Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen,
meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die
stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang
gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch
viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz
Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind,
deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern
eine eigene Kategorie begründet. Seine Musik ist von auratischer
Klangfantasie und zugleich vollendetem Formbewußtsein gezeichnet,
zumal in seinen Sinfonien verschmelzen unterschiedlichste Stilwelten
zu mannigfaltigster Einheit:
Lepo Sumera (1950-2000)
Suche nach freien Formen
(Anspieltip: Vierte Sinfonie)
Am 2. Juni 2000 starb, hierzulande unbeachtet, einer der eminentesten
Sinfoniker unserer Zeit: der Este Lepo Sumera, der gerade erst seinen
50. Geburtstag gefeiert hatte. Es ist, angesichts seiner großartigen
und hochoriginellen Musik und seiner gewinnenden Persönlichkeit,
unbegreiflich, warum Sumera im Westen trotz des weltweiten Booms
baltischer Musik viel weniger bekannt wurde als Arvo Pärt,
Peteris Vasks oder sein Schüler Erkki-Sven Tüür.
Seine Musik hält alles bereit , was ihn zu breiter Popularität
prädestiniert, und darüber hinaus ist sie dazu angetan,
auch den Kenner zu ergötzen, denn sie kennt keinen Stillstand,
ist in ihrer Entwicklung nicht voraussagbar.
Ich begegnete Sumera zum ersten Mal 1995 in Kokkola, wo das Ostrobothnian
Chamber Orchestra unter Juha Kangas das Streicherstück "Come
cercando" uraufführte. Er war eine beeindruckende und
sehr berührende Erscheinung, hochintelligent, wendig, elegant,
kommunikativ mit sprühendem Humor, dabei aber von tiefem Ernst
und einer grundlegenden Bescheidenheit. In seinem Innern war er
voller Zweifel, und aus dieser Veranlagung heraus betätigte
er sich zeitlebens als schöpferisch Suchender was im
Werktitel "Come cercando" (wie suchend) Programm wurde
(die selbe Überschrift trägt der Kopfsatz seines Klavierkonzerts).
Gute zwei Jahre später traf ich Sumera wieder, diesmal in seiner
Heimatstadt Tallinn, wo er mich mit viel Alkohol und Zigaretten
in das Nachtleben einführte. Seine verbindliche, noble und
warmherzige Art wird allen, die ihn kannten, unvergeßlich
bleiben.
Lepo Sumera wurde am 8. Mai 1950 in Tallinn geboren. Sein Vater
war ein guter Geiger, Lepos erstes Instrument war das Akkordeon,
wofür er als Vierjähriger zu komponieren begann: "Das
ist etwas ganz Natürliches. Jedes Kind komponiert!" Mit
16 Jahren widmete er sich dann ernsthaft der Musik. Er wurde der
letzte Schüler des großen Heino Eller, der u. a. auch
Eduard Tubin und Arvo Pärt ausgebildet hatte. Seit jeher interessierte
sich Sumera für die ganze Vielfalt der Musik jenseits zeitlicher,
räumlicher, stilistischer Begrenzungen.
Nach Ellers Tod vollendete er sein erstes Orchesterwerk, das 12-minütige
"In memoriam" zum Andenken seines Lehrers, in dessen vielseitig
kontrastierenden Episoden Sumeras Eigenart trotz der noch deutlichen
Bindung zum sowjetischen Ton bereits unverkennbar ist. Die prägnante,
konzentrierte und dabei vielgestaltig sich verwandelnde Motivik
ist typisch und wesentlich für sein weiteres Schaffen, in dessen
Zentrum die sechs Sinfonien stehen, die zwischen 1981 und 2000 entstanden.
An ihnen läßt sich exemplarisch die Entwicklung Sumeras
verfolgen, für die sowohl unablässige Veränderung
als auch Treue zu sich selbst charakteristisch sind. In der ersten
und zweiten Sinfonie ist die Sprache sehr direkt, archaisch in der
sonoren Kraft der Dreiklänge, wobei die erste noch mehr für
jene estnische Alternative zur Minimal Music steht, die aus dem
ursprünglichen Runo-Gesang herauskristallisiert ist. Für
viele ist die zweite Sinfonie (1984) in ihrer Klarheit, den epischen
Gegensätzen und suggestiven Konturen der Höhepunkt in
Sumeras Schaffen. Sie ist sein wohl erfolgreichstes Werk (leider
ist die beste Aufnahme unter Peeter Lilje nicht erhältlich).
Die 1988 komponierte dritten Sinfonie
geht andere Wege. Kompliziertere harmonische und rhythmische Verhältnisse
lassen die Musik verschlungener erscheinen, ohne daß sie an
unmittelbarer Wirkung verliert. In der vierten Sinfonie (1992) mit
dem Titel "Serena borealis" tritt zwischen die wilderen
Abschnitte ein spielerisch-meditatives, ausgedehntes Szenario mit
quasi improvisierender E-Gitarre. Der Pianissimo-Schluß greift
auf die dritte Sinfonie zurück. In der 1995 entstandenen fünften
Sinfonie hat Sumera jene Kunst aufs Höchste entwickelt, wo
das Ineinandergleiten fester Strukturen und freier Verläufe
sich oft kaum mehr auseinanderhalten läßt und ihm so
völlig neuartig organische, freie Formen gelingen "wie
beim Überblenden verschiedener Bilder". In all diesen
Werken ging Sumera an strukturelle Grenzen, ohne ins Formlose zu
schlittern. Seine Kammer-, Chor- und (über 70) Filmmusiken,
seine live-elektronischen Exkursionen sind außerhalb Estlands
kaum ein Begriff. Und wer weiß schon, daß dieser selbstlose
Mann nach Estlands Gang in die Unabhängigkeit für mehrere
Jahre Kulturminister war (als einziges Kabinettsmitglied ohne kommunistisches
Parteibuch)? Aber auch seine Sinfonien kennt man zu wenig, wobei
sein letztes Werk, die sechste Sinfonie, noch nicht eingespielt
ist. Welch immer unerhörtere, magisch aufbrechende und dicht
sich ereignende Welten er in der Fusion heterogenster Stilelemente
zu sinnfälligem Zusammenhang zu erschließen vermochte,
davon gibt vielleicht am beeindruckendsten seine (achtminütig
komprimierte) Sinfonie für Streicher und Schlagzeug von 1998
Kunde, in der phänomenalen Darbietung des Ostrobothnian Chamber
Orchestra. Das Bekanntwerden seiner Musik im Westen hat Sumera leider
nicht mehr erleben dürfen. Sein früher Tod ist ein unermeßlicher
Verlust.
Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 2000)
Diskographie:
Sinfonien Nr. 1-3
Malmö Sinfonieorchester, Paavo Järvi
BIS 660 (Vertrieb: Klassik Center)
Sinfonie Nr. 4, Klavierkonzert, Musica tenera
Kalle Randalu (Klavier), Malmö SO., P. Järvi
BIS 690
Sinfonie Nr. 5, Musik für Kammerorch., In memoriam
Malmö SO., P. Järvi
BIS 770
Come cercando (+ Streicherwerke von Eller, Tubin, Pärt, Rääts,
Tüür)
Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas
Finlandia 3984-21448-2 (Vertrieb: Warner Classics)
Sinfonie für Streicher und Schlagzeug (+ Werke von Vasks, Narbutaite,
Tüür)
Ostrobothnian Chamber Orch., J. Kangas
Finlandia 3984-29718-2
Klavierkonzert (+ Klavierkonzerte von Lemba, Tubin)
L. Väinmaa (Klavier), Estnisches RSO, Arvo Volmer
Finlandia 3984-20684-2
For B.B.B. and His Friend (+ Kammermusik von Eespere, Kangro, Vähi,
Mägi, Pöldmäe)
Camerata Tallinn
Finlandia 4509-95705-2
Klavierstück 1981 (+ Werke von Pärt, Tüür, Mägi,
Kangro, Rääts, Vähi)
Lauri Väinmaa (Klavier)
Finlandia 4509-95704-2
(Stand: Juni 2000)
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