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Portrait Matthijs Vermeulen

"Prélude à la nouvelle journée" 

Die große Zeit der holländischen Musik spielte im Mittelalter und der Renaissance. Danach hat Holland seinen Rang als Musiknation verloren. So hatte man im zwanzigsten Jahrhundert zwar viele interessante Komponistenpersönlichkeiten, was jedoch international nur wenig wahrgenommen wurde. Willem Pijper und Hendrik Andriessen, beide gediegene Könner, wirkten durchaus schulbildend für eine jüngere Generation. Der hochbegabte Henk Badings war sehr erfolgreich bis zum Zweiten Weltkrieg, wurde jedoch danach aus politischen Gründen isoliert. Der Eigentümlichste und zugleich Erfolgloseste unter ihnen war Matthijs Vermeulen, der unter Verwendung und Fortentwicklung tonsprachlicher Errungenschaften seiner Zeit eine Wiedererweckung der polyphonen Geister der alten Niederländer anstrebte. Vermeulen war, zumal in seinen frühen Werken der zehner und zwanziger Jahre, ein revolutionärer Komponist, auch wenn seine schöpferischen Ideale mit der Avantgarde nichts zu tun hatten. Er war ein Utopist, und seine Ideen von einer künftigen Gesellschaft deckten sich mit seinen Ideen von einer künftigen Musik. Seine einsätzige dritte Symphonie "Threnos und Päan" komponierte Vermeulen 1921-22. "Threnos", die Klage, ist bei Vermeulen nicht ausweglos der Verzweiflung unterworfen, denn es ist keine persönliche Klage. Immer herrscht in dieser Musik zugleich Gelassenheit und untergründige Heiterkeit, sie ist durchdrungen von unversieglicher Vitalität und Kraft, von Stolz und Selbstbewußtsein. Vermeulen war ein visionärer Kontrapunktiker, und in seiner dritten Symphonie wie auch im darauffolgenden Streichtrio von 1923 widmete er sich besonders kanonischen Techniken, wovon der folgende Ausschnitt aus "Threnos", dem ersten Teil der Symphonie, beredtes Zeugnis ablegt. Es spielt das Philharmonische Orchester Den Haag unter Ferdinand Leitner.
Ausschnitt aus: Symphonie Nr. 3 "Thrène et Péan" (1921-22)
(6 nach Z. 5 – 4 nach Z.11)
Philharmonisches Orchester Den Haag, Ferdinand Leitner (2.11.1977)
Donemus CV 36
 
"In diesem zukünftigen Orchester, in dieser Musik, gibt es keine Unterschiede hinsichtlich Rang und Bedeutung. Es ist eine Gemeinschaft, die harmonische Resultate erzielen soll, aber jeder einzelne daraus macht es auf seine Art, gemäß seiner Natur und Einsicht. Jeder repräsentiert sein ganzes Selbst im orchestralen, musikalischen Übereinklang, sein ganzes Ich mit all seinen Möglichkeiten, ungehindert, unbegrenzt. Zur vereinten Unternehmung trägt jeder mit seiner ganzen Person bei, mit Herz und Seele, mit all seinen Fähigkeiten. Jeder ist erste Wahl, erster Impuls. Jeder ist zugleich Richtungsgeber und Zielpunkt. Jeder singt sein eigenes Wesen, seine eigene Rolle, seine eigene Melodie, seinen eigenen Rhythmus. Jeder ist frei. Jeder ist gleichwertig. Obwohl jeder dient, gibt es keine Untergebenen. Jeder singt seine eigene Musik, die in der konzertierten Aktion die Musik aller wird. Und so, wie das alte Orchester die Projektion einer früheren Gesellschaft war, des alten Menschen und Staatswesens, so wird dieses entwickelte Orchester die Projektion einer neuen, noch zu verwirklichenden Welt sein."
Soweit Matthijs Vermeulen über seine Utopie einer künftigen Musik in einer künftigen Gesellschaft. Tatsächlich hat Vermeulen in seiner Musik zeit seines Lebens nach einer Verwirklichung dieser Ideale gestrebt. Von daher ist die Grundhaltung seiner Musik positiv, optimistisch. Er sah sich nicht als Zeitzeuge einer Endzeit und sah in der Auflösung des Überkommenen die Chance der gründlichen Erneuerung, ohne die geistigen Werte seiner Vorläufer zu verwerfen. Man hat die intendierte Gleichberechtigung aller Stimmen in seinen Werken belächelt und verdammt, gar als dilettantisch abgetan. Natürlich blieb diese Idee eine Utopie, indem sich in jedem Moment eine Stimme als Wichtigste hervortut und dem Ohr als Zentrum der Orientierung dient. Und doch hat er die Freiheit des Individuums im orchestralen Kollektiv in vielen Momenten weiter getrieben als irgendjemand vor ihm, ohne den erlebbaren Zusammenhang aufzugeben. Der vielstimmige Klagegesang in der dritten Symphonie, den sie soeben hörten, geht nahtlos über in den ausgelassenen, überbordenden zweiten Teil, der die Überschrift "Päan" trägt: ein Kriegs- und Siegesgesang, der in die Rückkehr des langsamen Tempos und der ursprünglichen Thematik mündet. Hören Sie nun den Schluß von Matthijs Vermeulens dritter Symphonie.
Schluß von: Symphonie Nr. 3 "Thrène et Péan" (1921-22)
(ab Z. 35)
Philharmonisches Orchester Den Haag, Ferdinand Leitner (2.11.1977)
Donemus CV 36
 
Ein umfassendes Credo seiner schöpferischen Tätigkeit hat Matthijs Vermeulen in den 1961 veröffentlichten Bemerkungen zu seiner sechsten Symphonie abgelegt. Er schreibt darin, er habe immer versucht, die Unterteilung der rhythmischen Dimension in kleine metrische Einheiten aufzuheben und die Zeitempfindung damit zu relativieren, zu entgrenzen. Die Empfindung freien Zeitmaßes, mithin kosmischer Zeit, könne nur durch das Aufheben der Hierarchie von Haupt- und Nebenstimmen erreicht werden, indem jede Melodie ihrem eigenen Zentralrhythmus folge. Die einzelnen Stimmen seien nur mittels Klanglichkeit und Ausdruck zu bündeln, ohne daß die Begrenzungen durch die Schwerkraft aufgehoben würden. Um diese Anforderungen zu erfüllen, muß der Komponist, so Vermeulen, folgende Fähigkeiten mitbringen: "Zuerst muß er in der Lage sein, in den Bedingungen dieser Technik zu hören und zu denken, eine Meisterschaft, die erworben werden kann, allerdings eine beträchtliche Wendung der Einstellung voraussetzt. Zweitens muß er über reiche Vorstellungsgabe und kräftige Anlage für melodische Erfindung verfügen. Drittens muß er eine nicht minder große Beherrschung des Kontrapunkts vorweisen als Palestrina und Bach. Und schließlich muß er über das komplette Arsenal akkordischer Möglichkeiten zeitgenössischer Musik verfügen. Die Anwendung dieser Technik bedeutet zugleich die radikale Aufhebung des gesamten Systems von Kadenz, Phrasenaufbau, tonaler Ordnung und Fundamentalbaß, sowohl in der Beziehung der Töne der Melodie untereinander als auch in den Beziehungen der Akkorde zueinander. Debussy führte eine solche Reform ein, ohne in der Lage zu sein, sie bis zu ihren Schlußfolgerungen durchzuführen, doch keine Versuche sind seither gemacht worden, diesen Weg weiter zu verfolgen. Nichtsdestoweniger ist diese Reform von höchster Wichtigkeit, indem sie den einzigen Fluchtweg aus dem Teufelskreis weist, in dem sich die Komponisten seit ungefähr 1920 fast blind bewegen. Wenn wir eine weitere und fruchtbare Fortentwicklung der Musik wünschen, muß ein neuer Anfang im musikalischen Denken gemacht werden."
Ob man Matthijs Vermeulens Musik mag oder nicht, ob man auf Anhieb Zugang zu seiner Tonsprache findet oder nicht: Vermeulens Originalität steht außer Zweifel. Das Erstaunliche ist, daß er von Anfang an über eine wirklich eigene Stimme verfügte. Er wurde am 8. Februar 1888 als Mattheus Christianus van der Meulen in Helmond als ältester Sohn eines Grobschmieds geboren. Als 14-jähriger wurde er mit den Grundlagen des Renaissance-Kontrapunkts vertraut und erhielt Klavierunterricht. Er wollte zunächst Priester werden, wandte sich dann aber doch vollständig der Musik zu. 1907 präsentierte er seine ersten Kompositionsversuche dem Direktor des Amsterdamer Konservatoriums, Daniël de Lange, der ihm über die folgenden zwei Jahre Kompositionsunterricht erteilte. Mit 21 Jahren begann Vermeulen seine Tätigkeit als Musikkritiker, die ihm, neben fachlichem Respekt, vor allem Feinde fürs Leben eintrug. Er legte sich insbesondere mit Willem Mengelberg, dem legendären Chefdirigenten des Concertgebouw Orkest, an, dem er zwar als Musiker hohe Bewunderung zollte, den er jedoch wegen dessen unverhohlener Bevorzugung des spätromantischen deutschen Repertoires unablässig scharf angriff. Sein kompositorischer Mentor war in dieser Zeit Alphons Diepenbrock, der seine frankophilen Neigungen bestärkte. So mutet es wie blanke Ironie an, daß Vermeulen sein Opus 1, die 1912-14 entstandene erste Symphonie, Mengelberg mit der Bitte um Aufführung vorlegte. Dieser hatte selbstverständlich kein Interesse. Es kommt nicht oft vor, daß sich ein Komponist in solch persönlich entfalteter Weise mit einem so komplexen ersten Werk der musikalischen Welt präsentiert. In vielstimmig singendem Gewebe sind Einflüsse Mahlers und Richard Strauss’, fallweise auch Bruckners und Debussys, zu unverwechselbar Eigenem transformiert. Die Tonsprache ist stark modal und zaghaft freitonal orientiert, hell leuchtend und überquellend in der vielstimmigen Lebensfreude, in Vermeulens eigener Rückschau "noch auf der Grenze zwischen 19. und 20. Jahrhundert, bevor der große Schatten fiel, und da sie vor allem die verzauberten Erwartungen der erwachenden Jugend ausdrückt, nannte ich sie 'Symphonia Carminum', Symphonie der Gesänge, wobei Carmen sowohl Gesang als auch Beschwörung bedeutet." Im Folgenden also der Beginn von Matthijs Vermeulens 1914 vollendeter erster Symphonie.
Anfang von: Symphonie Nr. 1 "Symphonia Carminum" (1912-14) (bis ca. Z. 4)
Rotterdamer Philharmoniker,
Roelof van Driesten (24.6.1985)
Donemus CV 36

Matthijs Vermeulens erste Symphonie wurde 1919 in Arnheim unter katastrophalen Bedingungen uraufgeführt und erst 1964, wenige Jahre vor Vermeulens Tod, ein zweites Mal gegeben. In der hochexpressiv deklamierenden Porché-Vertonung "La veille" (Die Nachtwache) für Mezzosopran und Klavier von 1917 machte Vermeulen entscheidende Schritte heraus aus der überkommenen Tonalität, die in der ein Jahr später entstandenen ersten Cello-Sonate zu einer neuen Freitonalität führten, welche alsbald gedankenlos als Atonalität bezeichnet wurde. Allerdings ist Vermeulens Stil in der Folgezeit sehr oft am Rande der Atonalität, sprich: der tonalen Beziehungslosigkeit, angesiedelt, indem er mit unablässiger chromatischer Mobilität die tonalen Gravitationszentren aushebelt. Doch entsteht die melodisch-harmonische Spannung ja nach wie vor gerade dadurch, daß sich die tonalen Beziehungen nicht ausschalten lassen. Zudem spielt Vermeulen durchaus, entgegen seiner philosophischen Haltung, mit wechselnden tonalen Zentren, aus deren überraschender Anwendung und Gegenüberstellung er den Satz vorantreibende und artikulierende Energien gewinnt. Darüber wohl wissend, sprach Vermeulen von der "integralen diatonischen Skala", von einer Pantonalität, die die durch kein Dogma geregelte Verwendung der gleichberechtigten zwölf Töne der temperierten Skala umschließt.

In Schönbergs Zwölftonsystem und seinen seriellen Folgeerscheinungen sah er einen Irrweg: "Jeden vorgeplanten Zwang in der Abfolge der Töne, wie von den Dodekaphonikern verfügt, betrachte ich als tyrannischen Dogmatismus und sinnlose Verleugnung der Freiheit, was durch kein intellektuelles Argument oder was für einen Vorwand auch immer zu rechtfertigen ist. Ich bin überzeugt, wenn die ersten symphonischen Komponisten um 1750 es sich in den Kopf gesetzt hätten, statt der gewöhnlichen Tonleiter dieses überflüssige, unbegründete Gesetz zu erlassen, hätten sie die gesamte Musikentwicklung zum Stillstand gebracht."
Seine zweite Symphonie, welche den Titel "Prélude à la nouvelle journée" trägt, komponierte Vermeulen 1919-20. Sie ist sein radikal modernstes Werk geworden und nahm vieles von dem um einige Jahre voraus, was Edgard Varèse in Werken wie "Amériques" und "Arcana" erkunden sollte. Sie ist ein singulär revolutionäres Werk, nicht nur im Hinblick auf die rhythmische Freiheit und Differenzierung und auf die melodisch-harmonische Organisation, wo bestimmte dissonierende Intervalle horizontal und vertikal dominieren, wo die herkömmliche Tonalität endgültig verlassen ist. Auch in Bezug auf die Instrumentation finden sich hier Wagnisse wie z. B. extreme Spitzentöne der Trompeten oder unorthodoxe Kombinationen, teils in weitesten Lagen, die zielsicher in eine spätere Zeit weisen. Die unvermittelt ineinander übergehenden, stark kontrastierenden Abschnitte sind typisches Merkmal von Vermeulens künftigem Stil, der auf die Einprägsamkeit der motivischen Intervallkonstellationen als Zusammenhang stiftendes Element setzt. So bleibt immer etwas gleich, obwohl sich stets etwas ändert und nichts in genau gleicher Form wiederkehrt – ein Prinzip, das für das gesamte Stück gilt. Vermeulens sieben Symphonien, außer der Fünften alle einsätzig, sind allesamt diesem Verwandlungs- und Identitäts-Prinzip verpflichtet. Hören Sie den Anfang von Vermeulens zweiter Symphonie mit seiner einprägsamen, in weiten Intervallen gezackten Motivik und entfesselten Klanglichkeit.
Anfang von: Symphonie Nr. 2 "Prélude à la nouvelle journée" (1919-20)
(bis Z. 9)
Philharmonisches Orchester Den Haag, Lucas Vis
Donemus CV-KN 1
 
Auch mit der zweiten Symphonie fand Vermeulen bei Willem Mengelberg, alles andere als überraschend, kein Verständnis. Dieser antwortete maliziös: "Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, junger Mann, nehmen Sie einige Stunden bei Herrn Dopper." Die Uraufführung sollte erst 1953 in Brüssel stattfinden. Vermeulen, seit 1918 verheiratet, gab daraufhin seine Stellung als Kritiker bei 'De Telegraaf' auf und ging mit seiner Familie nach Frankreich, wo er in La Celle-St. Cloud die dunkel getönte dritte Symphonie, das unerbittlich polyphone Streichtrio und die hermetische Violinsonate vollendete. Obwohl Gabriel Pierné, Sergej Koussevitzky und Nadia Boulanger seine Musik sehr interessant fanden, ergaben sich keine Aufführungsgelegenheiten für seine Symphonien. So wurde er aus finanzieller Not 1926 Korrespondent einer Zeitung im holländischen Ostindien, dem heutigen Indonesien, für die er 14 Jahre lang brillante Berichte über alles Mögliche, nur nicht über Musik, verfasste. Er kam nur wenig zum Komponieren, schrieb 1930 eine archaische Schauspielmusik zu Martinus Nijhoffs "Fliegendem Holländer" und 1938 seine zweite Cellosonate. Nicht zuletzt die horrenden technischen Schwierigkeiten standen der Verbreitung seiner Werke im Weg. Die Uraufführung der dritten Symphonie 1939 durch das Concertgebouw Orkest unter Eduard van Beinum war es dann endlich, die ihm bewies, daß die klingenden Resultate den von ihm intendierten entsprachen, und löste einen neuen Schaffensschub aus. Er schrieb 1940-41 mit der halbstündigen vierten Symphonie sein gewaltigstes einsätziges Werk, und bis zum Kriegsende vollendete er die fünfte Symphonie, welche als einzige in drei Sätzen gehalten ist. Die Titel dieser Werke, "Les Victoires" und "Les lendemains chantants", sind Ausdruck seines ungebrochenen Lebenswillens und Optimismus', seiner inneren Gewißheit über kommende bessere Zeiten.
Vermeulen war ein unerbittlicher Gegner des Neoklassizismus und der damit verbundenen Ästhetik, die davon ausging, daß Musik nichts ausdrücken oder bewirken könne. Gleichwohl hielt er auch nichts von deskriptivem Komponieren und bestand darauf, daß sich die musikalische Form allein aus musikalischen Gründen rechtfertigte – jede Form als einzigartiges, einmaliges, frei gefundenes Ergebnis des sie konstituierenden Materials. Dem zugrunde liegt eine Emotionalität, die unmittelbar melodische Gestalt annimmt und sich nun aus ihren eigenen Gesetzen heraus fortpflanzt. Wie unterschiedlich die daraus resultierende Gesamtform aussehen kann, zeigen seine Symphonien, die sich in formaler Hinsicht fundamental unterscheiden. In der 4. Symphonie wird aus dem Prinzip des Kontrasts zwischen den Abschnitten maximale Spannung gewonnen, auch werden uralte Prinzipien wie das Hoketus-Verfahren in die hochgespannte, pantonal-polyphone Tonsprache eingeflochten. In der kolossalen 5. Symphonie tragen die einzelnen Sätze geschlosseneren Ausdruck, mit einem mystischen Adagio im Zentrum, von welchem der Komponist sagt, es sei sein "Versuch einer Beschwörung der Liebe".
Der Tod seiner Frau und seines geliebten Sohns, der in der französischen Résistance kämpfte, nagten im Herbst 1944 an Vermeulens Existenznerv. Er suchte Zuflucht im kreativen Prinzip hinter allen Erscheinungen dieser Welt, in dem er den "schöpferischen Geist" erkannte, und wollte damit einen Gegenpol zum Existenzialismus errichten. So wurde er in den fünfziger Jahren, nunmehr wieder verheiratet und zurück in Holland, aktiv in der Anti-Atomwaffen-Bewegung und trat für eine sozialistische Gesellschaftsordnung ein. Seine vierte, fünfte und zweite Symphonie wurden uraufgeführt, doch erst 1956-58 entstand sein nächstes Werk: die sechste Symphonie mit dem Titel "Les minutes heureuses", nun wieder in einem Satz, aber insgesamt fließender, verwobener in den Kontrasten. Dem Werk ist die Tonfolge a-c-d zugrundegelegt, auf italienisch la-do-re, was dem französischen Wort "L’adoré" entspricht: der Angebetete, der Verehrte. Das kontinuierliche Finden einer Melodie aus der anderen ist Signum dieses Werks und verweist im Verborgenen auf Vermeulens Faszination für die alten franko-flämischen Meister.
"Als ich begann, wußte ich nicht, wieviele melodische Linien ich benötigen würde, um diesen musikalischen Prozeß zu einem logischen Schluß zu bringen… Ich wußte nur, daß ich bis zum Äußersten meiner Kräfte ginge und gehen müßte, und daß die gesamte Handlung auf dieser Erde stattfinden würde. Daher ist die Symphonie in der einfachsten möglichen Weise aufgebaut. Graphisch könnte man es mit einer Spirale oder einem Crescendo-Zeichen symbolisieren. Nirgends kehrt die Musik zu einem früheren Ort zurück. Wir baden nie zweimal im gleichen Strom, wie Heraklit sagte."
Es folgt der Schluß von Matthijs Vermeulens sechster Symphonie "Les minutes heureuses", gespielt von den Rotterdamer Philharmonikern unter Lucas Vis.
Schluß von: Symphonie Nr. 6 "Les minutes heureuses" (1956-58)
(ab Z. 47)
Rotterdamer Philharmoniker, Lucas Vis (11.4.1984)
Donemus CV 38
 
In seinen letzten Jahren schuf Matthijs Vermeulen sein einziges Streichquartett als weiteren "Zaubergarten der Polyphonie" im Gefolge der sechsten Symphonie, und seine unvermindert vitale, willensstarke und unabhängige siebente Symphonie mit dem Titel "Dithyrambes pour le temps à venir", deren Uraufführung er in seinem Todesjahr noch erleben durfte. Er starb am 26. Juli 1967 in Laren. In seiner unbestechlichen Art hat er sich weder unter Avantgardisten, denen er Mangel an Formempfinden vorwarf, noch unter Reaktionären, die er grundsätzlich uninteressant fand, Freunde gemacht. Lange galten viele seiner Werke als unspielbar. So ist er, Hollands wichtigster Symphoniker und fantastischster Neuerer in freier Tonalität, bis heute umstritten. Hören Sie zum Schluß noch einmal Matthijs Vermeulens klanglich kühnstes Werk, die 1919-20 entstandene zweite Symphonie in einem Satz "Prélude à la nouvelle journée". Lucas Vis leitet das Philharmonische Orchester Den Haag.
Symphonie Nr. 2 "Prélude à la nouvelle journée" (1919-20)
Philharmonisches Orchester Den Haag, Lucas Vis
Donemus CV-KN 1

Der herzliche Dank des Autors gilt Vermeulens Biograph Ton Braas, und Donemus – dort insbesondere Michael Nieuwenhuizen –, für die freundliche Überlassung von Materialien und Informationen.
Verleger fast aller Kompositionen Matthijs Vermeulens:
Donemus, Paulus Potterstraat 16, NL–1071 CZ Amsterdam, Tel. 0031/20/6764436,
e-mail: donemus@pi.net
Sämtliche Symphonien sind bei Donemus in käuflichen Studienpartituren neu herausgegeben.
Matthijs Vermeulen auf CD:
• "Complete Matthijs Vermeulen Edition" auf 6 CDs: Nr. 1-3 Orchestral Music,
Nr. 4-6 Chamber Music; Donemus CV 36-41 (Vertrieb: Peer Music)
• Streichquartett, gespielt vom Schönberg Quartett; NM Classics 92078
Literatur über Vermeulen:
Paul Rapoport: "Opus Est", Six Composers from Northern Europe (Vermeulen, Holmboe, Brian, Pettersson, Valen, Sorabji); Kahn & Averill, London; ISBN 0 900707 887

Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Produktion: 8.2.2000;
Erstsendung: 15.2.2000, 23:o5-24:oo, "Musik unserer Zeit"

Christoph Schlüren, im Februar 2000