Bernard Stevens ist in Deutschland ein völlig
unbekannter Name. Auch in England kennen ihn nur Insider. Als Stevens
am 3. Januar 1983 nach langjährigem Krebsleiden im Alter von
66 Jahren starb, war keine einzige kommerzielle Aufnahme mit seinen
Werken auf dem Markt. Dabei hatte er einst, unmittelbar nach dem
Zweiten Weltkrieg, einen großen Erfolg mit seiner 'Symphony
of Liberation', die aus dem vom Daily Express gesponsorten Wettbewerb
für eine "Victory Music" als Sieger hervorging. Aber
dann wurde es bald sehr ruhig um ihn.
Ich stieß auf ihn zufällig, als ich in Wien aus einer
Wühlkiste eine Doppel-CD mit dem Titel 'Max Rostal in memoriam'
zog. Darauf fanden sich drei Klassiker der Moderne: Bartóks
Zweites Violinkonzert und das Erste von Schostakowitsch sowie das
Violinkonzert von Alban Berg. Außerdem: das 1942-43 komponierte
Violinkonzert von Bernard Stevens. Der erste Eindruck läßt
sich nicht beschreiben. In dem existentiellen Tonfall, der Kontinuität
des Spannungsaufbaus, der melodischen und kontrapunktischen Qualität
hielt dieses Werk eines völlig unbekannten Meisters aus dem
nach vieler Leute Meinung an großen Tonschöpfern so armen
Großbritannien Schritt mit den Giganten, mit denen zusammen
es hier verewigt war. Und bei jedem weiteren Hören gewann die
Musik noch — an Tiefe, Mannigfaltigkeit und Eindeutigkeit.
Bis heute. Natürlich liegt der großartige Eindruck auch
am konzentrierten, sehnig flexiblen Spiel Max Rostals, der bei dieser
Konzertaufführung am 9. Januar 1948 im BBC Northern Orchestra
unter Sir Charles Groves einen einfühlsamen und mit glühendem
Ausdruck agierenden Widerpart fand. Besonders interessant ist an
dem Anfangsthema, daß es eigentlich eine sehr schematisch
spiegelförmig sich verengende Zwölftonreihe ist, jedoch
im tönenden Zusammenhang frei und ohne Rechnerei erfunden scheint.
1
Violinkonzert (1942-43), 1. Satz Andante: Anfang
Max Rostal (Violine), BBC Northern Orchestra, Sir Charles Groves
(live, 9. Januar 1948)
Symposium CD 1142&3 'Max Rostal in memoriam' (Vertrieb: Liebermann)
Track 1, 0’02-3'44 (ausblenden!), (Dauer: 3'42)
Max Rostal war der Solist im Anfang des Kopfsatzes aus dem Violinkonzert
von Bernard Stevens. In einer nach Stevens’ Tod veröffentlichten
Würdigung schrieb Rostal: "Als ich Bernard das erste Mal
begegnete, begleitete er seine charmante und begabte Verlobte zu
einem Vorspiel, weil sie bei mir studieren wollte. Sie spielten
die Violinsonate, die er für sie geschrieben hatte, und ich
war sogleich von der Qualität der Musik dieses jungen Komponisten
beeindruckt. Wir trafen uns dann in London bei den Zusammenkünften
des neugegründeten Komitees zur Förderung Neuer Musik.
Von Anfang an fanden wir Interesse aneinander, und unsere Bekanntschaft
wuchs zu einer sehr warmen, langen Freundschaft… Nachdem ich
einige seiner Werke kennengelernt hatte, fragte ich ihn zögernd,
ob ihm der Gedanke, ein Violinkonzert zu schreiben, willkommen scheine.
Er fühlte sich von dem Vorschlag angezogen und arbeitete an
dem Konzert während seines Militärdienstes in Bournemouth.
Dieses schöne Werk wurde am 2. Februar 1943 vollendet, als
der Komponist 27 Jahre zählte — meines Erachtens ein
bemerkenswertes Werk für einen solch jungen Mann in Bezug auf
erstaunliche Reife, Tiefgründigkeit, technische Überlegenheit
und Imagination… Ich finde es unverständlich, warum so
viele Geiger — und speziell die jüngere Generation britischer
Violinisten — solch gute Werke zu ignorieren scheinen. Ist
denn wirklich kein Platz für anderes als Avantgarde…?
… Ich glaube fest an die Werke von Bernard Stevens und wünschte
mir sehr, daß sie in weiteren Kreisen besser bekannt wären
als es bis jetzt der Fall war."
Nicht nur das Violinkonzert von Stevens wurde, außer von Rostal,
keiner Beachtung für wert befunden. Auch die in den fünfziger
Jahren entstandenen Konzerte für Cello bzw. Klavier existierten
bis Ende der achtziger Jahre nur auf dem Papier. Für die Vernachlässigung
von Stevens gibt es zwar viele Begründungen, aber keinen wirklich
ausreichenden Grund.
Stevens wurde am 2. März 1916 in London geboren. Als Kind erhielt
er freie Klavierstunden bei dem legendären Harold Samuel, der
ihn bereits in die Welt Johann Sebastian Bachs einführte. 18-jährig
nahm er Unterricht bei Edward J. Dent und Cyril Rootham. Dann ging
er zum Studium nach Cambridge, wo er in Musik und englischer Literatur
abschloß. Er nahm einige Stunden bei dem großen Musikwissenschaftler
und Komponisten Donald Francis Tovey und studierte dann am Royal
College of Music Komposition bei R. O. Morris, Klavier bei Arthur
Benjamin, Orchestration bei Gordon Jacob und Dirigieren bei Constant
Lambert. Als 23-jähriger hatte er bereits höchste Meisterschaft
im traditionellen polyphonen Stil erreicht, was man in der doppelchörigen
a-cappella-Messe hören kann, die er im Juni 1939 vollendete.
Dieses formvollendete, schöne Werk wurde erst nach seinem Tod
uraufgeführt. Zu hören ist daraus nun das Agnus Dei, wo
im beschließenden Dona nobis pacem die beiden Chöre in
real achtstimmigem Kontrapunkt geführt werden.
2
Mass in A for double choir a cappella (1939), Agnus Dei
The Finzi Singers, Paul Spicer (London, St Alban the Martyr, Holborn,
August 1991)
Chandos CD 9021 (Vertrieb: Koch) [LC 7038]
Track 20 (Dauer: 4'16)
Der stilistische Sprung von der 1939 entstandenen Messe zum Violinkonzert
von 1942-43 ist enorm. Stevens, der nicht allzu viel über sich
sprechen mochte, hat diese Verwandlung selbst am treffendsten erklärt
in einer Werkeinführung, die er 1968 im British National Sound
Archive gab. Er empfand den in England dominierenden Pastoralstil,
wie er maßgeblich von Ralph Vaughan Williams vertreten wurde,
als weltfremd geworden. Zugleich interessierte ihn aber auch das
avantgardistische Klangexperiment wenig. Er suchte einen zeitgemäßen
Ausdruck, den er zunächst in der Musik des jüdischen Schweizer
Weltbürgers Ernest Bloch fand. Dessen rhapsodisch geformte,
von machtvollem, dramatisch geprägtem Melos getragene Tonsprache
zog ihn unwiderstehlich an. Mit der Zeit aber merkte er, daß
ihm hier ein wesentliches Element fehlte: der alles durchpulsende
Kontrapunkt, der die Musik in natürlichem, entspanntem Fluß
hielt. Hier fand Stevens entscheidende Anregung bei seinem fünfzehn
Jahre älteren Landsmann Edmund Rubbra, der Satzelemente der
Tudor-Zeit in eine zeitgenössische Klangsprache einschmolz.
Der Kontrapunkt wurde für Stevens besonders von seiner rhythmischen
Seite her zum wesentlichen Element. Harmonisch ging er freilich
sogleich weit kühnere Wege als Rubbra, den er zeitlebens verehrte.
Stevens fand nun in den Madrigalen Monteverdis und in den Streicher-Fantasien
Henry Purcells wichtige Vorbilder für eine sinnträchtige
Anwendung des Kontrapunkts. Dabei wurde er nie zu einem modisch
rückwärtsgewandten Archaisierer, und seine tiefschürfende
Erforschung des Wesens der Musik zielte auf eine ganz und gar unprätentiöse,
natürliche und profund menschliche Aussage hin. Auch wenn er
Themen alter Meister entlieh, wie beispielsweise in Fantasien auf
John Dowland oder Giles Farnaby, wurde daraus eine neue Form gewonnen,
in einer eigentümlichen Sprache, die der Gefahr ziellosen Improvisierens
ebenso wenig erlag wie blassem Stilimitat. Es folgt als Beispiel
ein kurzer Ausschnitt aus der 1953 entstandenen 'Fantasia on »Giles
Farnaby’s Dreame«' für Klavier solo.
3
Fantasia on 'Giles Farnaby’s Dream' op. 22 (1953): Ausschnitt
Jeremy Filsell (Klavier), (Cranleigh School Chapel, Dezember 1993)
Gamut Classics CD 541
Track 2, 8'20-9'25 (einblenden (Dauer: 1'05)
Im Laufe der fünfziger Jahre wurde Bernard Stevens’ Tonsprache
zunehmend komplexer, gewann zugleich an Kraft und Leichtigkeit und
erhielt sich die stets angestrebte Direktheit und Lebendigkeit.
Stevens wollte nicht Musik für eine bestimmte Gruppe von ästhetisch
Empfänglichen schreiben. Er beobachtete mit Sorge die unüberbrückbar
gewordene Kluft zwischen avancierter Musik und Unterhaltungsmusik.
Stevens war überzeugter Marxist, jedoch nicht ein realitätsblinder
Glaubenskämpfer wie sein dem praktizierten sozialistischen
Realismus anhängender Kollege Alan Bush. Nach der blutigen
Niederschlagung des Ungarn-Aufstands trat er 1958 aus der Partei
aus. Später wurde von ihm gesagt, er sei ein "spiritueller
Kommunist". Als Komponist war er, seit er 1948 am Royal College
of Music eine Professur für Komposition, Harmonie und Kontrapunkt
angenommen hatte, weitgehend in der Versenkung verschwunden. Aufträge
erhielt er fast überhaupt nicht. Sein Komponieren wurde immer
filigraner und feinfühliger, zugleich konziser und der ihn
umgebenden Wirklichkeit verbundener. Er ging seinen Weg, den kein
anderer Schaffender mit ihm zu gehen vermochte. Wenn man ihn als
einen "englischen Brahms der Moderne" charakterisiert
hat, so möge man bedenken, welche Ausnahmeerscheinung Brahms
seinerzeit war. Vielen galt er als akademisch, reaktionär,
langweilig in dem ewigen Versuch, mit kontrapunktischer Disziplin
seine Leidenschaft und den Sog allgegenwärtiger Introversion
in einer Balance zu halten, ja sogar auf die Ebene von Gelassenheit
und Heiterkeit zu erheben. Der Fortschritt um ihn herum scherte
Brahms, der aus inniger Kenntnis der Tradition heraus seine neuen
Bahnen fand, wenig. Später hat Schönberg etwas anderes
entdeckt: "Brahms the Progressive". Die Zeitgenossen hätten
gelacht. Der brillante Musikschriftsteller Hans Keller stellte Bernard
Stevens mit Britten als Antipoden auf eine Stufe, aber die etablierte
Musikwelt nahm davon kaum Notiz. Als Marxist war er für das
Establishment verdächtig und wurde als geachteter Außenseiter
behandelt, dem man weiter nichts Schlechtes nachsagen konnte. Freunde
schildern ihn als äußerst herzlichen und aufgeschlossenen,
aber auch kompromißlos direkten Menschen. Für Malcolm
MacDonald, gemeinsam mit Ronald Stevenson heute wohl der beste Kenner
von Stevens’ Werk, war er ein Mensch mit einer Ausstrahlung
von Genialität, und MacDonald berichtet, daß Stevens
gerne seine Ansichten in scharf zugespitzter, bisweilen überspitzter
Art formulierte, nicht zuletzt, um sein Gegenüber aus der Reserve
zu locken und zu entschiedenen Aussagen zu provozieren. Seine Schüler,
unter denen sich führende englische Komponisten unserer Tage
wie Michael Finnissy finden, verehrten und liebten ihn, der sie
liebevoll-unnachgiebig unterwies.
Die Klangsensation spielte in Stevens’
auf die geistige Substanz ausgerichteter Musik eigentlich eine Nebenrolle,
doch beherrschte er das Klangliche nicht nur im Orchester in vollendeter
Weise, sondern holte auch aus kleinen kammermusikalischen Besetzungen
ein Optimum an Sonorität, so in der 1958 geschriebenen 'Lyrischen
Suite' für Streichtrio. Er begeisterte sich für Dmitrij
Schostakowitsch und liebte Alban Berg mit seiner unerschütterlichen
Sensibilität für die Tonalität auch in den kompliziertesten
chromatischen Verwicklungen. Anfang der sechziger Jahre wandte sich
Stevens selbst intensiv der Zwölftönigkeit zu, jedoch
nach seiner eigenen Façon. Zwischen 1962 und 64 entstanden
unmittelbar nacheinander drei bedeutende Instrumentalwerke, in welchen
er auf seinem eigenen, stets aus der Gravitation tonalen Bewußtseins
schöpfenden Zwölftonweg weitausgreifende Formorganismen
schuf: sein Zweites Streichquartett, die Zweite Symphonie und die
'Variations for Orchestra'. Das viersätzige Zweite Streichquartett
ist gewiß sein ambitioniertestes Kammermusikwerk. Wir hören
daraus den zweiten Satz, ein Presto-Scherzo, welches, zugleich höchst
impulsiv und feingliedrig, mit bezwingendem Impetus divergierende
Rhythmik und Metrik zu unwiderlegbar scheinender Formgestalt vereint.
Daß von Beginn an eine Zwölftonreihe die Fortschreitungen
festlegt, muß dem technisch Interessierten erst erklärt
werden, denn aufgrund der eindeutigen tonalen Wirkung hört
man sie nicht als solche. Es spielt das Delmé String Quartet.
4
Streichquartett Nr. 2 Op. 34 (1962), 2. Satz Presto
Delmé String Quartet (St Paul’s Parish Church, New
Southgate, Juli 1990)
Albany TROY CD 455 (Vertrieb: Liebermann)
Track 3 (Dauer: 4'50)
Die Entdeckung von Bernard Stevens’ Musik nach seinem Tode
glich einem Wunder. Sollte er die postume Aufmerksamkeit doch tatsächlich
der kalifornischen Psychedelic-Rock-Band 'The Grateful Dead' verdanken.
'Grateful Dead'-Bassist Phil Lesh ist ein Fan britischer Symphoniker
des zwanzigsten Jahrhunderts, die bis zu seinem Eintreten nur ein
kleiner Kreis Eingeweihter kannte. So kam es zunächst zur Aufnahme
von zwei Platten mit Symphonien von Havergal Brian, dann zur Erstaufnahme
der Neunten Symphonie Robert Simpsons, jeweils mit einem Zuschuß
von 10.000 Dollar von der Rex Foundation of San Francisco. Der Journalist
Martin Anderson, der schon den Simpson-Deal eingefädelt hatte,
empfahl Bernard Stevens’ Musik an Phil Lesh. Dieser entschied
sich, nachdem er mehrere Bänder durchgehört hatte, für
die Zweite Symphonie, die dank seiner 10.000 Dollar-Spritze 1989
den Reigen der Stevens-Aufnahmen eröffnen konnte.
Mit der Zweiten Symphonie und den 'Variations for Orchestra', beide
1964 vollendet, erklomm Bernard Stevens die Gipfel seines orchestralen
Schaffens. Die 'Variations' sind in ihrer monadischen Mannigfaltigkeit
ein Wunderwerk bezüglich der Kohärenz der Form. In einem
weitgespannten Satz umgreifen sie vier Abteilungen, die in ihrer
Abfolge der symphonischen Tradition entsprechen: ein sehr gemessener,
vorwärts drängender erster Teil, dem eine Art Scherzo
folgt; dann das eigentliche Adagio und ein bewegter Schlußteil.
Hier bringt Stevens die zentrifugalen Tendenzen der zwölftönigen
Chromatik zu maximaler Konfrontation gegen die zentrierende Kraft
der Tonalität. Die Grundspannung gewinnt er aus der Opposition
der beiden melodisch unmittelbar benachbarten, harmonisch weit voneinander
entfernten tonalen Zentren D, mit welchem das Stück beginnt,
und Es, mit welchem es endet. Übrigens hat auch Schönberg
ein zwölftöniges Werk, die 'Ode an Napoleon', in einen
finalen Es-Dur-Akkord münden lassen. Daß die Aufführung
bei aller Solidität den hohen Ansprüchen, die die 'Variations'
an Ausführende und Hörer stellen, nicht genügen kann,
versteht sich von selbst angesichts der heute üblichen Studiobedingungen,
wo einfach keine Zeit ist, sich mit mehr als der einigermaßen
korrekten Wiedergabe der einzelnen Noten zu befassen, zumal in einem
so hochkomplexen Werk. Auch bietet Stevens’ Werk kaum die
dankbare Oberfläche für kaschierende Effekte. Zu sehr
liegt ihre Betonung auf der musikalischen Substanz, zu unentrinnbar
liegt ihre spezifische Qualität nicht nur im Reiz des Augenblicks,
sondern vor allem im Erleben des weitausschwingenden Zusammenhangs.
Wird dieser nicht erlebbar, so unterbleibt das Wesentlichste. Dies
ist sicher auch ein Grund, warum sich Stevens’ Musik, wie
auch diejenige des ihm bei aller äußeren Unterschiedlichkeit
in mancher Hinsicht verwandten Robert Simpson, nicht so leicht durchsetzen
wird. Es geht um keine Show, sondern um die Verankerung der Musik
in der menschlichen Existenz. Das ist eine zeitlose Angelegenheit,
und in dieser zeitlosen Dimension fortzuschreiten führt geradewegs
in die künstlerische Einsamkeit, aus welcher zurück erst
wieder die Kommunikation über die Musik führen kann. Doch
um kommunizieren zu können, wären gewisse Bedingungen
erforderlich, die in heutigen Berufsorchestern eigentlich unmöglich
herzustellen sind. Nun also die 'Variations for Orchestra', gespielt
vom National Symphony Orchestra of Ireland unter Leitung von Adrian
Leaper.
5
Variations for Orchestra (1964)
National Symphony Orchestra of Ireland, Adrian Leaper (Dublin, Mai
1993)
Marco Polo CD 8.223480 (Vertrieb: Naxos) [LC 9158]
Track 8 (Dauer: 18'08)
Sie hörten die 1964 komponierten 'Variations for Orchestra'
von Bernard Stevens, gespielt vom National Symphony Orchestra of
Ireland unter Adrian Leaper. Bis Mitte der siebziger Jahre schuf
Stevens weiter Werk für Werk und blieb außer seiner Lehrtätigkeit
weitgehend unbemerkt in der musikalischen Öffentlichkeit. Die
letzten sechs Jahre vor seinem Tod lebte er in dem Bewußtsein,
daß er den Wettlauf mit dem Krebs letztlich verlieren würde.
Also holte er aus zu seinem letzten großen Kraftakt. Nachdem
Anfang der fünfziger Jahre aus einem geplanten Bühnenstück
'Mimosa' nichts geworden war, schrieb er nun 1978-79 seine einzige
Oper. Die hatte natürlich das zum Gegenstand, was ihn zeitlebens
zentral beschäftigt hatte und nun zwangsläufig noch mehr
in den Mittelpunkt aller Empfindungen und Betrachtungen rückte:
Leben und Tod. Als Vorwurf diente ihm das Theaterstück 'In
the Shadow of the Glen' von dem 1909 verstorbenen irischen Schriftsteller
John Millington Synge, der einen poetischen Realismus vertrat. Ein
Vier-Personen-Stück, das direkt zur Sache kommt, ganz ohne
Prätention, aber von großer poetischer Fantasie und sprachlicher
Schönheit, ein Stück, das vor allem von der fast greifbaren
Wirklichkeit hinter den Dingen handelt. Es spielt in Realzeit in
einem kleinen Raum und erzählt von Nora, einer Frau in den
besten Jahren, die den alten, "kalten" Dan Burke heiratete,
ohne ihn zu lieben, und nun in der Einsamkeit verkümmert. In
schrecklichem Unwetter erreicht ein Landstreicher ihr Haus. Sie
läßt ihn ein. Dan Burke liegt da, hat sich totgestellt,
um die Loyalität seiner Frau zu testen. Sie ist erleichtert,
verläßt das Haus und kehrt mit dem jungen Michael Dara
zurück, der sie verführen darf. Als sie sich verraten
haben, gibt Dan Burke seine Verstellung preis und verweist Nora
für immer des Hauses. Da schlägt die Stunde des Landstreichers,
der mit der Zauberkraft seiner musikalischen Sprache Noras Herz
gewinnt und gemeinsam mit ihr ins ungewisse, unbelastete Leben im
Freien aufbricht. Dan Burke hat Erbarmen mit dem jungen Michael
Dara, den er eigentlich töten wollte, und trinkt mit ihm Bruderschaft.
Eine Komödie auf dem schmalen Grat, der Leben und Tod trennt,
von Bernard Stevens in einem knappen Akt gesetzt, mit kleinem Instrumentalensemble,
welches für die stetige musikalische Kontinuität sorgt,
wodurch das Werk nie ins Melodramatische abgleitet. Die gesamte
motivisch-thematische Welt dieser Musik ist aus dem zu Anfang auftretenden
Dies-Irae-Motiv abgeleitet. Der Tod ist im Leben zuhause. Die theatralische
Wirkung ist enorm und sehr direkt. Stevens hat eine neue Musiksprache
für seine Oper gefunden, wie die Engländer sie bis dahin
nicht kannten und leider immer noch nicht kennen. Man kann ohne
Übertreibung zeigen, daß er eine der Idiomatik der englischen
Sprache angemessene musikalische Deklamation entwickelt hat, die
für das Englische beinahe so neu und ebenso natürlich
ist wie einst die bahnbrechenden Neuerungen Leos Janáceks
für die tschechische Oper. Aber wer kennt sie schon, diese
Musik, die in keine Schublade von Trend und Fortschritt paßt?
Ein Dreivierteljahr vor Stevens’ Tod wurde 'The Shadow of
the Glen' von der BBC produziert, nach seinem Tod wurde das Werk
zum ersten Mal ausgestrahlt. Eine szenische Aufführung hat
bis heute nicht stattgefunden. Es folgt jetzt der Schluß der
Oper, mit Della Jones als Nora, John Gibbs als Dan Burke, Paul Hudson
als Landstreicher, Neil Mackie als Michael Dara und dem Ensemble
Divertimenti unter Leitung von Howard Williams.
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'The Shadow of the Glen' (J. M. Synge) Opus 50 (1978/79): Ausschnitt
Della Jones (Nora), Neil Mackie (Michael Dara), John Gibbs (Dan
Burke), Paul Hudson (Tramp), Divertimenti, Howard Williams (Produktion
April 1982, Chris de Souza, BBC)
Albany TROY CD 418
ab Track 15, 4'14-Track 16, Schluß, einblenden (Dauer: 4'35)
Alle Informationen zu Bernard Stevens über:
BERNARD STEVENS TRUST
c/o The British Music Information Centre
10 Stratford Place
GB — London W1N 9AE
Tel. 0044/207/4998567
http://www.impulse-music.co.uk/stevens.htm
Sendemanuskript für BR 2 (Redaktion: Wilfried Hiller)
Produktion: 23.5.2002
Erstsendung: 28.5..2002, "Musik unserer Zeit"
Christoph Schlüren 5/2002 |