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Harmonik – Träger des Zusammenhangs

Interview mit Daniel Barenboim

Daniel Barenboim, der am 19. August sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum feierte, gehört zu den wenigen Musikern unserer Tage, die sowohl als Instrumentalist als auch als Dirigent ganz oben stehen. Seit 1991 ist er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, seit 1992 Generalmusikdirektor der Deutschen Staatsoper Berlin. Der seit Mitte der fünfziger Jahre weltweit anhaltende Erfolg hat ihn nie dazu gebracht, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Barenboim ist eine Entdeckernatur geblieben. Er beschäftigt sich ebenso intensiv mit den Klassikern der avancierten neuen Musik wie mit Stilen, die von vielen Kollegen als Unterhaltungsmusik abgetan werden, wovon seine in letzter Zeit erschienenen Alben mit Jazz (symphonische Arrangements von Duke Ellington-Titeln), Tangos (zur Musik seiner argentinischen Heimat hat er verständlicherweise ein besonders entspannt-inniges Verhältnis), afroamerikanischem Spektakel (Hannibal Lokumbe) und jüngst teils pop-naher brasilianischer Kammermusik zeugen. Neben dem Dirigenten Barenboim ist der Pianist zusehends etwas in den Hintergrund getreten, was man angesichts seiner exquisiten Zyklen beispielsweise der kompletten Sonaten und Konzerte von Beethoven und Mozart zu Recht bedauern kann. Daß er aber als Dirigent keine geringere Kapazität ist, beweist seine im Mai erschienene erste Plattenaufnahme der Beethoven-Symphonien. Hier zeigt er sich von seiner beeindruckendsten Seite und setzt musikalische Signale gegen den pseudo-authentischen Zeitgeist einer immer kurzsichtiger rezipierten stylistical correctness, die die organische Gestalt, die weittragende Innenspannung der klassisch-romantischen Formen durch rhetorisch beflissene Zergliederung und triviale Ideologisierung (beispielsweise via terroristischer Metronomgläubigkeit) dem Bewußtsein der Hörer entfremdet – eine wahrhaft sinnvolle Tat, gestützt durch ein hinreißend aufspielendes Orchester, die in ihrer scheinbaren Unzeitgemäßheit gerade zur rechten Zeit via CD und DVD einer weltweiten Hörerschaft zugänglich gemacht wird.
CS: Sie haben Wilhelm Furtwängler noch kurz vor seinem Tod als Zwölfjähriger kennengelernt.
DB: Da war nicht mehr viel Zeit. Im August 1954 spielte ich ihm vor, im November starb er. Mit ihm musiziert habe ich nie. Ich hörte ein Konzert mit den Proben dazu, und ich war bei fast allen Proben zu 'Don Giovanni' in Salzburg. Ich war natürlich zu jung, um seine einmalige Ausstrahlung richtig wahrnehmen zu können. Es hat aber doch in mir so ein Echo hinterlassen, daß ich mich danach intensiv mit seinem Vermächtnis beschäftigte, seine Platten hörte und seine Schriften las. Seine ganze Musikphilosophie hat mich so interessiert. Furtwängler war eine absolute Sondererscheinung, er war nicht ein typischer Vertreter einer bestimmten Art des Musizierens, sondern wirklich sui generis. Was man – wie bei Artur Schnabel – auch an der extrem widersprüchlichen Rezeption merken kann. Die Leute, die seine Flexibilität mit dem Tempo störte, taten Furtwängler als Romantiker ab. Und diejenigen, die von Mengelberg und anderen an ein manchmal willkürliches Rubato gewöhnt waren, kritisierten Furtwängler als zu rational – es war ja auch rationales Entscheiden beteiligt, wie frei der Umgang mit dem Tempo zu geschehen habe, und das erschien vielen schon als zu intellektuell, zu wenig aus dem Bauch raus. Man kann also nicht sagen, daß er ein Repräsentant der deutschen Schule war oder eine zeittypische Erscheinung.
CS: Könnte so etwas überhaupt auf einen ganz großen Künstler zutreffen?
DB: Ich glaube schon. Es hat nichts mit Wertschätzung zu tun, ist nur eine Beschreibung. Aber man kann feststellen, daß Erich Kleiber, Klemperer, Weingartner damals für eine gewisse Linie des Musizierens standen. Ein Problem mit dem Musizieren heutzutage ist, daß bei den meisten Musikern – geschweige den Kritikern – kein Interesse am interpretatorisch Überlieferten besteht. Man meint, man müsse ständig etwas Neues exponieren, was möglichst nichts mit dem gemein hat, was da war. Das ist sehr schade.
CS: Auch die historisierende Aufführungspraxis tendiert da zum Selbstzweck, und irgendwie hat die Idee vom musikalischen Fortschritt in der Komposition mangels Erfolgsaussicht stattdessen vom Feld der Interpretation Besitz ergriffen.
DB: Wenn Sie diese historisierende Praxis rein philosophisch betrachten – und ich weiß genau, daß unter denen, die sich damit beschäftigen, viele große Künstler sind –, dann überlegen Sie mal: Was ist mit Bach passiert im 19. Jahrhundert? Liszt hat die Orgelstücke bearbeitet, Busoni folgte ihm nach; Mendelssohn dirigierte die Matthäus-Passion. Später hat man dann gesagt: Das war nicht richtig, eine Adaption auf das 19. Jahrhundert. Das Äquivalent dazu wäre, wenn man jetzt eine Art fände, es in einer Haltung zu spielen, die der Musik von Boulez oder Messiaen verwandt wäre. Das wäre progressiv! Tatsächlich aber ist es zum ersten Mal in der Geschichte so, daß wir, was die Musik betrifft, nur zurück schauen. Und natürlich gibt es trotzdem gleich wieder etliche Probleme: Man müßte dann auch Säle haben, wo es so klingt wie einst. Um die Eroica mit sechs ersten Geigen zu spielen wie bei der Uraufführung, muß man so ein Zimmer haben wie im Palais Lobkowitz. In der Philharmonie ist das sinnlos. Was mich stört: Blick zurück ist keine progressive Angelegenheit. Aber man sieht das heute recht allgemein als eine progressive Bewegung an. Es ist ja eine verständliche Reaktion auf die schleichende "Wagnerisierung" und auf die leere Routine. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich das soziologische Problem ein, daß plötzlich viel mehr Konzerte als früher stattfanden. Es wurde alles besser durchorganisiert, Musiker hatten erstmals weltweit Verträge über’s ganze Jahr, und die Spielzeit verlängerte sich. Früher ging die Spielzeit eigentlich im Mai zu Ende. Dann kamen die großen Festspiele, sonst nichts, und im Oktober ging es wieder los. Jetzt war es mit einem Mal durchgehend, und mit immer mehr Konzerten, aber das Repertoire ist nicht entsprechend mitgewachsen. Wieviele Stücke des 20. Jahrhunderts können wir als organischen Bestandteil des Repertoires nennen? Relativ wenige. Natürlich gibt es 'La mer', 'Sacre du printemps' usw. Aber im Großen und Ganzen hat man mehr und mehr immer die gleichen Stücke gespielt, in immer mehr Konzerten von immer mehr Dirigenten – ein immenser quantitativer Zuwachs. Quantitativ mehr bedeutet qualitativ weniger. Wenn Sie für vier Personen kochen, kochen Sie anders als für viertausend. Und da kam es zu einem Punkt (ungefähr in den sechziger Jahren), wo es allzu oft zwar sehr korrekt musiziert war, aber langweilig, in Standard-Manier. Wobei man hierüber leicht vergißt, daß es immer auch große Persönlichkeiten gab, die über dem Routinebetrieb standen. Als Reaktion dagegen kam die authentische Bewegung. Aber was haben die dann gemacht? Es basierte das meiste auf einer gewissen Korrektheit von mehr oder weniger gehaltenem Klang, und da ist man dagegen gegangen. Also war plötzlich alles Artikulation, die langen Töne nicht mehr gehalten, Vibrato weg usw. Von der musikalischen Philosophie her war das jetzt eine Rebellion gegen den Wagnerismus.
CS: Die so spät kam, daß man davon nicht sprechen kann – nach der "Neuen Sachlichkeit"…
DB: Doch. Die Art, wie zu jener Zeit gewöhnlich gespielt wurde, kann man als Wagnerismus bezeichnen. Jedenfalls legte man nun das Hauptaugenmerk auf Artikulation, Rhythmus und Tempo als wichtigste Kategorien. Abgesehen davon, daß man vom Tempo nicht als unabhängigem Phänomen sprechen kann – Celibidache hat das immer klar ausgesprochen –, hat man seither das Hauptelement der Musik, freundlich ausgedrückt, vernachlässigt: die Harmonie. Es ist die Harmonie, die bei Furtwängler bestimmt, ob das Tempo ein bißchen mehr Zeit braucht oder nicht, ob es nach vorne oder zurück gerichtet ist. Wenn man die Musik ohne den harmonischen Bezug hört, gibt es keinen funktionierenden Zusammenhang.
CS: Zweifellos: daß ein Dirigent modulieren kann, ist heute die Ausnahme.
DB: Natürlich. Dabei ist die Harmonie immer von den drei Elementen, die die tonale Musik tragen – Melodie, Harmonie, Rhythmus –, das stärkste, von Natur aus, die anderen Elemente gliedern sich ihr ein. Sie ist sozusagen der große Lastwagen. Die Harmonie "erst mal beiseite lassen" ist totaler Unsinn. Wie können Sie die Basis weglassen, wenn Sie beginnen? Können Sie sich von der Schwerkraft emanzipieren? Die Harmonie ist der Träger des Zusammenhangs, und wenn es eine Lektion sowohl von Furtwängler als auch von Celibidache gibt, dann ist es diese. Spielt man aber heute so, so wird einem vorgeworfen, man sei "altmodisch", als ob man mit der Musik einfach anders umgehen könnte ohne entscheidende Verluste. Die Musik ist lebendig, nicht weil man sie dreht und wendet und immer anders macht, sondern weil sie sich entwickelt. Warum sind die Hundertmeterläufer heute schneller als vor zwanzig Jahren? Weil die Milch besser ist? Es ist eine akkumulative Entwicklung von Generation zu Generation. Aber die Voraussetzung dafür ist eine organische Entwicklung und das Auffinden immer neuer Aspekte darin, damit es sich weiterentwickelt. Begriffe wie "altmodisch", "neu" oder "modern" sind sehr ungefähr. Sie besagen nichts Präzises. Das Wichtigste, um nicht "altmodisch" zu werden, ist, dauernd zu versuchen, die großen Persönlichkeiten zu verstehen. Nicht nachmachen, sondern begreifen, warum sie etwas in einer bestimmten Weise gemacht haben, sei es in der Phrasierung oder im Tempo. Wer das wirklich durchdringt und versteht, kann seine eigene Lösung finden, die aber einen Bezug zum Überlieferten aufweist. Mechanische Nachahmung führt nur bestenfalls zur äußerlichen Kopie. Aber wenn ich mich frage: Warum hat Furtwängler dieses Seitenthema ein bißchen breiter genommen? Warum hat er an diesem Übergang ein bestimmtes Diminuendo oder eine Verlangsamung gemacht? Warum hat er am Ende des Kopfsatzes der Vierten Brahms das Tempo angezogen? Und wenn ich eine Begründung aus meinem Verständnis finde für das, was er getan hat, habe ich etwas gelernt, was nicht heißt, daß ich es von ihm übernehmen muß. Ich habe immer zu Celibidache gesagt, daß ich sein bester Schüler bin, weil ich nicht mit ihm studiert habe. Diese großen Persönlichkeiten sind auch letztlich nicht nachahmbar, denn sie sind äußerst komplex. Wären sie so einfach und durchsichtig, so wären sie eben keine großen Persönlichkeiten. Die großen Künstler entwickeln sich immer weiter. Pierre Boulez dirigiert jetzt Bruckner-Sinfonien. Als ich Chef in Paris war, hörte er mich mit der Achten Bruckner, und dann hat er zu mir gesagt: "Verstehe ich nicht, was Sie da alles in dieser Musik finden. Der Rhythmus im langsamen Satz, zwei gegen drei, das ist eigentlich sehr interessant; aber das ist viel besser schon bei Tristan im zweiten Akt dagewesen." Und jetzt? Für seine Karriere braucht er das nicht. Ich finde es toll, daß sich ein so großer Mann wie Pierre Boulez dafür interessiert. Ich fand es auch toll, als Karajan mit über sechzig Jahren anfing, sich mit Gustav Mahler zu beschäftigen. Heute steckt man einen Künstler gern in eine bestimmte Schublade – ohne "Genehmigung" des Künstlers natürlich – und will ihn partout so sehen. Und wenn er dann etwas tut, was zu diesem Schubladendenken nicht paßt, sind die Leute völlig irritiert.

Ich habe das an meiner eigenen Haut zu spüren bekommen. Ich habe in Berlin in den letzten zehn Jahren sehr viel Bruckner dirigiert, weil ich die Sinfonien auch einspielen wollte; gleichzeitig habe ich in Chicago ich weiß nicht wieviel zeitgenössische Musik gemacht. In Berlin gelte ich als zu konservativ, und wenn ich dann Opernuraufführungen von Carter oder Birtwistle dirigiere, verstehen die Kritiker nicht, was das mit mir zu tun hat. Und in Chicago wirft man mir vor, daß ich zu viel zeitgenössische Musik mache. Aus diesen Widersprüchen folgere ich, daß ich das Richtige tue. Elliot Carter ist übrigens meiner Meinung nach der wichtigste amerikanische Komponist heute. Er hat phantastische Stücke geschrieben, und in Chicago spielen wir jedes Jahr etwas von ihm. Was mir auch sehr wichtig ist: Ich glaube nicht an die Ghettos für Neue Musik. Ich finde, daß man neue Stücke in den Kontext gemischter Programme stellen sollte. Und ich glaube, daß aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein paar Stücke als Meisterwerke bleiben werden, darunter gewiß einige Stücke von Dutilleux, die "Notations" und anderes von Boulez, Lutoslawskis dritte Symphonie, einiges von Carter usw.
CS: Wie kritisch stehen Sie zur Kritik?
DB: Wolfgang Wagner hat mir einmal gesagt: "Ich kenne mich eigentlich wirklich recht gut mit den Werken meines Großvaters aus. Und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie die Kritiker das machen, wenn sie zur Première kommen und noch in der Nacht eine Kritik über die Inszenierung schreiben. Ich brauche doch auch Zeit, um mich damit zu beschäftigen." Ich denke, daß sich die Kritik auch deshalb so sehr auf die Regie konzentriert, weil man darüber leichter schreiben kann. Viele sehen besser als sie hören, ich meine das nicht ironisch. Es sind ja welche darunter, die nicht einmal Noten lesen können. Die Zeiten der großen Kritiker wie Schumann, Berlioz oder auch Debussy sind vorüber, und man schreibt so oft – eine Manie! – über die Geschwindigkeit als autonome Kategorie: der dirigiert schneller, der dirigiert langsamer, das ist zu langsam, das ist zu schnell usw. Man kann eben die Uhr besser lesen als die Partitur. Tempo ist kein unabhängiges Phänomen. Man kann aber sehr leicht über Tempo reden, denn man kann es mit der Stoppuhr messen. Was die Leute aber vergessen: Tempo hört man nicht! Man hört den Inhalt. Was machen Sie, wenn Sie in Urlaub fahren wollen und keinen Koffer besitzen? Kaufen Sie einfach irgendeinen Koffer und versuchen, die Sachen drin unterzubringen? Oder überlegen Sie zuerst, was alles reinmuß, und kaufen sich dann einen Koffer im entsprechenden Format? Ist der Koffer zu klein, so sind die Kleider nachher zerknittert. Ist er zu groß, so fliegen sie drin umher. Tempo ist nichts anderes als der Koffer. Ein triftiger Grund für diese heutige Manie sind die Metronomzahlen: Aber jeder Komponist – auch einer, der wirklich sehr rational ist wie Pierre Boulez – wird Ihnen sagen, daß die Musik im Kopf schneller ist, weil der Klang dort kein Gewicht hat. Im Kopf können Sie eine Brahms-Sinfonie in drei Minuten durchspielen. Von Boulez habe ich zuletzt sein jüngstes Orchesterstück, die Nummer 7 aus "Notations", gemacht. Er war in der Probe, und seine erste Tat war die Änderung der Metronomzahl von Viertel = 60 zu Achtel = 90.
CS: Können Sie das Ziel Ihrer Arbeit beschreiben?
DB: Man muß beim Musizieren vor allem die unterschiedlichsten Elemente zu einer organischen Einheit bringen. In dem Moment, wo sie teilen können und konstatieren: das ist Emotion, Intellekt, Artikulation usw. – in dem Moment ist es nicht mehr Musik, sondern nur eine Art – womöglich eine sehr anspruchsvolle –, mit Klängen umzugehen. Was hat Musik mit Religion gemeinsam? Es geht hier nicht darum, daß es Werke gibt, die von der Religion inspiriert sind wie die Matthäus-Passion. Was ist die Idee aller drei monotheistischen Religionen? Gott ist unteilbar, ist Eins. Das ist es somit auch, wohin wir alle streben müssen. Beim Musizieren ist es genau so – natürlich mit allen Mitteln des musikalischen Kontrasts: das Männliche und das Weibliche, das Rhythmische und das Melodische usw. Aus allen diesen Elementen muß eine organische, innere Einheit entstehen, die man sehr unzulänglich Logik nennen kann. Das ist primär harmonisch begründet. Wenn Sie die Vierte Beethoven machen, müssen Sie den ersten Takt, dieses Unisono-B, so spielen, daß Sie eine Idee von der Tonalität übertragen. Dergestalt, daß das ges im zweiten Takt als echte Entfremdung eintritt. Wenn Sie nun kein Gefühl dafür und keine Idee von der Harmonik haben, spielen Sie das durch und können allen Ernstes fragen: "Was soll da jetzt so interessant sein? Es könnte Ges-Dur sein oder es-moll." Dann nehmen Sie gleich eine ganze Dimension weg! Wenn in der Durchführung dann plötzlich dieses Fis-Dur kommt, das ist wie auf einem anderen Planeten, von B-Dur aus. Aber diese unglaubliche Spannung entsteht nur, wenn man zuvor diese Stammtonalität B-Dur so etabliert hat, daß der Zuhörer das begreift und sich da zuhause fühlt. Und dann führt man ihn von dort in ein ganz fremdes Land, und dafür muß man auch einen anderen Klang haben. Und wenn Sie für diese harmonischen Schwerpunkte an bestimmten Stellen ein bißchen mehr Zeit brauchen – oder auch anderswo weniger Zeit –, dann ist das mehr als nur legitim: Es muß sein! Da liegt der Unterschied zwischen einem natürlichen und einem willkürlichen Rubato. Rubato meine ich als organisches Element des musikalischen Ausdrucks, und das kann wirklich nur von der Harmonik bestimmt sein. Natürlich gibt es auch Musik, wo Rubato keinen Platz hat, z. B. im "Sacre".
CS: Welche Probleme treten für den Dirigenten bei Beethovens Orchestration auf?
DB: Man muß die Relativierung der Dynamik beherrschen. Man darf zum Beispiel nicht die volle Kraft zu früh weggeben. Und dann – wie alle Komponisten bis Mahler eigentlich – differenzierte er nicht die Dynamik in der Vertikale zwischen den unterschiedlich starken Instrumenten: Überall steht das gleich Crescendo, das gleiche Forte und Fortissimo, und die Schwergewichte – Blechbläser und Pauken – decken natürlich alles zu. Da muß man die strukturell notwendige Differenzierung überhaupt erst schaffen, denn sie steht nicht in der Partitur. Man muß eben auch das Handwerkliche im Griff haben. Bei Mahler ist dann diese Differenzierung mit höchster Bewußtheit durchgeführt, und danach bei Alban Berg.
Man kann eigentlich viel mehr über Musik erklären, als die Leute denken. Es funktioniert viel rationaler als die meisten ahnen. Man glaubt, vieles sei nur Intuition – stimmt nicht! Eins kann man nicht: den Grad an Intensität, den jeder persönlich in seiner Beziehung zur Musik hat, beeinflussen. Das Orchester so spielen zu lassen, wie ich will, ist kein Kunststück, wenn man professionell ist. Aber das Eigentliche beginnt dahinter: Das Musizieren fängt erst wirklich an, wenn der Dirigent in der Lage ist, in diesem Augenblick allen diesen Menschen, die da spielen, sozusagen eine gemeinsame Lunge zu geben, wo jeder die Musik gleich atmet, jeder in dem Moment musikalisch das Gleiche denkt und fühlt. Wenn das Konzert zu Ende ist, können die ruhig 120 verschiedene Meinungen über jeden Takt haben. Aber beim Musizieren muß es wie ein Organismus funktionieren, dann erst kann Musik entstehen. Das ist es, was bei Furtwängler und Celibidache so einmalig war.
Ich habe mich daran gewöhnt, daß man mit dem Verstehen und der Verwirklichung der harmonischen Kräfte ziemlich alleine ist. Negative Kritiken stören mich nicht. Es fehlt das einfach im Musizieren heutzutage. Aber es war immer die Ausnahme, und früher hat man es auch nicht verstanden. Wir sprechen so oft darüber, was sich im Musikleben verändert und wie es weitergehen soll, ob weiter so subventioniert werden soll oder nicht usw. Das eigentliche Problem ist der Mangel an musikalischer Erziehung. Alles, was Sie über Musik sagen oder schreiben können, ist ja nicht über die Musik selbst, sondern über Ihre Beziehung zur Musik. Musik spricht nur durch Klang, sie ist, mit Busoni, "klingende Luft".
CS: Klingende Luft, die sich mit meiner Affektwelt verbindet.
DB: Stimmt. Und nichts weiter als das. Das Erste, was in unserer Erziehung fehlt, ist die Beschäftigung mit dem Klang. Dieser Moment von Stille kurz vor dem Einsatz des ersten Tons, das ist etwas, was fundamental mißachtet wird. Der Klang hat die gleiche Tendenz zur Stille wie die Objekte zur Schwerkraft. Davon, das verstanden zu haben, ist alles abhängig, und wenn man das weiterentwickelt, kommt man zu den harmonischen Kräften, die den Klang in Bewegung halten. Diese Art von Erziehung, die Phänomenologie des Klanges, fehlt im Musikleben. Ich habe mit einem Jugendorchester in Chicago ein Projekt über diese Sache gemacht, das auf Video dokumentiert ist und auf meiner Website abgerufen werden kann (www.daniel-barenboim.com).
CS: Gibt es einen Grund dafür, daß Sie Beethovens Sinfonien erst jetzt erstmals aufnahmen?
DB: Ich hatte zuvor nie die richtige Konstellation gehabt, das richtige Orchester zum richtigen Zeitpunkt. Hier hatte ich die Möglichkeit, diese Sinfonien mit diesen Musikern über fast zehn Jahre hinweg nahezu allein zu erarbeiten. Es ist bei der Staatskapelle nicht wie bei einem Sinfonieorchester, das jede zweite Woche unter einem anderen Dirigenten spielt. Wir haben dann Beethoven-Zyklen in London, Tokio und anderswo gemacht. Die Kapelle hat einen ganz besonderen Beethoven-Klang, der mir für diese Stücke wie geschaffen scheint. Und in diesen Musikern ist, abgesehen von der hervorragenden musikalischen und technischen Qualität, so eine Einstellung wirksam: Ehrfurcht vor der großen Kunst. Das mag furchtbar altmodisch klingen, ist es aber nicht. Wir befinden uns da vor einer Beethoven-Sinfonie wie im Angesicht eines Schlüsselmoments unserer Kultur, wenn wir das spielen. Das ist eine wunderbare Erfahrung. Und dabei haben die eine Bescheidenheit, die keineswegs überall selbstverständlich ist. Das hat natürlich etwas mit dem Osten zu tun. Oder besser, mit dem Totalitarismus, der bei aller Repression manchmal einen Raum für die Kultur schafft, den es auf dem freien Markt der offenen Gesellschaft so nicht gibt. Das alles habe ich vom ersten Moment an hier gespürt, und ich habe durch alle diese Jahre versucht, es zu pflegen. Es ging und geht um diese Einstellung zur Musik.
CS: Es geht also auch weiter darum, die Unverwechselbarkeit dieses Orchesters zu erhalten?
DB: Sicher. Sonst klingen die Orchester ja irgendwann alle gleich. Abgesehen davon meine ich, daß ein Orchester von erstem Rang, je nachdem, was für Musik auf den Pulten liegt, total anders spielen und klingen soll. Das ist noch etwas ganz Anderes als deutscher oder französischer Klang. Es muß den spezifischen Erfordernissen der Musik entsprechen können. Nicht viel halte ich aber von Orchestern, wo man sich einer falsch verstandenen Flexibilität rühmt: "Wir können Beethoven so spielen oder so spielen, ganz verschieden." Dann weiß man wohl nicht, was man tut. Wir wollen etwas anderes. Als ich hier bei der Staatskapelle gespürt habe, wie das alles zusammengewachsen ist, habe ich gesagt: Jetzt machen wir Fidelio und die Sinfonien. Und ich bin sehr froh, daß ich damit so lange gewartet habe.

Interview: Christoph Schlüren (2000)

(Interview für Klassik Heute)