Sehr erfolgreich hat sich der neue künstlerische Leiter der musica viva-Reihe
des Bayerischen Rundfunks, der Dresdner Komponist und Leipziger
Opernintendant Udo Zimmermann, in sein Münchner Amt eingeführt.
Vor allem der erste Auftritt Karlheinz Stockhausens am Pult des
BR-Symphonieorchesters mit den Inori-Anbetungen vor ausverkauftem
Haus brachte der musica viva einen regelrechten Boom, wie das schon
lange nicht mehr der Fall war.
Welches Hauptanliegen ist mit Ihrer Verpflichtung verbunden?
Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Herr Professor Scharf,
hat zu mir gesagt: 'Mir liegt daran, daß die musica viva wieder
die erste und wichtigste Reihe mit Neuer Musik in Europa wird.'
Dem schließe ich mich an.
Sie haben von der 'breiten Vielfalt' Meyer-Jostens gesprochen, der
Sie nun eine entschiedenere Programmatik folgen lassen wollen. Was
wollen Sie nicht?
Ich will nichts Zusammengewürfeltes, Buntscheckiges. Ich will
sinnvolle Bezüge, kluge Dramaturgie. Es soll abwechslungsreich
sein, aber möglichst innerhalb des Wesentlichen. Im Vorfeld
harren heute stets schwierige Fragen: Was ist neu? Was hat Gültigkeit,
was hat Substanz in dieser Situation einer neuen Unübersichtlichkeit?
In einer Situation, wo die alten Dogmen, die Zugehörigkeit
zu Schulen seis Darmstadt, seis Postmoderne usw.
ihren Sinn weitgehend verloren haben. Wir sind auf der Suche
nach neuen Richtwerten, und ich denke, wir haben da jetzt eine tabula
rasa. Alles ist wieder offen.
Umso unentscheidbarer für die Programmacher. Was hat denn dann
nichts mehr zu suchen in der musica viva?
Den kategorischen Ausschluß will ich vermeiden. Da kann es
höchstens das Kriterium handwerklicher Zulänglichkeit
geben. Die Bastelversuche von Amateuren wollen wir natürlich
nicht diesem Forum anheimgeben. Aber beispielsweise kann es nicht
darum gehen, die Münchner Szene über Gebühr zu betonen.
Das Lokale gehört dazu, aber die musica viva ist nun mal
keine lokale Reihe. Hier soll ganz Europa vertreten sein, und ganz
Europa soll nach München schauen. Und so ist das Programm dieser
ersten Saison ausgerichtet. Außer Karl Amadeus Hartmann ist
diesmal kein Münchner drin. Das wird nicht so bleiben, und
von Killmayer kommt bald etwas. Aber in München besteht ein
Bedarf, bestimmte Informationen nachzuholen. Manches muß einfach
endlich mal hier präsentiert werden. Wie wichtig das
ist und welchen begeisterten Zuspruch es erfährt, haben wir
ja soeben bei Stockhausen erlebt. Generell muß ich feststellen,
daß wir eine extreme Vielfalt haben von Stockhausen
bis Eisler! Und das ist ja nur ein erster Ansatz.
Wo liegt für Sie der programmatische Unterschied zwischen einem
Festival und einem ganzjährigen Ablauf wie hier?
Wir müssen uns auf bestimmte Werk-Achsen einlassen und auf
unterschiedliche ästhetische Positionen. Im Grunde hat die
Zeit meine Generation längst überrundet, und die Frage
ist: Wo sind die Orte, wo der Mut der jungen Generation angefacht
wird? Da würde ich unsere Reihe mit ihrer Kontinuität
an vorderster Stelle sehen als Ort des Experiments für die
neue europäische Generation. Wir haben viel Zeit zwischen den
Konzerten, können die einzelnen Ereignisse ganz anders vor-
und nachbereiten. Und es geht nicht nur ums Konzert: wir wollen
über die Medien, über den Sender die Komponisten ins Gespräch
bringen. Und wir können großzügig planen: Da könnte
man einem Komponisten einen Auftrag geben und gegebenenfalls daran
denken, wie das mit ihm fortzusetzen sei vielleicht könnte
ein zweiter, ein dritter Auftrag folgen. Normalerweise wird ein
Werk uraufgeführt, die Presse schreibt schlecht oder gut, und
es hat sich erledigt. Fast niemand verfolgt die Entwicklung. Dem
können wir vorgreifen mit unserer Reihe. Wir werden künftig
auch wesentlich mehr Begleitveranstaltungen machen. Das war nur
im ersten Jahr nicht mehr möglich
Von großer Bedeutung
sind die neuen Spielstätten, die neues Publikum bringen. Und
die Formen, die zwischen den gängigen Kategorien liegen, werden
immer attraktiver. Der Jazz soll sich, auf ganz andere Weise als
sonst, bei uns definieren. Die Musikhochschule sollte aktiv einbezogen
sein. Leider nur regiert an allen deutschen Musikhochschulen diese
müde, desinteressierte Haltung. Die Studenten sind schwer motivierbar.
Herr Zimmermann, als schöpferisch
tätiger Mensch haben Sie sicher klare ästhetische Prämissen.
Mit welcher Musik haben Sies schwerer? Was liegt Ihnen mehr?
Wichtig ist, daß einer das, woran er wirklich glaubt, auch
macht. Vorbehaltlos. Das ist jedoch relativ, denn auch die größten
Künstler mußten mit Kompromissen leben. Jeder korrespondiert
irgendwie mit seiner Umwelt, und diese Korrespondenzen dringen in
die Sprachphänomene ein. Das ist ein Drahtseilakt. Und fast
überall ist zu viel Kunstgewerbliches drin.
Aber bei mir selbst schwingt schon ein konservatives Element mit
im restitutiven Sinne. Mich interessiert und da ist
eine gewisse tonartliche Bezogenheit hilfreich das Ereignishafte,
die Erlebnisdichte, Proportion und Form, der Atemvorgang: Das alles
interessiert mich weit mehr als alle Morphologie. Da bin ich viel
zu sehr Dramaturg. Man hat ja auch meinen Opern oft nachgesagt,
daß das vortreffliche Dramaturgenarbeit sei. Substantielles,
Erlebnisgehalt: Darauf kommt es mir an. Mit Begriffen wie Ehrlichkeit
oder Wahrhaftigkeit hingegen kann ich nichts anfangen. Das können
Sie ästhetisch überhaupt nicht belegen. Stattdessen frage
ich mich: Wer schwimmt gegen den Strom?
Wie weit können Sie als individueller Entdecker tätig
sein?
Das ist das Schwierigste überhaupt in einer Zeit, die an derartigen
Wertverlusten leidet, wo der Besitzstand entscheidet und nicht Ihr
Sein. Wo sind die Physiognomien? Was ist Eigenes und was nicht?
Ich lege wert auf den persönlichen Formwillen, auf das eigene
syntaktische Moment, aber auch auf morphologische Eigentümlichkeiten.
So vieles ist lediglich Makulatur. Wo ist das Elementare, das Totale?
Wo sind diese Dimensionen wie bei einem Mahler, an denen Sie einfach
nicht vorbei können? Ich vermisse die Unmittelbarkeit. Wir
alle sind Gefangene dieser komplizierten Situation.
Es ist gut, wenn derjenige, der entscheidet, weiß, was es
heißt, schöpferisch tätig zu sein. Aber es ist natürlich
auch delikat: der Komponist als Auswählender unter Komponisten.
Ich weiß, wie weit man über seinen eigenen Schatten springen
muß. Ich denke, ich habe mir dieses Ethos immer bewahrt: Die
Brille des Komponisten muß man da ablegen. In vielen der präsentierten
Stücke ist meine Liebe nicht drin. Könnte ich von diesen
Vorlieben nicht absehen, so dürfte ich diesen Job niemals machen.
Ich muß mich aber fragen: Was hat das Jahrhundert gebracht?
Wo sind die wichtigen Schnittpunkte? Wo liegt ein Stück Zukunft
im nächsten Jahrtausend? Darüber macht sich niemand Gedanken
zur Zeit. Doch diese Frage wird immer brennender.
Interview: Christoph Schlüren (1997)
(Interview für Neue MusikZeitung, 1998)
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