Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen,
meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die
stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang
gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch
viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz
Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind,
deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern
eine eigene Kategorie begründet. Als Hollands eminentester
Sinfoniker und eigentümlichster Tonschöpfer des 20. Jahrhunderts
wollte er die Polyphonie der alten Niederländer mit kühnen
neuen Klängen vermählen
Matthijs Vermeulen (1888-1967)
Meister der neuen Polyphonie:
(Anspieltip: Zweite und Dritte Sinfonie)
Nach ihren Glanzzeiten in der Renaissance nimmt die niederländische
Kompositionskunst einen untergeordneten Rang ein. Erst im 20. Jahrhundert
gibt es einen neuen Aufschwung, doch die großen Komponisten
sind international Außenseiter geblieben. Den früh verstorbenen
Tristan Keuris kennt man ein wenig, die von Bartók, Strawinsky
und Hindemith beeinflußten Willem Pijper und Hans Kox kaum,
und Henk Badings hat man in Holland selbst unmöglich gemacht,
indem man ihm das Schuldgewand angeblicher Nazi-Kollaboration umhängte.
Den Eigenständigsten und Visionärsten unter ihnen aber
unterdrückte man von vorn herein: Matthijs Vermeulen hatte
sich die unvorbelastete Rezeption seiner Werke durch jahrelange
Tätigkeit als scharfzüngiger Kritiker verdorben. Am 8.
Februar in Helmond als ältester Sohn eines Grobschmieds geboren,
wurde er als 14-jähriger mit den Grundlagen des Renaissance-Kontrapunkts
vertraut und erhielt Klavierunterricht. Später unterwies ihn
Daniël de Lange privat in Komposition. Vermeulens Tonsprache
ist von Anfang an unverkennbar persönlich. Als erstes Werk
präsentierte er seine 1912-14 entstandene erste Sinfonie dem
legendären Concertgebouw-Chefdirigenten Willem Mengelberg,
der so Gelegenheit erhielt, den unliebsamen Kritiker höhnisch
abzufertigen. Sie ist ein helles, strahlendes Stück von durchgehend
unkonventioneller Polyphonie, welches die Einflüsse von Mahler,
Strauss, Bruckner und Debussy bereits zu Eigenem transformiert.
Wie alle weiteren seiner sieben Sinfonien mit Ausnahme der
dreisätzigen Fünften ist sie einsätzig. In
der Folgezeit entfernte sich Vermeulen von der überkommenen
Tonalität. 1919-20 schuf er mit der zweiten Sinfonie "Prélude
à la nouvelle journée" seine revolutionärste
Komposition, die manches vorwegnimmt, was kurz darauf Varèse
erkunden sollte: dissonante Organisation, extremistische Orchestration,
abrupte Strukturwechsel usw. Zugleich hält die markante Motivik
die zentrifugalen Kräfte in hochgespannter Balance. Seine freie
Polyphonie mag zudem ein wenig an Ives erinnern, doch Vermeulen
ist, bei aller harmonisch-rhythmischen Modernität, die er bis
zu seinen letzten Werken ausbaut, in der hohen Kunst der vielstimmigen
Organisation traditionsverbundener. Die dritte Sinfonie erschließt,
nach den grellen Registern der zweiten, dunklere Farben und kontinuierlichere
Klangräume, und diese Tendenzen variieren und vertiefen sich
in seiner monumentalen Vierten, die deutlich kontrastierende Episoden
organisch verwebt. Nach der dreisätzigen Fünften ist in
den letzten zwei Sinfonien der Gesamtverlauf fließender, noch
natürlicher aus den Gesetzen der Polyphonie hervorgehend. Die
recht begrenzte Anzahl seiner Werke ist nicht nur die Folge besessenster
Ausarbeitung aller Einzelheiten in Bezug auf die Gesamtvision, sie
war auch durch materielle Engpässe, das jahrelange Ausbleiben
jeglicher Resonanz in seiner Pariser
Zeit (1920-46) und tragische Ereignisse in der Familie bedingt.
Doch was Vermeulen schuf, sei es anspruchsvollste Kammermusik, aufrüttelnder
Gesang oder, vor allem, Sinfonisches, ist von höchster Qualität
und offenbart mit jedem Hören mehr von seinem unerschöpflichen
Reichtum.
Ein umfassendes Credo seiner kompositorischen Tätigkeit hat
Vermeulen in den 1961 veröffentlichten Bemerkungen zu seiner
sechsten Sinfonie abgelegt. Er schreibt darin, er habe immer versucht,
die Unterteilung der rhythmischen Dimension in kleine metrische
Einheiten aufzuheben und die Zeitempfindung damit zu relativieren,
zu entgrenzen. Die Empfindung freien Zeitmaßes, mithin kosmischer
Zeit, könne nur erreicht werden, indem jede Melodie ihrem eigenen
Zentralrhythmus folge. Um diese Anforderungen zu erfüllen,
muß der Komponist, so Vermeulen, folgende Fähigkeiten
mitbringen: "Zuerst muß er in der Lage sein, in den Bedingungen
dieser Technik zu hören und zu denken, eine Meisterschaft,
die erworben werden kann, allerdings eine beträchtliche Wendung
der Einstellung voraussetzt. Zweitens muß er über reiche
Vorstellungsgabe und kräftige Anlage für melodische Erfindung
verfügen. Drittens muß er eine nicht minder große
Beherrschung des Kontrapunkts vorweisen als Palestrina und Bach.
Und schließlich muß er über das komplette Arsenal
akkordischer Möglichkeiten zeitgenössischer Musik verfügen.
Die Anwendung dieser Technik bedeutet zugleich die radikale Aufhebung
des gesamten Systems von Kadenz, Phrasenaufbau, tonaler Ordnung
und Fundamentalbaß." Als Gestalter hochchromatisch schwereloser,
freitonaler Formorganismen lehnte Vermeulen nicht nur den reaktionären
Neoklassizismus, sondern auch jegliche Form von Serialismus ab und
nannte Schönbergs Zwölftonsystem treffend "tyrannischen
Dogmatismus und sinnlose Verleugnung der Freiheit, was durch kein
intellektuelles Argument oder was für einen Vorwand auch immer
zu rechtfertigen ist." Solch freisinnige Haltung nahmen ihm
beide Lager übel. Vermeulen starb am 26. Juli 1967 in Laren.
Er war nicht nur Hollands überragender Symphoniker, sondern
überhaupt einer der großartigsten Komponisten des 20.
Jahrhunderts. Höchste Zeit, ihn zu entdecken!
Christoph Schlüren
(Originalfassung eines 'Kleinen Lauschangriffs' für Klassik
Heute, 2000)
Literatur
Paul Rapoport: "Opus est", Six Composers from Northern
Europe (Vermeulen, Holmboe, Brian, Pettersson, Valen, Sorabji);
Kahn & Averill, London; ISBN 0 900707 887
Diskographie
"Complete Matthijs Vermeulen Edition" auf 6 CDs
Donemus CV 36-41 (Vertrieb: Peer Music)
Streichquartett; Schönberg Quartett (+ van Vlijmen, L. Andriessen)
NM Classics 92078
(Stand 2000)
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