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Interview mit Natalia Gutman

"Der Musik folgen wie einem Schicksal"

CD-Tips: Das Münchner Label Live Classics veröffentlicht ausschließlich sorgfältig ausgesuchte Live-Mitschnitte einiger ausgewählter Künstler von internationalem Rang. Herzstück des Programms ist die Oleg Kagan-Edition, die sich Aufnahmen von und mit dem tragisch früh verstorbenen Geiger, einem der größten Musiker Rußlands, widmet (das Sibelius-Konzert sollte man gehört haben, LCL 143). Mit ihrem 1990 verstorbenen Mann und dem Bratschenvirtuosen Yuri Bashmet spielte Natalia Gutman über Jahre hinweg Streichtrio-Literatur. Welche subtile Freude, welche überschwengliche Grazilität das Spiel dieser Drei durchzog, ist in Schubert-Streichtrios und der Serenade op. 8 von Beethoven (LCL 142) dokumentiert, und mit zwei weiteren Beethoven-Trios (LCL 141). Kagan und Gutman traten natürlich auch im Duo Geige-Cello auf, und fesselnde Aufnahmen vom finnischen Kuhmo Kammermusik-Festival präsentieren die furiose Ravel-Sonate und die Uraufführung von Sofia Gubaidulinas "Freue dich!" (LCL 121). Zusammen mit Brunner und Lobanow kam der Mitschnitt von Olivier Messiaens "Quartett für das Ende der Zeiten" zustande (LCL 712). Mit dem Idol ihrer Jugendtage, Svjatoslav Richter, führte Natalia Gutman in den letzten Jahren auch hierzulande Rares auf, wie Sonaten von Saint-Saens und Britten (zusammen mit der Prokofjew-Sonate, LCL 641). Am repräsentativsten für ihre Qualitäten aber dürfte wohl eine CD sein, auf der die dritte Suite für Cello Solo von Johann Sebastian Bach mit zwei Einspielungen mit Elisso Wirssaladze gekoppelt wurde: mit der ersten Brahms- und der Grieg-Sonate (LCL 621). Welche aufrichtige, in der Tiefe verankerte Schlichtheit im Solo, und welche Wärme und überquellende Lebendigkeit beider im Zusammenspiel!
 
Seit am 15. Juli 1990 ihr Mann Oleg Kagan in München an Krebs starb, stellt die russische Meistercellistin Natalia Gutman ihr Wirken in den Dienst seines Gedenkens mit dem Wunsch, auch einige Funken von seinem hochsensiblen, poetischen Musikertum weitergeben zu können. Das gemeinsam begonnene allsommerliche Musikfest Kreuth am Tegernsee führt sie seitdem in Eigenregie fort und fördert dort auch begabte Nachwuchsmusiker und jedes Jahr einen Festival-Komponisten, dessen Schaffen einen Programmschwerpunkt bildet. Mit der georgischen Pianistin Elisso Wirssaladze gibt sie nun an zwei Abenden die kompletten Sonaten für Cello und Klavier von Beethoven.
CS: Seit wann kennen Sie ihre Klavierpartnerin Elisso Wirssaladze?
NG: Seit wir sechzehn Jahre alt waren - wir sind im gleichen Jahr geboren - und seit damals sind wir bestens befreundet, haben viel miteinander gespielt, auch mit Oleg zusammen, und uns immer verstanden. Elisso hat zuerst zuhause in Tiflis bei ihrer Großmutter studiert, einer fantastischen Pianistin aus der Petersburger Schule. Später war sie Schülerin von Heinrich Neuhaus und Yakov Zak, und da, in Moskau, kamen wir natürlich öfter zusammen.
CS: Wer war Ihr erster Lehrer?
NG: Mein Stiefvater. Er war Cellist, und ich war verliebt in Cello. Da kam er mit einem kleinen Cello nach Hause und fing an mit mir.
CS: Haben Sie viel Hausmusik gemacht?
NG: Nur mit meiner Mutter, sie war Pianistin. Sonst war da nicht so viel Leben möglich, denn wir wohnten in einer Kommunalwohnung, in der noch sieben weitere Familien waren. Unsere Wohnung war ganz klein, und wir hatten nicht viel, denn nach dem Krieg standen Musiker besonders weit unten auf der sozialen Skala.
CS: Wie lange haben Sie bei Ihrem Stiefvater gelernt?
NG: Drei Jahre. Seit meinem fünften Lebensjahr war ich auch auf der Kinder-Musikschule "Gnessin" und bekam dieses ganze Training. Dann wechselte ich an die Zentralmusikschule, wo alles viel lebendiger und interessanter wurde. Dort und am Konservatorium war Galina Kozolupowa meine Lehrerin, die Tochter Semyon Kozolupows, des Begründers der russischen Celloschule in den dreißiger Jahren.
CS: Was ist das Besondere an der russischen Celloschule?
NG: Die russische Schule holt aus dem Cello mehr 'raus, erhält einen tieferen, volleren Klang. Mit musikalischen Richtungen hat das nichts zu tun. Typisch ist diese Liebe zum Instrument und seinem Potential.
CS: Besteht diese Schule heute weiter?
NG: Ich weiß nicht, ob es sie noch gibt. Es ist jetzt stark vermischt mit westlichen Tugenden: Leichtigkeit, schlanker Ton. Heute wird die Kozolupow-Schule eher belächelt; sie war solide, aber wohl doch etwas separiert von der Musik, eine reine Instrumentalausbildung.

CS: Sie haben bei Rostropowitsch studiert...
NG: Nach fünf Jahren bei Frau Kozolupowa kam ich für vier Jahre in seine Meisterklasse. Er hat mir unglaubliche Stunden gegeben - unvergeßlich! Es war auch ein Spektakel, und unbeschreiblich genial - er mußte alles sagen, was er konnte. Er hat den Schüler frei gemacht, hat vom Menschen noch das genommen, was der kann und nicht gibt. In der Klasse waren immer viele Zuhörer. An einige seiner Bemerkungen erinnere ich mich immer.
CS: Wer war Ihr wichtigster Lehrer?
NG: Mein Großvater, Anisom Berlin. Meine größten Erinnerungen aus der Kindheit habe ich an ihn. Vier Jahre lang hat er mit mir gearbeitet, und als ich achtzehn war, starb er. Er war ein großer Geiger, Schüler von Leopold Auer und einst Konzertmeister des Moskauer Stadtorchesters, vor allem aber ein unglaublicher Musiker und der begabteste Lehrer überhaupt: nicht nur für Musik, sondern als Erzieher insgesamt. Er hat wirklich tief und langfristig gearbeitet, hat mir alles gezeigt und mein Gehör zur musikalischen Kontrolle erzogen. Das ist das Wichtigste, was ein Lehrer machen muß: seinen Schülern "Ohren geben", die Selbstkontrolle zu entwickeln. Was er da für mich tat, hilft mir das ganze Leben über.
CS: Welche berühmten Musiker bewunderten Sie damals besonders?
NG: Svjatoslaw Richter war mein Gott. Ich fand, daß er spielt, was ich brauche. Unglaublich war Isaac Stern, der 1957 erstmals nach Rußland kam, und das Boston Symphony mit Charles Münch und Pierre Monteux, das war absolut eine "Bombe"...
CS: Haben Sie später auch Schostakowitsch kennengelernt?
NG: Mit meinem Mann haben wir ihm vorgespielt. Und als er sein letztes Quartett geschrieben hatte, wurden wir gebeten, es ihm vor der offiziellen Uraufführung durch das Beethoven-Quartett vorzuspielen. Einer der Musiker war krank geworden, er aber wollte es unbedingt hören. Wir spielten, und er war sehr nervös, aber sehr zufrieden mit der Musik. Das Quartett besteht aus sechs langsamen Sätzen. Als diese lange, statische Fläche entstand, so lange und fahl, entfuhr es ihm: "Ja, ja, so muß es sein: so häßlich! Häßlich!" Mit dem ganzen Schmutz des Lebens. Danach bat er uns, niemandem zu erzählen, daß wir das Werk gespielt haben, um die Musiker des Beethoven-Quartetts nicht zu verletzen: "Bitte, das ist ganz geheim." Diese Schutzmaske war immer da bei ihm.
CS: Welches seiner beiden Konzerte spielen Sie lieber?
NG: Natürlich das zweite. Musikalisch ist das für mich sogar eines seiner besten Stücke überhaupt. Wenn man es spielt, kann man der Musik wirklich folgen wie einem Schicksal.
CS: Wann haben Sie Ihren Mann kennengelernt?
NG: Auf dem Konservatorium. Dann gewann er den Sibelius-Wettbewerb und die anderen Preise. Daß wir anfingen, miteinander zu spielen, daß es zu einer Freundschaft kam - das war 1969. Von der ersten Probe an habe ich sofort gewußt: das ist es. Unglaublich. Das ist "mein" Musiker, absolut. Und so ist es geblieben. Wir mußten nicht sprechen, nichts absprechen, wenn wir zusammenspielten. Wir mußten nur spielen, und der eine hörte den anderen, es war nichts hinzuzufügen.
CS: War durch das schwere Schicksal eine weitere Entwicklung in seinem Spiel?
NG: Sicher. Aber Entwicklung war bei ihm immer. Er war immer größer und größer. Und er hat gespielt, drei Tage vor dem Tod, ohne Rippen und ohne Wirbelsäule. Nur mit Liebe zu Musik. Auch als er diese schrecklichen Schmerzen in der Beethoven-Generalprobe mit Celibidache hatte - wie ein Engel. Er war bis zum Ende wirklich nur Musiker, nie etwas anderes. So, wie er Musik in sich hatte, wie er spielen konnte, gibt es niemanden. Davon bin ich überzeugt.

Interview: Christoph Schlüren

(veröffentlicht im Münchner Kulturmagazin 'Applaus', 1995)

( München, 19.12.95)