Daniel Barenboim, der am 19. August
sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum feierte,
gehört zu den wenigen Musikern unserer Tage, die sowohl als
Instrumentalist als auch als Dirigent ganz oben stehen. Seit 1991
ist er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, seit 1992 Generalmusikdirektor
der Deutschen Staatsoper Berlin. Der seit Mitte der fünfziger
Jahre weltweit anhaltende Erfolg hat ihn nie dazu gebracht, sich
auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Barenboim ist eine Entdeckernatur
geblieben. Er beschäftigt sich ebenso intensiv mit den Klassikern
der avancierten neuen Musik wie mit Stilen, die von vielen Kollegen
als Unterhaltungsmusik abgetan werden, wovon seine in letzter Zeit
erschienenen Alben mit Jazz (symphonische Arrangements von Duke
Ellington-Titeln), Tangos (zur Musik seiner argentinischen Heimat
hat er verständlicherweise ein besonders entspannt-inniges
Verhältnis), afroamerikanischem Spektakel (Hannibal Lokumbe)
und jüngst teils pop-naher brasilianischer Kammermusik zeugen.
Neben dem Dirigenten Barenboim ist der Pianist zusehends etwas in
den Hintergrund getreten, was man angesichts seiner exquisiten Zyklen
beispielsweise der kompletten Sonaten und Konzerte von Beethoven
und Mozart zu Recht bedauern kann. Daß er aber als Dirigent
keine geringere Kapazität ist, beweist seine im Mai erschienene
erste Plattenaufnahme der Beethoven-Symphonien. Hier zeigt er sich
von seiner beeindruckendsten Seite und setzt musikalische Signale
gegen den pseudo-authentischen Zeitgeist einer immer kurzsichtiger
rezipierten stylistical correctness, die die organische Gestalt,
die weittragende Innenspannung der klassisch-romantischen Formen
durch rhetorisch beflissene Zergliederung und triviale Ideologisierung
(beispielsweise via terroristischer Metronomgläubigkeit) dem
Bewußtsein der Hörer entfremdet eine wahrhaft
sinnvolle Tat, gestützt durch ein hinreißend aufspielendes
Orchester, die in ihrer scheinbaren Unzeitgemäßheit gerade
zur rechten Zeit via CD und DVD einer weltweiten Hörerschaft
zugänglich gemacht wird.
CS: Sie haben Wilhelm Furtwängler noch kurz vor seinem Tod
als Zwölfjähriger kennengelernt.
DB: Da war nicht mehr viel Zeit. Im August 1954 spielte ich ihm
vor, im November starb er. Mit ihm musiziert habe ich nie. Ich hörte
ein Konzert mit den Proben dazu, und ich war bei fast allen Proben
zu 'Don Giovanni' in Salzburg. Ich war natürlich zu jung, um
seine einmalige Ausstrahlung richtig wahrnehmen zu können.
Es hat aber doch in mir so ein Echo hinterlassen, daß ich
mich danach intensiv mit seinem Vermächtnis beschäftigte,
seine Platten hörte und seine Schriften las. Seine ganze Musikphilosophie
hat mich so interessiert. Furtwängler war eine absolute Sondererscheinung,
er war nicht ein typischer Vertreter einer bestimmten Art des Musizierens,
sondern wirklich sui generis. Was man wie bei Artur Schnabel
auch an der extrem widersprüchlichen Rezeption merken
kann. Die Leute, die seine Flexibilität mit dem Tempo störte,
taten Furtwängler als Romantiker ab. Und diejenigen, die von
Mengelberg und anderen an ein manchmal willkürliches Rubato
gewöhnt waren, kritisierten Furtwängler als zu rational
es war ja auch rationales Entscheiden beteiligt, wie frei
der Umgang mit dem Tempo zu geschehen habe, und das erschien vielen
schon als zu intellektuell, zu wenig aus dem Bauch raus. Man kann
also nicht sagen, daß er ein Repräsentant der deutschen
Schule war oder eine zeittypische Erscheinung.
CS: Könnte so etwas überhaupt auf einen ganz großen
Künstler zutreffen?
DB: Ich glaube schon. Es hat nichts mit Wertschätzung zu tun,
ist nur eine Beschreibung. Aber man kann feststellen, daß
Erich Kleiber, Klemperer, Weingartner damals für eine gewisse
Linie des Musizierens standen. Ein Problem mit dem Musizieren heutzutage
ist, daß bei den meisten Musikern geschweige den Kritikern
kein Interesse am interpretatorisch Überlieferten besteht.
Man meint, man müsse ständig etwas Neues exponieren, was
möglichst nichts mit dem gemein hat, was da war. Das ist sehr
schade.
CS: Auch die historisierende Aufführungspraxis tendiert da
zum Selbstzweck, und irgendwie hat die Idee vom musikalischen Fortschritt
in der Komposition mangels Erfolgsaussicht stattdessen vom Feld
der Interpretation Besitz ergriffen.
DB: Wenn Sie diese historisierende Praxis rein philosophisch betrachten
und ich weiß genau, daß unter denen, die sich
damit beschäftigen, viele große Künstler sind ,
dann überlegen Sie mal: Was ist mit Bach passiert im 19. Jahrhundert?
Liszt hat die Orgelstücke bearbeitet, Busoni folgte ihm nach;
Mendelssohn dirigierte die Matthäus-Passion. Später hat
man dann gesagt: Das war nicht richtig, eine Adaption auf das 19.
Jahrhundert. Das Äquivalent dazu wäre, wenn man jetzt
eine Art fände, es in einer Haltung zu spielen, die der Musik
von Boulez oder Messiaen verwandt wäre. Das wäre progressiv!
Tatsächlich aber ist es zum ersten Mal in der Geschichte so,
daß wir, was die Musik betrifft, nur zurück schauen.
Und natürlich gibt es trotzdem gleich wieder etliche Probleme:
Man müßte dann auch Säle haben, wo es so klingt
wie einst. Um die Eroica mit sechs ersten Geigen zu spielen wie
bei der Uraufführung, muß man so ein Zimmer haben wie
im Palais Lobkowitz. In der Philharmonie ist das sinnlos. Was mich
stört: Blick zurück ist keine progressive Angelegenheit.
Aber man sieht das heute recht allgemein als eine progressive Bewegung
an. Es ist ja eine verständliche Reaktion auf die schleichende
"Wagnerisierung" und auf die leere Routine. Nach dem Zweiten
Weltkrieg stellte sich das soziologische Problem ein, daß
plötzlich viel mehr Konzerte als früher stattfanden. Es
wurde alles besser durchorganisiert, Musiker hatten erstmals weltweit
Verträge übers ganze Jahr, und die Spielzeit verlängerte
sich. Früher ging die Spielzeit eigentlich im Mai zu Ende.
Dann kamen die großen Festspiele, sonst nichts, und im Oktober
ging es wieder los. Jetzt war es mit einem Mal durchgehend, und
mit immer mehr Konzerten, aber das Repertoire ist nicht entsprechend
mitgewachsen. Wieviele Stücke des 20. Jahrhunderts können
wir als organischen Bestandteil des Repertoires nennen? Relativ
wenige. Natürlich gibt es 'La mer', 'Sacre du printemps' usw.
Aber im Großen und Ganzen hat man mehr und mehr immer die
gleichen Stücke gespielt, in immer mehr Konzerten von immer
mehr Dirigenten ein immenser quantitativer Zuwachs. Quantitativ
mehr bedeutet qualitativ weniger. Wenn Sie für vier Personen
kochen, kochen Sie anders als für viertausend. Und da kam es
zu einem Punkt (ungefähr in den sechziger Jahren), wo es allzu
oft zwar sehr korrekt musiziert war, aber langweilig, in Standard-Manier.
Wobei man hierüber leicht vergißt, daß es immer
auch große Persönlichkeiten gab, die über dem Routinebetrieb
standen. Als Reaktion dagegen kam die authentische Bewegung. Aber
was haben die dann gemacht? Es basierte das meiste auf einer gewissen
Korrektheit von mehr oder weniger gehaltenem Klang, und da ist man
dagegen gegangen. Also war plötzlich alles Artikulation, die
langen Töne nicht mehr gehalten, Vibrato weg usw. Von der musikalischen
Philosophie her war das jetzt eine Rebellion gegen den Wagnerismus.
CS: Die so spät kam, daß man davon nicht sprechen kann
nach der "Neuen Sachlichkeit"
DB: Doch. Die Art, wie zu jener Zeit gewöhnlich gespielt wurde,
kann man als Wagnerismus bezeichnen. Jedenfalls legte man nun das
Hauptaugenmerk auf Artikulation, Rhythmus und Tempo als wichtigste
Kategorien. Abgesehen davon, daß man vom Tempo nicht als unabhängigem
Phänomen sprechen kann Celibidache hat das immer klar
ausgesprochen , hat man seither das Hauptelement der Musik,
freundlich ausgedrückt, vernachlässigt: die Harmonie.
Es ist die Harmonie, die bei Furtwängler bestimmt, ob das Tempo
ein bißchen mehr Zeit braucht oder nicht, ob es nach vorne
oder zurück gerichtet ist. Wenn man die Musik ohne den harmonischen
Bezug hört, gibt es keinen funktionierenden Zusammenhang.
CS: Zweifellos: daß ein Dirigent modulieren kann, ist heute
die Ausnahme.
DB: Natürlich. Dabei ist die Harmonie immer von den drei Elementen,
die die tonale Musik tragen Melodie, Harmonie, Rhythmus ,
das stärkste, von Natur aus, die anderen Elemente gliedern
sich ihr ein. Sie ist sozusagen der große Lastwagen. Die Harmonie
"erst mal beiseite lassen" ist totaler Unsinn. Wie können
Sie die Basis weglassen, wenn Sie beginnen? Können Sie sich
von der Schwerkraft emanzipieren? Die Harmonie ist der Träger
des Zusammenhangs, und wenn es eine Lektion sowohl von Furtwängler
als auch von Celibidache gibt, dann ist es diese. Spielt man aber
heute so, so wird einem vorgeworfen, man sei "altmodisch",
als ob man mit der Musik einfach anders umgehen könnte ohne
entscheidende Verluste. Die Musik ist lebendig, nicht weil man sie
dreht und wendet und immer anders macht, sondern weil sie sich entwickelt.
Warum sind die Hundertmeterläufer heute schneller als vor zwanzig
Jahren? Weil die Milch besser ist? Es ist eine akkumulative Entwicklung
von Generation zu Generation. Aber die Voraussetzung dafür
ist eine organische Entwicklung und das Auffinden immer neuer Aspekte
darin, damit es sich weiterentwickelt. Begriffe wie "altmodisch",
"neu" oder "modern" sind sehr ungefähr.
Sie besagen nichts Präzises. Das Wichtigste, um nicht "altmodisch"
zu werden, ist, dauernd zu versuchen, die großen Persönlichkeiten
zu verstehen. Nicht nachmachen, sondern begreifen, warum sie etwas
in einer bestimmten Weise gemacht haben, sei es in der Phrasierung
oder im Tempo. Wer das wirklich durchdringt und versteht, kann seine
eigene Lösung finden, die aber einen Bezug zum Überlieferten
aufweist. Mechanische Nachahmung führt nur bestenfalls zur
äußerlichen Kopie. Aber wenn ich mich frage: Warum hat
Furtwängler dieses Seitenthema ein bißchen breiter genommen?
Warum hat er an diesem Übergang ein bestimmtes Diminuendo oder
eine Verlangsamung gemacht? Warum hat er am Ende des Kopfsatzes
der Vierten Brahms das Tempo angezogen? Und wenn ich eine Begründung
aus meinem Verständnis finde für das, was er getan hat,
habe ich etwas gelernt, was nicht heißt, daß ich es
von ihm übernehmen muß. Ich habe immer zu Celibidache
gesagt, daß ich sein bester Schüler bin, weil ich nicht
mit ihm studiert habe. Diese großen Persönlichkeiten
sind auch letztlich nicht nachahmbar, denn sie sind äußerst
komplex. Wären sie so einfach und durchsichtig, so wären
sie eben keine großen Persönlichkeiten. Die großen
Künstler entwickeln sich immer weiter. Pierre Boulez dirigiert
jetzt Bruckner-Sinfonien. Als ich Chef in Paris war, hörte
er mich mit der Achten Bruckner, und dann hat er zu mir gesagt:
"Verstehe ich nicht, was Sie da alles in dieser Musik finden.
Der Rhythmus im langsamen Satz, zwei gegen drei, das ist eigentlich
sehr interessant; aber das ist viel besser schon bei Tristan im
zweiten Akt dagewesen." Und jetzt? Für seine Karriere
braucht er das nicht. Ich finde es toll, daß sich ein so großer
Mann wie Pierre Boulez dafür interessiert. Ich fand es auch
toll, als Karajan mit über sechzig Jahren anfing, sich mit
Gustav Mahler zu beschäftigen. Heute steckt man einen Künstler
gern in eine bestimmte Schublade ohne "Genehmigung"
des Künstlers natürlich und will ihn partout so
sehen. Und wenn er dann etwas tut, was zu diesem Schubladendenken
nicht paßt, sind die Leute völlig irritiert.
Ich habe das an meiner eigenen Haut zu spüren
bekommen. Ich habe in Berlin in den letzten zehn Jahren sehr viel
Bruckner dirigiert, weil ich die Sinfonien auch einspielen wollte;
gleichzeitig habe ich in Chicago ich weiß nicht wieviel zeitgenössische
Musik gemacht. In Berlin gelte ich als zu konservativ, und wenn
ich dann Opernuraufführungen von Carter oder Birtwistle dirigiere,
verstehen die Kritiker nicht, was das mit mir zu tun hat. Und in
Chicago wirft man mir vor, daß ich zu viel zeitgenössische
Musik mache. Aus diesen Widersprüchen folgere ich, daß
ich das Richtige tue. Elliot Carter ist übrigens meiner Meinung
nach der wichtigste amerikanische Komponist heute. Er hat phantastische
Stücke geschrieben, und in Chicago spielen wir jedes Jahr etwas
von ihm. Was mir auch sehr wichtig ist: Ich glaube nicht an die
Ghettos für Neue Musik. Ich finde, daß man neue Stücke
in den Kontext gemischter Programme stellen sollte. Und ich glaube,
daß aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein paar
Stücke als Meisterwerke bleiben werden, darunter gewiß
einige Stücke von Dutilleux, die "Notations" und
anderes von Boulez, Lutoslawskis dritte Symphonie, einiges von Carter
usw.
CS: Wie kritisch stehen Sie zur Kritik?
DB: Wolfgang Wagner hat mir einmal gesagt: "Ich kenne mich
eigentlich wirklich recht gut mit den Werken meines Großvaters
aus. Und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie die Kritiker
das machen, wenn sie zur Première kommen und noch in der
Nacht eine Kritik über die Inszenierung schreiben. Ich brauche
doch auch Zeit, um mich damit zu beschäftigen." Ich denke,
daß sich die Kritik auch deshalb so sehr auf die Regie konzentriert,
weil man darüber leichter schreiben kann. Viele sehen besser
als sie hören, ich meine das nicht ironisch. Es sind ja welche
darunter, die nicht einmal Noten lesen können. Die Zeiten der
großen Kritiker wie Schumann, Berlioz oder auch Debussy sind
vorüber, und man schreibt so oft eine Manie!
über die Geschwindigkeit als autonome Kategorie: der dirigiert
schneller, der dirigiert langsamer, das ist zu langsam, das ist
zu schnell usw. Man kann eben die Uhr besser lesen als die Partitur.
Tempo ist kein unabhängiges Phänomen. Man kann aber sehr
leicht über Tempo reden, denn man kann es mit der Stoppuhr
messen. Was die Leute aber vergessen: Tempo hört man nicht!
Man hört den Inhalt. Was machen Sie, wenn Sie in Urlaub fahren
wollen und keinen Koffer besitzen? Kaufen Sie einfach irgendeinen
Koffer und versuchen, die Sachen drin unterzubringen? Oder überlegen
Sie zuerst, was alles reinmuß, und kaufen sich dann einen
Koffer im entsprechenden Format? Ist der Koffer zu klein, so sind
die Kleider nachher zerknittert. Ist er zu groß, so fliegen
sie drin umher. Tempo ist nichts anderes als der Koffer. Ein triftiger
Grund für diese heutige Manie sind die Metronomzahlen: Aber
jeder Komponist auch einer, der wirklich sehr rational ist
wie Pierre Boulez wird Ihnen sagen, daß die Musik im
Kopf schneller ist, weil der Klang dort kein Gewicht hat. Im Kopf
können Sie eine Brahms-Sinfonie in drei Minuten durchspielen.
Von Boulez habe ich zuletzt sein jüngstes Orchesterstück,
die Nummer 7 aus "Notations", gemacht. Er war in der Probe,
und seine erste Tat war die Änderung der Metronomzahl von Viertel
= 60 zu Achtel = 90.
CS: Können Sie das Ziel Ihrer Arbeit beschreiben?
DB: Man muß beim Musizieren vor allem die unterschiedlichsten
Elemente zu einer organischen Einheit bringen. In dem Moment, wo
sie teilen können und konstatieren: das ist Emotion, Intellekt,
Artikulation usw. in dem Moment ist es nicht mehr Musik,
sondern nur eine Art womöglich eine sehr anspruchsvolle
, mit Klängen umzugehen. Was hat Musik mit Religion gemeinsam?
Es geht hier nicht darum, daß es Werke gibt, die von der Religion
inspiriert sind wie die Matthäus-Passion. Was ist die Idee
aller drei monotheistischen Religionen? Gott ist unteilbar, ist
Eins. Das ist es somit auch, wohin wir alle streben müssen.
Beim Musizieren ist es genau so natürlich mit allen
Mitteln des musikalischen Kontrasts: das Männliche und das
Weibliche, das Rhythmische und das Melodische usw. Aus allen diesen
Elementen muß eine organische, innere Einheit entstehen, die
man sehr unzulänglich Logik nennen kann. Das ist primär
harmonisch begründet. Wenn Sie die Vierte Beethoven machen,
müssen Sie den ersten Takt, dieses Unisono-B, so spielen, daß
Sie eine Idee von der Tonalität übertragen. Dergestalt,
daß das ges im zweiten Takt als echte Entfremdung eintritt.
Wenn Sie nun kein Gefühl dafür und keine Idee von der
Harmonik haben, spielen Sie das durch und können allen Ernstes
fragen: "Was soll da jetzt so interessant sein? Es könnte
Ges-Dur sein oder es-moll." Dann nehmen Sie gleich eine ganze
Dimension weg! Wenn in der Durchführung dann plötzlich
dieses Fis-Dur kommt, das ist wie auf einem anderen Planeten, von
B-Dur aus. Aber diese unglaubliche Spannung entsteht nur, wenn man
zuvor diese Stammtonalität B-Dur so etabliert hat, daß
der Zuhörer das begreift und sich da zuhause fühlt. Und
dann führt man ihn von dort in ein ganz fremdes Land, und dafür
muß man auch einen anderen Klang haben. Und wenn Sie für
diese harmonischen Schwerpunkte an bestimmten Stellen ein bißchen
mehr Zeit brauchen oder auch anderswo weniger Zeit ,
dann ist das mehr als nur legitim: Es muß sein! Da liegt der
Unterschied zwischen einem natürlichen und einem willkürlichen
Rubato. Rubato meine ich als organisches Element des musikalischen
Ausdrucks, und das kann wirklich nur von der Harmonik bestimmt sein.
Natürlich gibt es auch Musik, wo Rubato keinen Platz hat, z.
B. im "Sacre".
CS: Welche Probleme treten für den Dirigenten bei Beethovens
Orchestration auf?
DB: Man muß die Relativierung der Dynamik beherrschen. Man
darf zum Beispiel nicht die volle Kraft zu früh weggeben. Und
dann wie alle Komponisten bis Mahler eigentlich differenzierte
er nicht die Dynamik in der Vertikale zwischen den unterschiedlich
starken Instrumenten: Überall steht das gleich Crescendo, das
gleiche Forte und Fortissimo, und die Schwergewichte Blechbläser
und Pauken decken natürlich alles zu. Da muß man
die strukturell notwendige Differenzierung überhaupt erst schaffen,
denn sie steht nicht in der Partitur. Man muß eben auch das
Handwerkliche im Griff haben. Bei Mahler ist dann diese Differenzierung
mit höchster Bewußtheit durchgeführt, und danach
bei Alban Berg.
Man kann eigentlich viel mehr über Musik erklären, als
die Leute denken. Es funktioniert viel rationaler als die meisten
ahnen. Man glaubt, vieles sei nur Intuition stimmt nicht!
Eins kann man nicht: den Grad an Intensität, den jeder persönlich
in seiner Beziehung zur Musik hat, beeinflussen. Das Orchester so
spielen zu lassen, wie ich will, ist kein Kunststück, wenn
man professionell ist. Aber das Eigentliche beginnt dahinter: Das
Musizieren fängt erst wirklich an, wenn der Dirigent in der
Lage ist, in diesem Augenblick allen diesen Menschen, die da spielen,
sozusagen eine gemeinsame Lunge zu geben, wo jeder die Musik gleich
atmet, jeder in dem Moment musikalisch das Gleiche denkt und fühlt.
Wenn das Konzert zu Ende ist, können die ruhig 120 verschiedene
Meinungen über jeden Takt haben. Aber beim Musizieren muß
es wie ein Organismus funktionieren, dann erst kann Musik entstehen.
Das ist es, was bei Furtwängler und Celibidache so einmalig
war.
Ich habe mich daran gewöhnt, daß man mit dem Verstehen
und der Verwirklichung der harmonischen Kräfte ziemlich alleine
ist. Negative Kritiken stören mich nicht. Es fehlt das einfach
im Musizieren heutzutage. Aber es war immer die Ausnahme, und früher
hat man es auch nicht verstanden. Wir sprechen so oft darüber,
was sich im Musikleben verändert und wie es weitergehen soll,
ob weiter so subventioniert werden soll oder nicht usw. Das eigentliche
Problem ist der Mangel an musikalischer Erziehung. Alles, was Sie
über Musik sagen oder schreiben können, ist ja nicht über
die Musik selbst, sondern über Ihre Beziehung zur Musik. Musik
spricht nur durch Klang, sie ist, mit Busoni, "klingende Luft".
CS: Klingende Luft, die sich mit meiner Affektwelt verbindet.
DB: Stimmt. Und nichts weiter als das. Das Erste, was in unserer
Erziehung fehlt, ist die Beschäftigung mit dem Klang. Dieser
Moment von Stille kurz vor dem Einsatz des ersten Tons, das ist
etwas, was fundamental mißachtet wird. Der Klang hat die gleiche
Tendenz zur Stille wie die Objekte zur Schwerkraft. Davon, das verstanden
zu haben, ist alles abhängig, und wenn man das weiterentwickelt,
kommt man zu den harmonischen Kräften, die den Klang in Bewegung
halten. Diese Art von Erziehung, die Phänomenologie des Klanges,
fehlt im Musikleben. Ich habe mit einem Jugendorchester in Chicago
ein Projekt über diese Sache gemacht, das auf Video dokumentiert
ist und auf meiner Website abgerufen werden kann (www.daniel-barenboim.com).
CS: Gibt es einen Grund dafür, daß Sie Beethovens Sinfonien
erst jetzt erstmals aufnahmen?
DB: Ich hatte zuvor nie die richtige Konstellation gehabt, das richtige
Orchester zum richtigen Zeitpunkt. Hier hatte ich die Möglichkeit,
diese Sinfonien mit diesen Musikern über fast zehn Jahre hinweg
nahezu allein zu erarbeiten. Es ist bei der Staatskapelle nicht
wie bei einem Sinfonieorchester, das jede zweite Woche unter einem
anderen Dirigenten spielt. Wir haben dann Beethoven-Zyklen in London,
Tokio und anderswo gemacht. Die Kapelle hat einen ganz besonderen
Beethoven-Klang, der mir für diese Stücke wie geschaffen
scheint. Und in diesen Musikern ist, abgesehen von der hervorragenden
musikalischen und technischen Qualität, so eine Einstellung
wirksam: Ehrfurcht vor der großen Kunst. Das mag furchtbar
altmodisch klingen, ist es aber nicht. Wir befinden uns da vor einer
Beethoven-Sinfonie wie im Angesicht eines Schlüsselmoments
unserer Kultur, wenn wir das spielen. Das ist eine wunderbare Erfahrung.
Und dabei haben die eine Bescheidenheit, die keineswegs überall
selbstverständlich ist. Das hat natürlich etwas mit dem
Osten zu tun. Oder besser, mit dem Totalitarismus, der bei aller
Repression manchmal einen Raum für die Kultur schafft, den
es auf dem freien Markt der offenen Gesellschaft so nicht gibt.
Das alles habe ich vom ersten Moment an hier gespürt, und ich
habe durch alle diese Jahre versucht, es zu pflegen. Es ging und
geht um diese Einstellung zur Musik.
CS: Es geht also auch weiter darum, die Unverwechselbarkeit dieses
Orchesters zu erhalten?
DB: Sicher. Sonst klingen die Orchester ja irgendwann alle gleich.
Abgesehen davon meine ich, daß ein Orchester von erstem Rang,
je nachdem, was für Musik auf den Pulten liegt, total anders
spielen und klingen soll. Das ist noch etwas ganz Anderes als deutscher
oder französischer Klang. Es muß den spezifischen Erfordernissen
der Musik entsprechen können. Nicht viel halte ich aber von
Orchestern, wo man sich einer falsch verstandenen Flexibilität
rühmt: "Wir können Beethoven so spielen oder so spielen,
ganz verschieden." Dann weiß man wohl nicht, was man
tut. Wir wollen etwas anderes. Als ich hier bei der Staatskapelle
gespürt habe, wie das alles zusammengewachsen ist, habe ich
gesagt: Jetzt machen wir Fidelio und die Sinfonien. Und ich bin
sehr froh, daß ich damit so lange gewartet habe.
Interview: Christoph Schlüren (2000)
(Interview für Klassik Heute)
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