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SHARON ISBIN

spielt
Gitarrenkonzerte von Tan Dun und Christopher Rouse
Ritual und Phantasmagorie

Wenn Sharon Isbin ein Konzert für Gitarre und Orchester in Auftrag geben läßt, so kann man davon ausgehen, daß das Zusammenspiel einiger wesentlicher Kriterien für das Entstehen einer sowohl unorthodoxen als auch erfolgreichen Musik gegeben ist: Die von ihr bevorzugte Musik ist anspruchsvoll, originell und unmittelbar kommunizierend. Sie ist weder belangloser Mainstream noch abstraktes Experiment. Dabei sind die beiden Konzerte von Christopher Rouse und Tan Dun äußerst verschieden und lassen stilistisch eigentlich keinen Vergleich zu. Sie entstammen völlig unterschiedlichen kulturellen Horizonten und haben keine tonsprachlichen Gemeinsamkeiten. Und doch haben beide Werke auf einer anderen Ebene, jenseits der konkreten Klanglichkeit, ihre Berührungspunkte. Tan Dun spricht davon, daß es für den heutigen Komponisten nicht darum gehe, die überlieferten Dinge in der tradierten Weise anzugehen, sondern vielmehr um einen stetigen Wechsel der Perspektive: "Überall kann man eine andere Perspektive einnehmen." Das hergebrachte Instrumentarium ist ihm Ausgangspunkt verschiedener Möglichkeiten, und er möchte es nicht einfach idiomatisch bedienen. So geht er in 'Yi2' das Ausdruckspotential der Gitarre aus der Perspektive der chinesischen Pipa (Laute) an und versucht nicht nur, technische und tonliche Aspekte dieser Instrumente auf die Gitarre zu übertragen. Auch Christopher Rouse arbeitet mit Änderungen der Perspektive, allerdings eher mit einer Verschiebung als mit dem radikalen Wechsel. Er verzerrt das spanische Idiom in seinem 'Concert de Gaudí' in ähnlicher Weise ins Phantastische, wie Antoní Gaudí in seiner Architektur die spanische Tradition und Seele transformiert. Manche Gitarrenfiorituren und Holzbläserfiguren scheinen tatsächlich fast eine direkte akustische Widerspiegelung der von Gaudís naturhaft-mystischer Ornamentik empfangenen optischen Eindrücke zu sein. Wobei Rouse betont, er habe nicht versucht, ein musikalisches Portrait von Gaudís Architektur zu entwerfen, sondern es sei sein Ziel gewesen, eine tönende Ensprechung zu der surrealen und unvorhersehbaren Wirkung zu schaffen, die Gaudís Werk auf ihn ausübe (auch der erste Satz seiner 'Phantasmata' für Orchester ist übrigens von diesem Wunsch geprägt): "Also hatte ich nicht so sehr bestimmte Strukturen Gaudís im Sinn (mit Ausnahme der Kathedrale der Sagrada Familia, welche ich in einer sehr allgemeinen Weise vor Augen hatte, während ich den langsamen Satz schrieb; jedoch machte ich keineswegs den Versuch einer musikalischen 'Beschreibung' der Kathedrale). Es ging mir vor allem um den 'Geist', der seinem Werk innewohnt. Ich kann nicht in Worte fassen, was diesen 'Geist' ausmacht, aber die Art, wie Gaudí eine grundlegende und bekannte Konstruktionsweise mit einer Unzahl unerwarteter Verdrehungen, Kurven und Verwerfungen extrem fantastischer, phantasmagorischer Dimensionen versah, läßt ihn als einen der wenigen 'Träumer' erscheinen, die je in der Lage waren, tatsächlich ihre Träume zu verwirklichen." Das ist es also, was auch Rouse bewegt: die fantastische Welt der Träume zu verwirklichen, die dann natürlich nicht mehr Gaudís Träume sind, sondern seine eigenen. Und so wird ihm Gaudí eigentlich zum Katalysator musikalischen Fantasieflugs: "Folglich beschloß ich, jene Musik als Basis zu nehmen, die mir als Quintessenz spanischen Ausdrucks erschien – den Flamenco –, und sie einem vergleichbaren Prozeß der Verdrehung, Umkurvung und Verwerfung zu unterziehen, wie Gaudí dies an den zugrundeliegenden architektonischen Modellen vorgenommen hatte."
Die Grundatmosphäre in Rouses 'Concert de Gaudí' wird also von der Welt des Flamenco getragen, von ihrer lodernden Leidenschaft und dem sanguinischen Schwung. Der Amerikaner Rouse, geboren in Baltimore und ausgebildet bei George Crumb, hatte schon immer zwei auffallend starke Neigungen, die nur in einer großzügigen Persönlichkeit zu einer relativen Balance finden können: der Begeisterung für den rasanten, obsessiven Gestus von Rock-Bands wie Led Zeppelin steht die Liebe zur klassisch-romantischen europäischen Tradition gegenüber. In diesem Spannungsfeld spielt sich vieles von Rouses Musik ab. Tan Duns Welt ist fern von solcher Polarisierung: "In der östlichen und fernöstlichen Überlieferung ist die Musik ganz nahe am Menschen, seinem Leben und Denken. Sie ist dort immer noch echter Ausdruck der Lebenswirklichkeit, wie sie sich uns täglich stellt, einer Alltäglichkeit ohne jede Prätention." Unter dieser Voraussetzung steht für ihn die Einsicht, daß ein heutiger Komponist sich nicht mehr an stilistische Vorgaben zu halten hat: "Alleine der Wechsel der Medien fordert jedes Mal einen Wechsel des musikalischen Konzepts."
Tan Duns Gitarrenkonzert 'Yi2' entstand 1996 als Auftragswerk des Südwestfunks Baden-Baden für die Donaueschinger Musiktage, wo es von Sharon Isbin mit dem Orchestre National de France unter Lothar Zagrosek uraufgeführt wurde. An der Uraufführung war damals auch der Komponist selbst mit Vokalimprovisationen beteiligt, die er spontan beisteuerte, ohne sie während des Kompositionsprozesses in Erwägung gezogen zu haben. Da diese Improvisationen kein strukturell wesentlicher Bestandteil waren, können sie auch entfallen. 'Yi2' ist Teil einer Werkserie mit gleichbleibendem Orchesterpart, die auch das bisher unaufgeführte 'Yi0' für Orchester alleine und das Cellokonzert 'Yi1' beinhaltet.

Das Orchester bildet über weite Strecken den Hintergrund für die auskomponierte Improvisation des Solisten: "Die beste Musik ist zugleich die ideale Improvisation. Improvisation ist nicht Willkür, sie ist frei und zugleich so, als könne sie anders nicht sein. Es ist ja nur in der Musik so, daß natürlich sein dasselbe ist wie logisch sein." Für den 1957 im chinesischen Si Mao geborenen Tan Dun sind sein Leben und sein Komponieren unauflöslich miteinander verknüpft: "Was ich schreibe, ist eng mit dem verbunden, was ich erlebe, es spiegelt sogar mein Leben wider." Sharon Isbin betont, daß Tan Dun, indem er über das moderne Instrument ein altes in Erinnerung bringt, also mit der Gitarre die chinesische Pipa beschwört, die Welt beider Instrumente zusammenbringt: "'Yi2' ist eine bemerkenswerte Synthese spanischer und chinesischer Kulturen, mit chinesischer Volksmusik im harmonischen und melodischen Vordergrund. In Rouses 'Concert de Gaudí' ist die spanische harmonische Sprache natürlich dominierender, als könne man geradezu Spanien durch diese Musik sehen. Doch Rouse schmilzt und beugt, verzerrt diese Bilder auf eine Art, die in der Malerei Dalí und in der Architektur Gaudí vergleichbar ist. Beide Konzerte sind für mich sehr reizvoll und inspirierend, denn jedes erweitert die lyrischen Qualitäten, Nuancierungen, Farben und virtuose Brillanz der Gitarre inmitten eines weiten Zusammenhangs emotionaler und orchestraler Strukturen. Ich liebe den freudevollen Überschwang und die tief anrührende mystische Schönheit des 'Concert de Gaudí' ebenso wie das kraftvolle, leidenschaftliche Drama und die uralte, sinnliche Sehnsucht von 'Yi2'. Beide Werke sind eine Herausforderung in der Erweiterung der technischen und musikalischen Horizonte der Gitarre. In 'Yi2' mußte ich Wege finden, um die moderne Gitarre wie die Pipa klingen zu lassen. Das bedeutete, Techniken zu entwickeln, um Töne zu 'biegen', Glissandi, Schlagen, melodische Gestaltung und ausgiebiges Tremolo im wechselweise feinsinnigen und energischen Stil der Pipa zum Klingen zu bringen. Spanische Elemente kommen hinzu im spielerischen und kreativen Einsatz von Flamenco-Gebärden, wenn Tan Dun den Gitarristen – im Rhythmus des klatschenden Dirigenten – zum Stampfen und Schlagen ganz nach Rasgueado-Art auffordert.
Wenn Rouse ähnliche Techniken auf der Gitarre einsetzt, so geschieht dies mit einer gründlich anderen Wirkung. Zum Beispiel sollen die 'gebeugten' Noten (bent notes) in 'Concert de Gaudí' wie aus einer anderen Welt klingen. In der Kadenz erinnern sie mich in der ehernen Kraft sogar an Jimi Hendrix. Während das Tremolo in 'Yi2' dazu dient, Melodien mit dem brillanten, oszillierenden Pipa-Effekt zu bereichern, ist das Tremolo im Finale von 'Concert de Gaudí' haarsträubend virtuos im Rhythmischen, überquellend vor Energie und herausfordernd in der ständig wechselnden Metrik." 'Concert de Gaudí', gemeinsam vom Norddeutschen Rundfunk und dem Dallas Symphony Orchestra (mit Unterstützung von Richard und Jody Nordlof) in Auftrag gegeben, wurde im Sommer 1999 vollendet und am 2. Januar 2000 in Hamburg von Sharon Isbin und dem Symphonieorchester des Norddeutschen Rundfunks unter Christoph Eschenbach uraufgeführt. Es zählt zu jenen Werken aus Rouses Feder, die dem schicksalshaft-dunklen und oft tragischen Ton früherer Jahre eine leichtere, kapriziösere Welt entgegensetzen: "Ich empfand die Notwendigkeit, als Komponist mitzuteilen, daß das Leben nicht nur aus Gram und Verzweiflung besteht. Es ist ganz einfach ein Werk, das den Hörer fesseln, ja, ihm wohltun soll." Dabei ist 'Concert de Gaudí' im unmittelbar kommunizierenden, von tiefer Empfindsamkeit getragenen Tonfall ebenso typisch für Rouses Schaffen wie seine Symphonien oder das Posaunenkonzert, welches ihm 1993 den Pulitzer Prize for Music eintrug.
'Yi2' ist für Tan Duns Schaffen charakteristisch in der Verwurzelung in den Gebräuchen der heimischen chinesischen Kultur, die in eine universelle Dimension transzendiert sind. Entscheidend ist in 'Yi2' die "schamanistische Kultur an jenem Ort und zu jener Zeit, als ich heranwuchs: Im Süden der Provinz Hu-Nan. Der Geist der Musik stammt aus dem Rituellen, welches ein natürliches Milieu meiner kindlichen Eindrücke bildete. Wir lebten am 'weißen Berg', wo täglich ungefähr 50 Bestattungen stattfanden. Die Musik bezieht sich nicht auf den Tod irgendeiner bestimmten Person, und wenn eine intensive Passage im Orchester die ungeheure Intensität des Weinens und Klagens aller Anwesenden ausdrückt, so ist auch dies Teil des Rituals. Durch die Musik wirkt die Kultur allgemein hindurch, und nicht persönliches Schicksal spricht aus ihr. Es ist die Erinnerung an diese Rituale: Die Trauermusik nennen wir 'weiße Glückseligkeit', so, wie wir die Hochzeitsmusik 'rote Glückseligkeit' nennen. Der Tod ist die Reise zweiten Grades."
Für Sharon Isbin ist es von besonderem Reiz, die in sich so stimmigen, zueinander so verschiedenen Welten von Christopher Rouse und Tan Dun durch die unter der klingenden Oberfläche verborgenen Parallelen zueinander in Beziehung zu setzen. Denn, das ist der Sinn eines lebendigen Programms, wahre Ergänzung findet nicht über physiognomische Ähnlichkeit, sondern in beziehungsreicher Verschiedenheit statt.

Christoph Schlüren

(Booklettext für Teldec/Warner Classics)