er mehr diese Einstellung: Ich habe
alles gemacht, und jetzt lasse ich sie spielen und kontrolliere.
Ganz das Gegenteil davon war Karajan. Er gab immer ein Feuer am
Abend. Er hat dann sehr spontan musiziert, obwohl auch er in den
Proben alles vorbereitet hat. Mrawinskij hatte unumstößliche
Autorität, selbst auf Musiker wie Oistrach oder Richter. Er
war vielleicht die stärkste Persönlichkeit, der ich je
begegnet bin.
CS: Hat es sie viel Energie gekostet, sich von diesem Einfluß
zu befreien?
MJ: Ja. Ich habe bei ihm zwar sehr viel gelernt. Aber es war schon
unfaßbar: Wenn Mrawinskij mal nicht in der Philharmonie war,
so hatte jeder so ein Gefühl: "Mrawinskij ist trotzdem
hier." Der Geist war so stark, daß er auch da kontrollierte,
wo er es gar nicht konnte. Das war natürlich optimal, weil
das Orchester in sehr starken Händen war. Aber für mich
war es auch sehr wichtig, etwas Freiheit zu bekommen. Außerdem
hatte die Lage im ganzen Land, die systematische Unberechenbarkeit
der Diktatur Einfluß auf jeden Menschen. Ich meine, daß
die Künstler in der Sowjetunion sich auf der Bühne nicht
uneingeschränkt frei ausdrücken konnten. Ich glaube, daß
Sie, wenn Sie in ihrem Leben Angst haben, nicht ganz frei sind,
nicht auf der Bühne ein völlig anderer Mensch sein können.
Gottseidank hatte ich diese Möglichkeit, in Oslo zu arbeiten,
auch wenn es bis nach der Perestroika keinen Vertrag gab, ich nie
wußte, ob es weitergeht. Denn als der norwegische Botschafter
mit unserem Kulturminister sprach, hat der eigentlich "Njet"
gesagt.
CS: Und trotzdem ging es?
MJ: Na ja. Damals war in gewisser Weise alles, was verboten war,
auch erlaubt. Man sagte: "Okay, fahren Sie, arbeiten Sie",
aber niemand war verantwortlich, nichts wurde schriftlich abgesichert.
Jeder hatte ja Angst vor der möglichen Reaktion seines Vorgesetzten.
Roschdestwenskij war der einzige Künstler, der die offizielle
Erlaubnis hatte, regulär im Ausland zu arbeiten. Aber wir Künstler
haben sehr viel Geld ins Land gebracht, und wir waren gut fürs
Prestige.
CS: Ist Erfolg gefährlich für den Künstler?
MJ: Ja. Er führt leicht zu Oberflächlichkeit. Sie können
schnell und ungefährdet eine gemütliche Stellung einnehmen:
Alles geht so gut. Wunderbar. Sie haben tolle Konzerte, von überall
Einladungen... Daher versuche ich auch, alle Werke, die ich schon
öfter dirigiert habe, immer wieder von neuen Gesichtspunkten
aus zu verstehen, immer mehr in die Tiefe zu gehen.
CS: Neben Oslo und Pittsburgh teilen Sie sich auch die Chefposition
der Petersburger Philharmonie mit Temirkanow. Wollen Sie noch weiter
expandieren?
MJ: Noch ein Orchester? Nein. Ich muß sogar umgekehrt vorgehen.
Mein Problem ist, daß ich weniger machen möchte. Ich
suche die richtige Balance. Ich brauche mehr Zeit, um die Dinge
zu durchdenken. Ich will mehr analysieren und weniger dirigieren..
Ich muß mich konzentrieren. Die vielen Gastdirigate haben
mir viel gegeben, haben meine Phantasie befruchtet, Ideen in Gang
gesetzt. Jetzt habe ich ein unschätzbares Kapital interessanter
Erfahrungen und Ideen. Dieses Kapital möchte ich nun bearbeiten,
anwenden. Das geht nur, wenn ich meine Tätigkeiten reduziere.
Interview: Christoph Schlüren
(veröffentlicht im Münchner Kulturmagazin 'Applaus',
1995)
(Salzburg, 7.8.95) |